Bürgerräte gehen ins Netz

12. November 2020

„Abstand halten“ lautet die Parole in Corona-Zeiten. Präsenzveranstaltungen sind deshalb kaum oder gar nicht möglich. Das gilt auch für Beteiligungsverfahren wie Bürgerräte. Aber zum Glück gibt es das Internet. Bereits in mehreren Fällen haben sich zufällig für einen Bürgerrat geloste Bürger:innen vor ihren Rechnern statt in einem Saal versammelt. Und es scheint zu funktionieren.

Zuerst traf die Corona-Welle Bürgerräte, die bereits an der Arbeit waren. Bevor die Teilnehmenden ins Netz auswichen, hatten sie sich also schon leibhaftig getroffen und persönlich kennenlernen können. Das galt z.B. für die Klima-Bürgerräte in Frankreich und Großbritannien. Beide beendeten ihr Werk in Online-Treffen. Nur zum Beschluss über seine Empfehlungen traf sich der französische Klima-Bürgerrat noch einmal in Paris.

Zeit zur Umstellung

Bis zum Wechsel ins Internet verging bei einigen Bürgerräten aber auch eine lange Zeit. Bei der Citizens' Assembly zur Geschlechtergerechtigkeit in Irland z.B. ein halbes Jahr. Ebenfalls ein halbes Jahr Zeit ließ sich der Bürgerrat zum Thema Pflege in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien für sein letztes Treffen, das wie die vorherigen als Präsenzveranstaltung stattfand. Hier hatte man sich gegen ein Ausweichen ins Internet entschieden. Mit mehrmonatiger Verspätung begann das Bürgerforum zur Sanierung der Stuttgarter Oper im Internet.

Später startende Bürgerräte konnten sich rechtzeitig auf die neuen Gegebenheiten einrichten. So gingen Losversammlungen in Kanada, Schottland und im US-Bundesstaat Oregon ebenso von der ersten Sitzung an online wie in den englischen Städten Adur & Worthing, Brighton & Hove, Bristol und Kendal, im französischen Nantes sowie im finnischen Turku. Und auch der Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt" nutzt jetzt die Möglichkeiten des Internets.

Für Online-Bürgerräte gibt es Pro- und Kontra-Argumente. Hier eine Zusammenstellung.

Vorteile

Geringer Aufwand für Teilnehmer:innen: Dadurch, dass lange Anreisezeiten und Abwesenheiten von Zuhause vermieden werden können, lassen sich möglicherweise diejenigen zufällig ausgelosten Teilnehmer:innen aktivieren, die unter normalen Umständen eine Einladung hätten ausschlagen müssen. Gleiches gilt auf für Referent:innen, die sich aus aller Welt zuschalten können. Die Durchführung des Bürgerrates ist zeitlich flexibler, d.h. die Teilnehmer:innen und andere Beteiligte müssen sich nicht mehrere Wochenenden freihalten und zeitaufwändig an einen zentralen Ort anreisen. Die Bürgerrat-Arbeitssitzungen können besser in den Alltag integriert werden. Auch am Bürgerrat Interessierte können die Veranstaltung leichter beobachten, ein Live-Stream ist leichter möglich, da für die digitale Übertragung zu den Teilnehmenden nach Hause ohnehin gefilmt werden muss.

Kostenersparnis: Auf Seiten der Organisator:innen bundesweiter Beteiligungsveranstaltungen lassen sich bei einem virtuellen Format hohe Kosten vermeiden, die durch die Anmietung von Räumlichkeiten, die Übernahme von Reise-und Übernachtungskosten sowie die Verpflegungsaufwendungen für die Teilnehmer/innen entstehen.

Chance für Introvertierte: Wer sich nicht traut, vor einem großen Publikum eine Frage zu stellen, oder wer angesichts einer Vielzahl von Wortmeldungen nicht drankommt, kann über die Chatfunktion fragen oder kommentieren.

Vereinfachung und Flexibilität: Es können beliebig viele Klein- und Untergruppen gebildet werden, da unabhängig von einem physischen Raum digitale Räume genutzt werden können. Es lassen sich online schneller Fragen der Bürger:innen an die Expert:innen und Inputs einsammeln und sortieren. Für die Pausen können vielseitigere Angebote geschaffen werden, z.B. Kaffeeklatsch, Yoga-Session oder Einzelarbeit. Digital kann eine Vielzahl an Methoden eingesetzt werden, die in einem physischen Raum nicht so schnell umsetzbar wären. Z.B. beliebig viele Moderationswände, schnelles Bilden von 2er-Gruppen, Themen und Fragen im Plenum sammeln und priorisieren, die Möglichkeit für jede:n, jederzeit Fragen zu stellen.

Ständiger Prozess: Durch die regelmäßigen, bis zu wöchentlichen Arbeitssitzungen findet bei den Teilnehmenden ein kontinuierlicher Denkprozess statt, der nicht auf die Arbeitswochenenden bei Präsenztreffen beschränkt ist.

Dokumentation: Bürgerrat-Teilnehmer:innen haben die Möglichkeit, den aufgezeichneten Stream anzuschauen, dabei vor- oder zurückspulen und Vortragsfolien beliebig lange zu studieren. Eine lückenlose Dokumentation der Versammlung ist sichergestellt. Missverständnisse können leichter vermieden werden.

Nachteile

Selektion durch Technik: Teilnehmen an einer Online-Bürgerrat kann nur, wer über die entsprechende Technik verfügt und sie zu bedienen weiß. Nicht nur eine Computer-Grundausstattung mit Lautsprecher und Mikrofon ist nötig, sondern auch eine stabile Internetverbindung, die einen lückenlosen Stream ermöglicht. Beides ist bei manchen Bevölkerungsgruppen und in bestimmten Landesteilen (noch) nicht vorhanden. Selbst ein Smartphone, mit dem im Prinzip eine Teilnahme an Videokonferenzsystemen möglich wäre, hat (noch) längst nicht jeder. Damit aber schafft Internetpartizipation neue soziale Ausgrenzungen. Zwar könnten sie von den Veranstalter:innen, sofern diese dazu finanziell in der Lage sind, mit der nötigen technischen Ausstattung versorgt werden; eine mangelhafte Internetverbindung lässt sich dadurch jedoch nicht verbessern, und fehlende Computer-Kenntnisse der Teilnehmer:innen könnten eine unüberwindbare Hürde darstellen.

Emotionen schwerer vermittelbar: Emotionen lassen sich virtuell nur schwer vermitteln: Es ist ein Unterschied, ob jemand seine Empörung oder seine Sorgen live vorträgt oder ob er sie in der Chatfunktion äußert.

Körpersprache schwerer übertragbar: Mimik und Gestik entfalten schwerer Wirkung, Zwischentöne können überhört werden. Man sieht zwar seine Gesprächspartner:innen und sich selbst in kleinen Vorschaubildern live, kann aber nie ganz sicher ist, wer einen denn nun gerade anschaut und wie die Zuhörer:innen auf den eigenen Wortbeitrag reagieren.

Visualisierung schwierig: Die Sammlung und Darstellung von Fragen und Ideen ist online zumindest für die schwierig, die technisch nicht mit Online-Pinnwänden und anderen Instrumenten vertraut sind.

Ablenkung: Schließlich besteht bei virtuellen Diskussionen - insbesondere dann, wenn man nur per Telefon bzw. Audio zugeschaltet ist - die Gefahr, dass die Teilnehmer:innen nicht konzentriert bei der Sache bleiben. Es ist eben verführerisch, während eines (vermeintlich) langweiligen Wortbeitrags am Handy zu spielen, die Toilette aufzusuchen oder sich anderweitig ablenken zu lassen.

Was man tun kann

Vielen Nachteilen kann aber abgeholfen werden. So können Bürgerrat-Teilnehmende mit der notwendigen Technik ausgestattet und in der Nutzung von Hard- und Software geschult werden. Bei einer schlechten Internetverbindung Zuhause können Teilnehmende an Orte mit guter Netzabdeckung und technischer Ausstattung eingeladen werden. Emotionale Reaktionen sind auch online sichtbar. Man kann sogar darum bitten sie zu zeigen - z.B. über kleine Stimmungskarten, die man in die Kamera halten kann und die den Teilnehmenden vorab zugeschickt werden. Zwischenmenschlicher Kontakt kann durch virtuelle Räume hergestellt werden, in denen sich die Teilnehmenden bewegen und dort z.B. auch gemeinsame Kaffeepausen abhalten können.

Was Bürgerrat-Teilnehmende sagen

Bei allem Pro & Kontra ist es nicht zuletzt wichtig, was eigentlich die ausgelosten Teilnehmer:innen von Bürgerräten zur Online-Variante von Losversammlungen sagen. Die Organisation Involve hat das für den britischen Klima-Bürgerrat untersucht.

Überrascht stellte die Involve-Mitarbeiterin Sarah Allen fest, dass 53 von 100 Umfrage-Teilnehmenden eine Mischung aus Präsenz- und Online-Veranstaltung favorisierten. 46 waren für reine Präsenzveranstaltungen, drei für reine Online-Veranstaltungen.

Eine gute Kombination“

Mehrere Bürgerrat-Mitglieder sagten, dass es zwar wichtig sei, dass die erste Sitzung einer Losversammlung von Angesicht zu Angesicht stattfindet, dass aber danach ein Wechsel zu Online-Sitzungen möglich sein sollte. "Für mich war es eine gute Kombination. Es hat mir sehr geholfen, die Teilnehmenden vor der Online-Sitzung gekannt und gesehen zu haben“, sagte ein Bürgerrat-Mitglied. Hätte der Bürgerrat nur online stattgefunden, wäre er vielleicht nicht so real oder gar so wichtig erschienen", meinte eine andere Umfrage-Teilnehmerin.

Ein weiterer Bürgerrat-Teilnehmer befand, „dass in meinen Online-Diskussionen mehr Menschen gesprochen haben und diese vielleicht nicht so viel Angst vor negativen Reaktionen von anderen Teilnehmenden hatten, wie dies bei einem persönlichen Treffen der Fall ist“.

Hatte mehr von persönlichen Treffen“

"Ich glaube, ich hatte mehr von den persönlichen Treffen, ich hatte das Gefühl, dass ich sowohl an den Tischen als auch in den Pausen vertiefte Diskussionen führen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass dadurch die Informationen, die Sie gehört haben, viel besser verfestigt werden konnten, da ich durch die zusätzlichen Diskussionen häufiger meine Meinung sagen und Wissen mit anderen Mitgliedern austauschen konnte, das dann wieder in die Tischgespräche einfließen konnte.

Einige Mitglieder des Bürgerrates räumten ein, dass es online funktioniert, auch wenn sie Offline-Veranstaltungen bevorzugen. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass die ersten zwei Monate nicht gut waren. Es war toll, neue Leute kennenzulernen, und es war eine schöne Atmosphäre. Obwohl diese Online-Methode auch großartig funktioniert hat.“

Nuancen der menschlichen Interaktion gehen verloren“

Befürworter:innen reiner Präsenztreffen lobten deren Vorzüge. "Ein persönliches Treffen ist viel besser, so viele Vorteile und so viel einfacher, ein Gruppengespräch zu führen“, so ein Mitglied. Der Bürgerrat ist als persönliches Treffen viel besser. Viele der Nuancen der menschlichen Interaktion gehen bei Zoom verloren", meinte ein anderer Teilnehmer.

Einige Bürgerrat-Mitglieder machten auch Anmerkungen zur Atmosphäre bei Präsenzveranstaltungen. "Es ist besser, sich persönlich zu treffen, man weiß, dass die Leute konzentriert sind, und bei den Online-Treffen fehlt die Begeisterung", lautete eine Antwort. "Das Online-Format fühlt sich an wie eine kleine Fokusgruppe und nicht wie eine repräsentative Versammlung (weil man nicht alle anderen die ganze Zeit sehen kann). Wir verlieren viel vom Gefühl der Vielfalt, obwohl sich die Zusammensetzung der Gruppen von Sitzung zu Sitzung ändert“, bedauerte eine Teilnehmerin.

Ideen abseits des Programms

Mache Teilnehmenden fanden auch Gespräche abseits des offiziellen Bürgerrat-Programms wichtig. "Wenn Sie persönlich aufeinandertreffen, besteht die Möglichkeit, einige der Themen außerhalb des Treffens in einer entspannteren Umgebung zu diskutieren. Dies kann einige der besten Ideen und Gespräche hervorbringen und hilft, später eine produktivere formelle Diskussion zu führen“, bilanzierte ein Bürgerrat-Mitglied.

Sarah Allen befürwortet Online-Bürgerräte, ist aber auch dafür, das erste Treffen als Präsenzveranstaltung stattfinden zu lassen. In Corona-Zeiten ist das leider nicht möglich. Online-Versammlungen bedürften einer gewissenhaften Vorbereitung. Ein Online-Bürgerrat sei besser als gar keine Versammlung. „Die Stimmen der Menschen sollten weiterhin gehört werden“, so Allen.

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