„Genau Sie sind wichtig“

05. Oktober 2022
Charlotte Bernstorff

Eine bunte Gruppe aus dem Melderegister losen - das klingt erst einmal einfach. Es gibt jedoch unterschiedliche Möglichkeiten, das Losverfahren anzuwenden. Mit der „aufsuchenden Beteiligung“ kann man Menschen erreichen, die nicht direkt auf eine Einladung zu einem Bürgerrat reagieren. Gerade deren Stimmen sind in der Politik oft unterrepräsentiert. Die Coesfelderin Kathrin Rick hat an über 60 Haustüren geklingelt, um Menschen für den LOSLAND-Zukunftsrat in ihrer Stadt zu rekrutieren.

Frage: Du hast das Projekt „Zukunftsrat in Coesfeld“ von Anfang an begleitet und wolltest Dich unbedingt einbringen. Wie bist Du in erster Linie auf das Thema gekommen?

Kathrin Rick: Ich habe einen Vortrag von Claudine Nierth von Mehr Demokratie gehört, die unter anderem über geloste Bürgerräte gesprochen hat. Mein erster Gedanken war: Was ist das denn? Das klingt ja spannend. Und dann habe ich ein bisschen weiter recherchiert und gedacht, dass es genau das Mittel ist, was wir brauchen für eine Demokratie, wie ich sie mir vorstelle: Mitreden dürfen, alles sagen dürfen und damit gehört werden.

Dann bekam ich einen Newsletter zu dem Projekt LOSLAND und dachte: Das brauchen wir in Coesfeld auch! Ich habe sofort eine Mail an die Bürgermeisterin geschrieben. Sie hat geantwortet: Liebe Kathrin, wir sind schon in Gesprächen mit LOSLAND.

Frage: Nach dem Mehrheitsbeschluss im Stadtrat bist Du teil der Steuerungsgruppe geworden, um die Bürgermeisterin organisatorisch zu unterstützen. Später hast Du mit viel Ausdauer an vier Tagen ausgeloste Menschen an ihren Haustüren aufgesucht. Was für ein Gefühl ist bei Dir hängen geblieben?

Rick: Ganz viele Gefühle. Stolz und Frust und Freude; dass ich Botschafterin für etwas ganz Tolles bin, dass es eigentlich ein Geschenk ist. Wenn mir jemand zuhören wollte und nicht direkt gesagt hat, er habe keine Zeit, war es toll, den Menschen zu erzählen, dass es eine Chance ist, ausgelost worden zu sein und mitmachen zu dürfen.

Frage: Und kam Dir Offenheit entgegen?

Rick: Ganz große Offenheit. Auch bei denjenigen, denen der Termin des Zukunftrats nicht passte. Ich habe überwiegend Absagen bekommen, aber auch immer wieder gehört: „Dankeschön, dass Sie vorbeigekommen sind. Es ist eine Wertschätzung, dass Sie an mich gedacht haben.“

Frage: Was waren die häufigsten Gründe für eine Absage?

Rick: Zeitmangel! Und viele Ältere haben gesagt, dass sie jetzt nach den Schulferien in den Urlaub fahren.

Frage: Eine Hand voll Menschen konntest Du gewinnen. Was hat sie von einer Teilnahme überzeugt?

Rick: Einige haben gesagt: „Ach, das habe ich total vergessen, super, dass Sie mich erinnern! Finde ich richtig klasse.“ Einer sagte, er wollte sich anmelden, habe es dann aber versäumt. „Jetzt sind Sie da, das ist ein Zeichen! Ich unterschreibe sofort. Darf meine Frau auch mitkommen?“ Das geht natürlich nicht beim Losverfahren. Da konnte ich dann auf das öffentliche Zukunftsforum verweisen und sagen, seine Frau könne sich dort einbringen.

Ich habe auch an den Türen von einigen Frauen geklingelt, die gesagt haben: „Ich bin da nicht die Richtige, ich kann gar nicht mitreden.“ Jemand daneben meinte: „Die ist so still, die sagt dann da gar nichts.“ Die habe ich ermutigt und gesagt: „Genau Sie sind wichtig, wir wollen ja auch diejenigen hören, die nicht immer in der ersten Reihe stehen.“

Frage: Was gab es noch für Gründe, nicht zu kommen?

Rick: Ich war bei einigen Menschen, die kein Deutsch sprechen. Einmal hat der Mann übersetzt. Er war sehr freundlich und hat sie ermutigt, mitzumachen. „Ich pass auf die Kinder auf, kein Thema.“ Bei der anderen Frau hat der Sohn übersetzt und sie hat gesagt: „Ich bin da nicht die Richtige, ich wohne schon so lange in Coesfeld und kann kein Deutsch.“

Dabei hätte sie so gerne Kontakt zu Deutschen und wolle Deutsch lernen, könne aber wegen der Schichten keinen Unterricht nehmen. Sie wollte gerne, dass ich reinkomme und einen Kaffee trinke. Da war eine Sehnsucht danach, miteinander zu reden. Diese Sehnsucht hat in ihr bewirkt zu sagen, dass sie kommen will, wenn sie es schafft, ihre Schichten frei zu tauschen. Und ich konnte ihr sagen, dass für sie eine Übersetzerin da sein wird.

Frage: Was möchtest Du anderen Menschen oder Kommunen, die aufsuchende Beteiligung machen wollen, mit auf den Weg geben?

Rick: Man selber ist die Person, die in den Kontakt geht. Deshalb macht es Sinn, auf sich zu achten und nicht zu denken: Ich muss jetzt hier einen Auftrag abarbeiten. In dem Moment als ich diesen Gedanken abgelegt habe – als ich mir erlaubt habe, ins Gespräch zu gehen – ging es mir besser. Also auch, wenn die Leute nicht dabei sein können zu sagen: Erzählen sie doch mal, was ihnen zu dem Thema einfällt. Wenn ich die Familie erreicht habe, aber nicht den Jugendlichen, der ausgelost wurde, dann habe ich – wenn ich in der Stimmung dazu war – den Eltern erzählt, was der Zukunftsrat ist. Das habe ich mir erlaubt, auch wenn es eigentlich vertane Zeit ist.

Man kann sich richtig Frust abholen, wenn man klingelt und die Person nicht da ist oder keine Zeit oder Interesse hat. Wenn man acht davon nacheinander hat, dann macht es was mit einem. Es tat mir sehr gut zu sagen: Das ist okay und jetzt gönne ich mir, dass ich mit jemandem richtig rede. Das hat mich wieder in die Verbundenheit mit dem Zukunftsrat gebracht.

Frage: Also den Weg als Ziel sehen. Schließlich geht es ja darum, auch die Menschen zu erreichen, bei denen man nicht direkt „offene Türen einrennt“.

Rick: Es ist eine Gratwanderung: Man muss schon eine gewisse Beharrlichkeit haben, um herauszufinden, warum die Person nicht mitmacht und ob es vielleicht etwas ist, womit wir helfen können, zum Beispiel Kinderbetreuung. Oder ist es mangelndes Interesse oder Schüchternheit. Wie weit gehe ich mit dem Forschen? Ich will ja niemanden bedrängen. Wann ist eine Tür auch zu und wann kann ich mir mit Leichtigkeit erlauben, loszulassen?

Frage: Hast Du noch ganz praktische Tipps? Was sollte man dabei haben?

Rick: Auf jeden Fall sollte man die Einladung zum Bürgerrat noch mal ausdrucken. Die meisten hatten die nicht mehr. Und eine Einladung zum Zukunftsforum ist sinnvoll, für alle, die nicht ausgelost sind. Ich hatte auch noch einen Erklärzettel mit Stichpunkten zum Bürgerrat dabei. Man sollte für sein leibliches Wohl sorgen und Wasser mitnehmen. Ich war irgendwann etwas durch den Wind, und wusste gar nicht mehr, bei wem ich jetzt gerade klingle. Daher ist es sinnvoll, sich den Namen der Person, die man gerade aufsucht, auf einen Zettel zu schreiben.

Das erste Mal war völlig schräg, da habe ich mir vorher eine bestimmte Route ausgedacht und wollte 20 Leute besuchen – 15 habe ich geschafft. Das war nicht besonders effektiv. Das nächste Mal hatte ich die Excel-Tabelle mit den Adressen der Gelosten dabei und habe mit Maps immer wieder geguckt, wo noch jemand in der Nähe wohnt. Wenn schon einige Töpfe gefüllt sind, aber z.B. noch zu wenig junge Leute dabei sind, dann sucht man die Adressen der Jugendlichen raus, die ausgelost wurden. Wenn man die Töpfe noch nicht gefüllt hat, kann man einfach gucken, welche Adressen im Umfeld sind, das geht dann sehr schnell.

Frage: Was ist Dein Fazit zur aufsuchenden Beteiligung?

Rick: Ich finde das Losverfahren generell toll, weil es hilft, eine bunte Gruppe zusammenzustellen. Das Aufsuchen ist natürlich aufwendig und man sollte in jedem Fall rechtzeitig damit anfangen und genügend Zeit einplanen. Aber es lohnt sich!

Diejenigen, die sich auf eine Einladung direkt zurückmelden, sind oft die Mutigeren. Manche Menschen brauchen den persönlichen Kontakt und eine Erklärung. Es war immer wichtig, deutlich zu machen, dass es im Bürgerrat nicht darum geht, in eine Diskussion einzusteigen und eine Meinung durchzusetzen, sondern darum, zusammenzutragen was an Ideen und Gedanken in der Gruppe da ist. Bei dem Wort Diskussion schrecken viele Menschen eher zurück und denken, ach ne, das ist nicht meins. Es geht um das Zuhören und Zusammenkommen und nicht um ein gegeneinander reden. Diese Haltung zu transportieren finde ich unglaublich wichtig und sie ermutigt diejenigen, die sonst eher zurückhaltend sind.

Kathrin Rick lebt seit 2010 in Coesfeld und ist gelernte Goldschmiedin. Mit 51 Jahren hat sie einen beruflichen Wechsel vollzogen und Sozialpädagogik studiert. Inzwischen arbeitet sie in der Berufsbildungsstätte in Ahaus und engagiert sich dafür, Menschen einen Weg zurück ins Berufsleben zu ermöglichen.

Mit dem LOSLAND Projekt haben Mehr Demokratie und das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit RIFS Potsdam Kommunen in ganz Deutschland dabei begleitet, ihre enkeltaugliche Zukunft zu gestalten.

Dafür haben sie zehn Gemeinden und Städte mit motivierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern ausgewählt, die zusammen mit ihrer Einwohnerschaft neue Wege gehen wollten. Ziel war es, zu einer aktiveren und kooperativen politischen Kultur beizutragen. Gemeinsam mit Politik, Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort hat LOSLAND passgenaue Beteiligungsprozesse entwickelt und geplant und die Kommunen bei deren Umsetzung unterstützt. Einen zentralen Ansatz für die Gestaltung der Prozesse boten zufallsbasierte Bürgerräte.

Das Interview führte Charlotte Bernstorff von LOSLAND.

Mehr Informationen: