45 Ideen zur Zukunft des Wohnens

20. Februar 2022
Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens

In der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Ostbelgien haben zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger am 19. Februar 2022 ihre Empfehlungen für ein „bezahlbares und zukunftsfähiges Wohnen“ beschlossen. Die 45 Ideen wurden noch am gleichen Tag den zuständigen Politikern überreicht.

Das Bürgergutachten der Bürgerversammlung beinhaltet Vorschläge zu den Themen

  • Wohnen für junge Menschen
  • Wohnen in Wohngemeinschaften und alternativen Wohnformen
  • privaten Wohnraum bezahlbar machen
  • sozialer Wohnungsbau
  • Wohnen im ländlichen Lebensraum

Die Bürgerversammlung empfiehlt u.a. das Verfassen einer Studie als Bedarfsanalyse zum Bedarf junger Leute: Wer konkret braucht / "verdient" wofür eine Unterstützung? Junge Menschen mit geringerenChancen, benachteiligte Jugendliche und junge Menschen in sozialkritischer Lage sollen dabei besonders berücksichtigt werden. Finanzierungsmöglichkeiten für Jugendliche sollen gefördert, alternative Wohnformen (Wohngemeinschaften, Tiny-Houses, Wohnalternativen in gemischten Einheiten jung & alt) als Einstieg in die erste eigene Wohnung entwickelt werden.

Rechtlicher Rahmen für gemeinschaftliches Eigentum

Bzgl. Wohngemeinschaften schlägt die Bürgerversammlung u.a. vor, bestehende Gesetze publik zu machen bspw. in Bezug auf Versicherung, Haftbarkeit und Haushaltszusammensetzung anzupassen. Für gemeinschaftliches Eigentum und Genossenschaften wird die Schaffung eines rechtlichen Rahmens empfohlen.

Die Überarbeitung der Vorschriften für Städtebau und Raumordnung soll zum Ziel haben, dass der Wohnraum für Privathaushalte bezahlbar ist und bleibt. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Überarbeitung sei die Zukunftsfähigkeit des zu schaffenden Wohnraums. Zum Punkt „Zukunftsfähigkeit“ sollte die DG eine breit aufgestellte Bedarfsanalyse im Rahmen einer Umfrage der Bevölkerung und/oder der Architekten starten. Die Ergebnisse dieser Umfrage könnten in ein Pilotprojekt einfließen, dass durch die DG und private Investoren realisiert werden könnte.

Gegen „profitorientierte Promotoren“

Die Gestaltung und Nutzung städtebaulicher Großprojekte soll nicht mehr allein durch „finanzkräftige, profitorientierte Promotoren“, sondern durch einen öffentlichen Ideenwettbewerb entschieden werden. Investoren sollen bei jedem neuen Appartementblock Auflagen bekommen: X % Wohnungen an den Öffentlichen Wohnungsbau Ostbelgien (ÖWOB), x % Wohnungen für Alleinstehende, x % Wohnungen für Familien und die Schaffung für gemeinsam genutzter Infrastruktur.

Die Nutzung einer Sozialwohnung soll idealerweise eine Übergangslösung sein und kein lebenslanges Wohnrecht bedeuten. Den Nutznießern soll durch einen (verpflichtenden) Begleitparcours Unterstützung und (Mietbei-) Hilfe gewährt werden, um angemessene und bezahlbare Wohnung oder Eigentum im Privatsektor zu finden.

Vielfalt unter Bewohnern

Bei der Vergabe von Wohnungen und Häusern empfehlen die Teilnehmer der Bürgerversammlung, unter den Bewohnern Vielfalt zu gewährleisten: WEM wird WO WELCHE Wohnung angeboten, auch um einer Ghetto-Bildung oder Entstehung von sozialen Brennpunkten vorzubeugen?

Für das Wohnen im ländlichen Raum wird die Erstellung einer regelmäßig zu aktualisierenden Umfrage empfohlen, bei der die spezifischen Bedürfnisse der Bevölkerung der einzelnen Gemeinden erfragt werden sollen, da es keine einheitlich gleiche Lösung für alle gebe, sondern möglichst effiziente und zielorientierte Regelungen benötigt würden. Die Entstehung von Siedlungen am Rande von Ortschaften sowie eine Verstädterung der Dörfer, durch große, hohe, nicht der Umgebung angepasste Gebäude sei zu vermeiden.

Ländlichen Lebensraum aufwerten

Durch gezielte Projekte sollen die Zentren der Ortschaften kinder-, familien- und seniorenfreundlich gestaltet werden. Auch wird vorgeschlagen, den Erwerb von Erstwohnsitzen auf dem Land zu fördern, damit junge Familien sich auch langfristig dort ansiedeln und die Ortschaften belebt werden.

Durch Investitionen in die Krankenhauskapazitäten und -erreichbarkeiten soll jeder innerhalb von 30 Minuten ein Krankenhaus erreichen können. „Die Gesundheitsversorgung auf dem Land ist essenziell für Attraktivität und Lebensqualität“, heißt es dazu im Bürgergutachten. Generell sei die Attraktivität des ländlichen Lebensraumes aufzuwerten.

Studentin und Mieterin kamen zu Wort

Neben Expertinnen und Experten haben die Teilnehmer der Bürgerversammlung auch eine Studentin angehört, die in dem Wohngemeinschaftsprojekt „Weserstrand“ zusammen mit Jugendlichen mit einer Behinderung gewohnt hatte. Auch die Mieterin einer Sozialwohnung kam zu Wort.

Für die Bürgerversammlung, die sich vom 30. Oktober 2021 bis zum 19. Februar 2022 in sechs Sitzungen mit dem Thema befasst hat, hatte das Ständige Sekretariat des Bürgerdialogs 1.000 Einladungen versandt. Aus den an einer Teilnahme interessierten Bürgerinnen und Bürgern wurde eine Gruppe zusammengestellt, die nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Wohnort und sozio-ökonomischer Hintergrund (Beruf, Ausbildungsgrad, Familienzusammensetzung usw.) ein Abbild der Bevölkerung war.

Bevölkerung konnte Themen vorschlagen

Im Frühjahr 2021 war die Bevölkerung aufgerufen worden, neue Themen für die seit 2019 existierende Bürgerversammlung vorzuschlagen und zu wählen. Aus den zahlreichen Vorschlägen hatte der Bürgerrat, der die Bürgerversammlungen vorbereitet, ein Diskussionsthema festgelegt. Die dritte Runde des Bürgerdialogs in Ostbelgien befasste sich mit der Frage „Wohnraum für alle! Wie kann die Politik zukunftsfähigen und bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen?“

Am 18. März 2022 wurden die Empfehlungen der Bürgerversammlung zum Thema „Wohnen“ in einer öffentlichen Sondersitzung des zuständigen Ausschusses im Parlament vorgestellt. Am 1. Juli 2022 hatte dieser Ausschuss seine Stellungnahme zur möglichen Umsetzung der Empfehlungen vorgestellt. Für den 9. Oktober 2023 hatte das Parlament die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bürgerversammlung zu einer Debatte über den inzwischen erstellten Umsetzungsbericht eingeladen. Am 13. November 2023 hat das Parlament über den Umsetzungsbericht diskutiert.

20 Empfehlungen umgesetzt

Eine Reihe von Empfehlungen der Bürgerversammlung wurden von der Regierung umgesetzt:

Die Regierung plant z.B. die Einführung einer Bedarfsanalyse im Bereich Wohnungswesen in Zusammenarbeit mit den Gemeinden und weiteren Akteuren. Daraus soll ein genaueres Bild über den Bedarf und die zu erwartenden Entwicklungen in dem Bereich entstehen.

Betreffend die Wohnfinanzierung für Jugendliche erhält die Regierung die Möglichkeit, für die Gewährung von Sozial-Hypothekarkrediten mit zugelassenen Krediteinrichtungen zusammenzuarbeiten. So könnte die Regierung durch entsprechende Abkommen beispielsweise jungen Leuten zinslose Darlehen vermitteln und eine Garantie bei Nichtrückzahlung gewähren.

Schiene für das mittlere Wohnungsbaumsegment

Die Empfehlungen dazu, im sozialen Wohnungsbau auch eine Schiene für das mittlere Wohnungsbausegment zu schaffen und eine soziale Durchmischung zu gewährleisten, findet sich eins zu eins im entsprechenden Gesetz zum Wohnungswesen wieder: Der Begriff „mittlerer Wohnungsbau“ wird definiert und eine neue Einkommenskategorie von Haushalten im sozialen Wohnungsbau wurde geschaffen.

Die Empfehlungen dazu, alternative Wohnformen zu fördern, spiegeln sich in den nun möglichen „innovativen Projekten“ des neuen Gesetzes zum Wohnungswesen wider. So kann man beispielsweise Fördergelder bei der Regierung beantragen, um den Bau von Häusern, die dem Lebenszyklus anpassbare Grundrisse nachweisen, zu finanzieren.

Globalreform der Raumordnungsvorschriften

Die Empfehlung, Wohnressourcen für junge Menschen mit Beeinträchtigung zu fördern, hat mehrere Projekte vorangetrieben.

Die Empfehlung, die Raumordnungsvorschriften der Deutschsprachigen Gemeinschaft mit den entsprechenden Gemeindevorschriften abzugleichen, sowie die Empfehlung, die Parzellierungsvorschriften zu modernisieren, damit mehr Wohnraum gebaut werden kann, spiegeln sich in der anstehenden Erarbeitung der neuen Gesetzgebung wider: Die Deutschsprachige Gemeinschaft hat erst kürzlich die neue politische Zuständigkeit der Raumordnung erhalten und wird deshalb in der Legislaturperiode 2024 - 2029 eine Globalreform der Vorschriften angehen.

Nachhaltige Wohnraumplanung

Die Empfehlung, die Sanierungsprämien auch auf Materialkosten bei Arbeiten in Eigenleistung zu gewähren, hat zu einer Abänderung des entsprechenden Erlasses geführt: Demnach können seitdem bestimmte Arbeiten in Eigenregie durchgeführt werden.

Die Empfehlung, Anreize zu schaffen, um leerstehende Wohnungen zu renovieren und über die sozialen Immobilienagenturen zu vermieten, findet sich im Projekt „Wohnraum nachhaltig planen“ der Wirtschaftsförderungsgesellschaft (kurz WFG) wieder. Dieses LEADER-Projekt wurde zuvor mit EU-Fördergeldern finanziert. Inzwischen wird es von der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft weiterfinanziert. Demnach können Eigentümer eine Bezuschussung ihrer Renovierungskosten beantragen, wenn sie die entsprechende Wohnung von einer sozialen Immobilienagentur verwalten lassen.

„Soziale Betreuung“ für Mieter

Die Empfehlung, einen Begleitparcours für Bewohner von Sozialwohnungen einzuführen, damit Sozialwohnungen als Übergangslösung angesehen werden, spiegelt sich im neuen Gesetz zum Wohnungswesen wider. Demnach wird eine „soziale Betreuung“ der Mieter des sozialen Wohnungsbaus eingeführt - gegebenenfalls im Hinblick auf den langfristigen Erwerb von Wohneigentum.

Die Empfehlung, das bestehende Punktesystem im sozialen Wohnungsbau anzupassen, findet sich eins zu eins im der Neuausrichtung der entsprechenden Vergabekriterien im neuen Gesetz zum Wohnungswesen wieder.

Anreize für sozialen Wohnungsmarkt

Die Empfehlung, die personellen Ressourcen in den sozialen Wohnungsbauagenturen zu erhöhen und um verschiedene Profile zu erweitern, findet sich eins zu eins in der Erhöhung der Anzahl der Sozialreferenten und in der neuen Hausmeisterfunktion des neuen Gesetzes zum Wohnungsbau wieder.

Die Empfehlung, mehr Anreize für Eigentümer zu schaffen, damit sie ihr Objekt für den sozialen Wohnungsmarkt zur Verfügung stellen, findet sich in der im Juni 2023 neu gegründeten Gesellschaft „Inclusio Ostbelgien“ wieder.

Genehmigungspflicht für Ferienwohnungen

Die Empfehlung, die Bevölkerung hinsichtlich Umnutzung von Wohnfläche, Wechsel in passende Wohnung, Begleitparcours im Privatsektor zu sensibilisieren, spiegelt sich im WFG-Projekt „neues Leben für unsere Dörfer“, inklusive Beratungsgesprächen mit Architekten und lokalen Arbeitsgruppen, wider.

Aufgrund der Empfehlung, den Neubau von Zweitwohnungen als Ferienwohnungen einzuschränken, um Leerstand zu verringern, ist nach einer Konsultation der Bürgermeister durch die Regierung die entsprechende Gesetzgebung angepasst worden: Der im November 2022 verabschiedete Artikel D.IV.4 des Gesetzbuches über die räumliche Entwicklung führt eine Genehmigungspflicht für die Schaffung von „touristischen Beherbergungsstätten“ ein.

Die Empfehlung, die Informationen rund um die Wohnungsbaupolitik zugänglich zu machen, mündete in die neue Rubrik „Wohnen und Energie“ auf dem Online-Bürgerinformationsportal Ostbelgiens, das vom Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft verwaltet wird.

Ausgeloste organisieren Prozess

Die Bürgerversammlung  ist der wichtigste Teil des Bürgerdialogs in Ostbelgien. Sie diskutiert über Themen und spricht Empfehlungen an die Politik aus. Sie setzt sich aus 25 bis 50 Bürgern zusammen, die per Los bestimmt werden.

Der Bürgerrat organisiert die Bürgerversammlung und überwacht die Umsetzung der Empfehlungen der Bürgerversammlung durch die Politik. Er setzt sich aus 24 Bürgern zusammen, die vorher bereits an einer Bürgerversammlung teilgenommen haben.

Das Ständige Sekretariat des Bürgerdialogs besteht aus einem Personalmitglied der Parlamentsverwaltung. Es betreut den gesamten Bürgerdialog.

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