Luxemburg: 57 Ideen für mehr Klimaschutz

15. September 2022
Klima-Biergerrot

In Luxemburg hat ein Klima-Bürgerrat am 15. September 2022 seine Empfehlungen an Premierminister Xavier Bettel, Umweltministerin Joëlle Welfring und Energieminister Claude Turmes übergeben. Das Hauptaugenmerk der 57 Empfehlungen liegt auf einem ressortübergreifenden Ansatz der Klimapolitik. Darüber hinaus enthält der Abschlussbericht Vorschläge zu den Themen Landwirtschaft, erneuerbaren Energien, nachhaltigem Wohnen, Abfallwirtschaft und Mobilität.

Der Klima-Bürgerrat aus 100 zufällig ausgelosten Menschen hatte von Januar bis September 2022 getagt. Mit Unterstützung von Experten haben die Teilnehmer konkrete klimarelevante Themen diskutiert.

Weniger Fleisch, mehr erneuerbare Energien

Im Bereich Landwirtschaft schlägt der Bürgerrat vor, einen "Umwelt-Anzeiger" auf Produkten einzuführen und in jedem Geschäft eine Abteilung mit einem "geringen ökologischen Fußabdruck" einzurichten. Außerdem sollen die Haltbarkeitsdaten von Lebensmitteln neu definiert und jeder sollte dazu angehalten werden, seinen Fleischkonsum zu reduzieren.

Durch die Erhöhung der CO2-Steuer und die Umverteilung der Einnahmen je nach Vorbildlichkeit in Sachen Emissionen würde umweltbewusstes Verhalten aufgewertet werden. Darüber hinaus sollten bis 2040 100 Prozent erneuerbare Energien angestrebt werden, um "eine bessere Lebensqualität und eine Energieunabhängigkeit, die mehr denn je aktuell ist", zu erreichen.

Renovieren statt abreißen

Gebäude sollten renoviert statt abgerissen und neu gebaut werden, wiederverwertbare Materialien benutzt und das Bauland "geordneter" verwaltet und gleichzeitig nachhaltige Nachbarschaften unterstützt werden.

Reparieren statt wegwerfen: Der geplanten Obsoleszenz - eine vom Hersteller beabsichtigte, vorzeitig herbeigeführte Verringerung der Produktlebensdauer - muss nach Meinung des Bürgerrates ein Ende gesetzt werden. Das Recyclingsystem soll durch innovativere Verpackungen und beispielsweise ein systematisches Pfandsystem weiterentwickelt werden.

Niedrigere Geschwindigkeiten im Verkehr

Im Bereich Verkehr schlägt der Bürgerrat u.a. niedrigere Geschwindigkeiten, kostenloser grenzüberschreitender Verkehr und ein komplettes Überdenken der Arbeitskultur mit Blick auf Möglichkeiten von Coworking, Telearbeit und Viertagewoche vor.

Ausgangspunkt für die Diskussionen im Bürgerrat war der Nationale Energie- und Klimaplan (PNEC), der bereits eine Reihe von ehrgeizigen Zielen und Maßnahmen enthält. Die 100 Bürgerinnen und Bürger haben darüber beraten, wie weit sie über diesen Klimaplan hinausgehen wollen.

"Zeit für ein innovatives demokratisches Projekt"

„Wir brauchen mehr denn je einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie wir die Klimakrise gemeinsam bewältigen wollen“, hatte Premierminister Xavier Bettel in einer Rede zur Lage der Nation am 12. Oktober 2021 gesagt. „Die Klimapolitik geht uns alle an. Denn sie betrifft uns alle im Herzen unseres Zusammenlebens. Wie wollen wir in Zukunft leben? Was für einen Planeten wollen wir den künftigen Generationen hinterlassen? Die Klimafrage ist eine Gesellschaftsfrage. Deshalb brauchen wir auch die Gesellschaft am Tisch, wenn wir weitere Klimamaßnahmen diskutieren“, begründete Bettel seinen Vorstoß für den Bürgerrat.

Außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen. Es sei Zeit für ein innovatives demokratisches Projekt, das es in Luxemburg in dieser Form noch nicht gegeben habe. Es sei an der Zeit, die Gesellschaft in die klimapolitischen Verhandlungen mit einzubeziehen.

"Empfehlungen sehr klar"

"Ich applaudiere dem Klima-Bürgerrat für seinen Mut, ohne den eine so sorgfältige und ehrgeizige Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Wir hoffen auch auf eine breite politische Unterstützung im Parlament, die dem Ernst der Lage gerecht wird und die Arbeit, die in diesem partizipativen Projekt geleistet wurde, respektiert", sagte Bettel bei der Übergabe der Bürgerrat-Empfehlungen.

Für die Ministerin für Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung, Joëlle Welfring, sind "die Empfehlungen des Klima-Bürgerrates sehr klar und zeugen von der sehr ermutigenden Qualität der Arbeit, die in den letzten Monaten im Bürgerrat geleistet wurde. Wir würden jede dieser Empfehlungen im Detail prüfen, um möglichst viele davon in den Prozess der Aktualisierung des PNEC einzubeziehen."

Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Empfehlungen

Der Regierungsrat hat beschlossen, eine Arbeitsgruppe aus Vertretern des Staatsministeriums, des Ministeriums für Umwelt, Klima und Entwicklung und des Ministeriums für Energie und Raumordnung einzusetzen, die die vorbereitenden Arbeiten koordinieren soll, um die Vorschläge des Klima-Bürgerrates in die Diskussionen um die Aktualisierung des PNEC einzubringen.

Bis zum 19. Januar 2022 hatten sich interessierte Bürger für den Bürgerrat melden können beziehungsweise wurden sie stichprobenartig von TNS-Ilres kontaktiert. Anschließend erfolgte das Auswahlverfahren, welches das Meinungsforschungsinstitut unter Berücksichtigung der Aspekte Geschlecht, Alter (ab 16 Jahre), Beruf, Bildungsniveau, Nationalität und Grenzgänger durchgeführt hat.

Bürgerrat verlängert

Die Bürgerrat-Mitglieder wurden mit 125 Euro pro Sitzung entschädigt, der gleiche Betrag, den die Parlamentsabgeordneten für die Teilnahme an Ausschuss-Sitzungen erhalten. Am 29. Januar fand eine Informationsversammlung statt, unter anderem mit dem Ziel, die 100 auserwählten Teilnehmer (60 effektive Mitglieder, 40 Ersatzmitglieder) auf den gleichen Kenntnisstand zur Energie- und Klimapolitik zu bringen.

Die eigentliche Arbeit des Klima-Bürgerrates sollte sich ursprünglich bis Juni 2022 hinziehen. Mitten im Verfahren hielt die Regierung jedoch den Herbst als Abschlusstermin für "politisch günstiger", da der parlamentarische Herbst mit der Rede zur Lage der Nation und der Vorstellung des Haushalts beginne: zwei Termine, die "die volle Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit" genössen.

Empfehlungen im Parlament

Nun wurden bis September 2022 die Bürgerrat-Empfehlungen dazu formuliert, was Luxemburg in seiner Klimapolitik über das hinaus machen kann, was heute schon an Maßnahmen im Plan national intégré en matière d'énergie et de climat (PNEC) verankert ist. Das Problem: Die Teilnehmer hatten sich nur für sechs Monate verpflichtet. Daher hatten etwa ein Dutzend Freiwillige die Arbeit fortgesetzt, während zwei Mitglieder des Organisationsteams das Sortieren und Schreiben der Vorschläge übernommen haben. Die Vorschläge wurden dann von einem Mitarbeiter des Umweltministeriums auf ihre Umsetzbarkeit überprüft.

Mitglieder des Klima-Bürgerrates hatten ihre Vorschläge am 4./5. Oktober 2022 den zuständigen Parlamentsausschüssen vorgelegt. Am 25. Oktober 2022 fand einem Plenumsdebatte dazu im Parlament statt.

Klimaschutzplan aktualisiert

Am 18. April 2023 hat die Regierung Korrekturen ihres Klimaschutzplans vorgestellt. Im Vergleich zum bisherigen Plan bleibt es dabei, dass die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gesenkt werden sollen. Bei den erneuerbaren Energien soll der Anteil auf 35 bis 37 Prozent gesteigert werden - statt der derzeit vorgesehenen 25 Prozent. Die Energieeffizienz soll um 44 Prozent verbessert werden - derzeit sieht der PNEC 40 bis 44 Prozent vor. Vom Klima-Bürgerrat wird dabei die Idee des Ausstiegs aus fossil betriebenen Heizungen übernommen - in einer ersten Phase mit einem entsprechenden Förderprogramm auf freiwilliger Basis.

Premier Bettel unterstrich die „eindrucksvolle Arbeit“ des 100-köpfigen Gremiums. 57 Maßnahmen werden von der Regierung für die Neufassung des PNEC zurückbehalten - in 19 Fällen werden dabei bereits bestehende Maßnahmen verstärkt, fünf neue Maßnahmen finden Aufnahme in den Vorentwurf des PNEC. Dazu zählen im Bereich „Mobilität“ die Einführung eines Sozialleasing, um einkommensschwache Haushalte beim Umstieg auf E-Mobilität zu unterstützen, die Ausarbeitung einer Strategie zur Temporeduzierung beim motorisierten Verkehr und die Überarbeitung der Zulassungssteuern. 33 Maßnahmen waren laut Regierung deckungsgleich mit jenen im Energie- und Klimaplan. Die kontroversesten Vorschläge schafften es allerdings nicht in den Plan. Etwa die Forderung nach einer CO2-Steuer in Höhe von 200 Euro pro Tonne.

Bürgerrat "chaotisch"

Teilnehmer hatten den Ablauf des Bürgerrates kritisiert. Einige Teilnehmer waren von der Kommunikationssperre rund um den Bürgerrat überrascht: "Sie sagten, es sei ein großes Projekt, auch für die Öffentlichkeit, aber nichts wurde auf der Internetseite veröffentlicht, und die Beiträge der Experten, die immerhin gefilmt werden, sind nicht zugänglich. Ich verstehe nicht, warum", zitiert die Zeitung „Le Quotidien“ ein Bürgerrat-Mitglied.

Der ganze Bürgerrat sei chaotisch verlaufen. "Nichts war klar, die Rollen jedes Einzelnen, die Funktionsweise... Heute ist es ein bisschen besser, aber sie sind nicht vorbereitet. Der Ablauf ändert sich immer wieder, die Auftritte der Experten werden in letzter Minute festgelegt, bei den Debatten erfährt man erst im letzten Moment, welche Redner man treffen wird.“ "Es ist so mittelmäßig, was man uns vorsetzt. Das ist einfach nur amateurhaft", sagte ein anderer Teilnehmer.

"Ich habe nur weiße Menschen gesehen"

Irritation löste auch aus, dass die meisten Experten, die vor dem Klima-Bürgerrat sprechen sollten, nicht neutral waren, sondern die Interessen der Regierung vertraten. So arbeiteten fünf der neun Redner, die am letzten Wochenende, das dem Thema Mobilität gewidmet war, auf dem Programm standen, für ein Ministerium oder eine staatliche Stelle.

Infrage gestellt wurde auch die tatsächliche Repräsentativität der 60 Bürger, die die Gesellschaft Luxemburgs widerspiegeln sollten: "Ich habe nur weiße Menschen gesehen, keine Vielfalt", berichtete ein Bürgerrat-Teilnehmer, "und an einem ganzen Wochenende habe ich niemanden zum Beispiel Portugiesisch sprechen hören."

Zu viel Arbeit

Ganz zu schweigen von dem geforderten Bildungsniveau und dem persönlichen Einsatz, der de facto einen großen Teil der Bevölkerung ausgeschlossen habe: "Die Menge an Arbeit, die von uns verlangt wird, ist sehr groß, und meiner Meinung nach sind die Unterlagen wie auch der gesamte Prozess nicht für jeden Bürger zugänglich. Und wenn man arbeitet oder Mutter ist, ist das fast unmöglich". Daher sei auch die Zahl der Teilnehmer bei den Online-Debatten stark zurückgegangen.

Andere Bürgerrat-Mitglieder widersprachen dieser Darstellung. Die mit der Organisation des Bürgerrates betrauten Unternehmen haben die nur kurze Zeit zur Vorbereitung und Durchführung des Bürgerrates für die Probleme verantwortlich gemacht.

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