Mehr Bürgerräte in der EU gefordert

06. März 2024
European Commission

41 europäische Demokratie-Organisationen fordern die Europäische Union (EU) auf, zufällig geloste Bürgerräte auf allen Ebenen zu stärken. Ein entsprechender offener Brief wurde vom Verband „Mehr Demokratie“ zusammen mit den Organisationen G1000 (Belgien), Bureau Burgerberaad (Niederlande), DemNet (Ungarn), DemocracyNext, FIDE (beide international) und der Shipyard Foundation (Polen) verfasst und von weiteren Organisationen unterzeichnet.

Das Demokratiebündnis ruft EU-Kommission, Europaparlament, den Europäischen Rat und die belgische Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union auf, in Bürgerräte zu investieren, um die europäischen Demokratien zu stärken. „Indem wir deliberative demokratische Verfahren nutzen, können wir nicht nur die Legitimität und Effektivität der Entscheidungsfindung verbessern, sondern auch ein Gefühl für Eigenverantwortung und Solidarität unter den Bürger fördern“, heißt es im Schreiben.

Desillusionierung und Entfremdung

Die deliberative Demokratie (entlehnt von lateinisch deliberatio ‚Beratschlagung, Überlegung‘) betont öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation und das Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsverfahren. Bürgerräte werden als deliberative Verfahren bezeichnet. Die Unterzeichner des offenen Briefes wollen damit die europäische Demokratie stärken.

Die Demokratie sei das Herzstück der europäischen Werte und verkörpere gemeinsame Grundsätze wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Man sei jedoch an einem entscheidenden Punkt für die Demokratien angelangt. „Antidemokratische Kräfte haben sowohl an den Grenzen der EU als auch innerhalb mehrerer Mitgliedstaaten an Einfluss gewonnen. Wir beobachten eine zunehmende Desillusionierung und Entfremdung, die eine wachsende Kluft zwischen den Bürgern und ihren Vertretern, aber auch zwischen den Bürgern und der Demokratie selbst“, formulieren die den offenen Brief unterzeichnenden Organisationen.

Bewahrung des Status Quo reicht nicht aus

Dieser Trend unterstreiche die Notwendigkeit von mutigen Maßnahmen zur Stärkung der demokratischen Institutionen und Verfahren.Die bloße Bewahrung des Status quo reiche aber nicht aus, um den Bedrohungen der demokratischen Werte und der Stabilität zu begegnen.

„Bei der Bewältigung der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts müssen sich auch unsere demokratischen Institutionen und unsere politische Kultur weiterentwickeln, damit sie die Bedürfnisse und Werte unserer vielfältigen Bürger besser widerspiegeln und vertreten“ fordern die Demokratie-Organisationen. Dies könne durch eine aktivere Einbindung der Bürger in politische Entscheidungsverfahren erreicht werden. Eine bewährte Methode hierzu sei der Einsatz zufällig geloster Bürgerräte, um politische Entscheidungsverfahren integrativer zu gestalten.

Bürgerräte in fast allen EU-Mitgliedsstaaten

Nach Angaben des Demokratie-Bündnisses finden inzwischen in fast allen EU-Mitgliedstaaten Bürgerräte statt, die die Legitimität und Qualität der demokratischen Verfahren erhöhten. „Indem sie einen Raum für den Dialog zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Ansichten bieten, entpolarisieren Bürgerräte Debatten über wichtige gesellschaftliche Themen“, heißt es im offenen Brief. Die deliberative Demokratie habe sogar das Potenzial, einen größeren Dialog über Zukunftsfragen der Europäischen Union anzustoßen.

„Viele deliberative Verfahren sind einmalige Ad-hoc-Experimente, die nur unzureichend mit den bestehenden politischen Entscheidungsprozessen und Regierungsstrukturen verbunden sind, was es schwierig macht, die Ergebnisse der Bürgerräte in die Politik einfließen zu lassen“, stellen die Unterzeichner des offenen Briefes fest.. Darüber hinaus erfüllten nicht alle diese Verfahren die wesentlichen Qualitätsstandards, die für eine ehrliche, transparente und legitime Bürgerbeteiligung erforderlich seien. Das erhöhe das Risiko, dass die Beratungen der Bürger zum "Citizen Washing" missbraucht werden könnten.

Das gemeinsame Anliegen der Demokratie-Organisationen:

Eine klare Vision für Bürgerräte: Verankerung der Bürgerbeteiligungsziele in der Strategischen Agenda 2024 - 2029 der EU, wobei sichergestellt werden muss, dass sie hochwertigen Standards und Bewertungskriterien entsprechen, um ein "Citizen Washing" zu verhindern.

Strukturelle Integration von deliberativen Bürgerräten: Einbindung von Bürgerräten in die politischen Verfahren der EU, auch bei strittigen Themen. Institutionalisierung deliberativer Verfahren und Einrichtung eines ständigen Bürgerrates mit einem klaren Mandat. Schaffung einer horizontalen Leitungsebene oder eines Referats zur Koordination der Arbeit im Bereich Bürgerbeteiligung und Deliberation.

Schaffung der Voraussetzungen für robuste Verfahren in allen Mitgliedstaaten: Investitionen in den Aufbau deliberativer Kapazitäten in der gesamten EU. Bereitstellung finanzieller Mittel für EU-Mitgliedsstaaten, Bundesländer und Kommunen, die nicht die Möglichkeit haben, deliberative Verfahren zu organisieren.

Demokratische Odysee

Bereits seit einiger Zeit arbeitet Mehr Demokratie im Zusammenschluss mit vielen anderen europäischen Demokratie-Organisationen, Demokratie-Forschern und Demokratie-Förderern an einem Projekt mit dem ungewöhnlichen Titel „The Democratic Odyssey“. Die Odyssee will die Vorstellung von einem Ökosystem demokratischer Beteiligung in der EU greifbarer machen, und zwar zusammen mit all denjenigen, denen die Entwicklung der Demokratie am Herzen liegt.

Ziel der Odyssee ist es, eine Vision davon zu entwickeln, wie in der EU ein ständiger Bürgerrat etabliert und dieser mit wahrhaftiger Legitimation und Wirkungskraft ausgestattet werden kann. Anders als andere Bürgerräte haben ständige Bürgerräte eine rechtliche Grundlage und eine dauerhafte Organisationsstruktur. Beispiele dafür gibt es u.a. in Aachen, Brüssel, Mailand, Ostbelgien und Paris.

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