Bürgerrat-Leitlinien für Kommunen
Bürgerräte sind zu einem der innovativsten Wege geworden, um die Beteiligung der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung zu vertiefen und tragen dazu bei, das Vertrauen der Öffentlichkeit in den politischen Prozess zu stärken. Das erklärte Karl-Heinz Lambertz, Parlamentspräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien, bei der Vorstellung eines Berichts, der vom Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates am 23. März 2022 angenommen wurde.
Der Bericht bietet Leitlinien für Gemeinden und Regionen, die durch Fallstudien auf lokaler und regionaler Ebene veranschaulicht werden: Mostar (Bosnien-Herzegowina), Oud-Heverlee (Belgien), der Klima-Bürgerrat in Schottland und der ständige Bürgerdialog in Ostbelgien.
Wichtige Punkte innerhalb der Leitlinien sind
- der Umgang mit Bürgerrat-Empfehlungen im politischen Prozess
- die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
- die Auswahl der Themen und der Aufgabenstellung
- die Organisation des Verfahrens
Für die Durchführung von Bürgerräten in kleinen Gemeinden gibt es besondere Hinweise.
Bürgerrat in Mostar
Im Kongress berichtete Mario Kordić als Bürgermeister von Mostar von Erfahrungen mit einem Bürgerrat in seiner Stadt zum Thema "Sauberkeit der Stadt und Instandhaltung der öffentlichen Räume in Mostar". "Dank der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wurde der Aktionsplan der Stadt Mostar einstimmig angenommen, wobei ihre Empfehlungen in den Haushaltsplänen der Stadt berücksichtigt wurden.“. Er bezog sich dabei auf einen Bürgerrat, die im Rahmen des vom Kongress durchgeführten Projekts "Aufbau der demokratischen Beteiligung in der Stadt Mostar" organisiert wurde. Mostar ist eine ethnisch geteilte Stadt mit einer Geschichte des politischen Stillstands und der Polarisierung.
Mit einer der Empfehlungen des Bürgerrates wird der Bürgermeister aufgefordert, zu prüfen, wie Bürgerräte in Mostar institutionalisiert werden könnten. Der Bürgerrat wurde von den Teilnehmern eindeutig als nützliche Methode für die politische Entscheidungsfindung in ihrer Stadt wahrgenommen.
Bürgerräte haben sich laut Kongress als sehr hilfreich bei bestimmten Arten von Problemen erwiesen, die in einem parteipolitisch polarisierten Feld nur schwer zu lösen seien. Da Bürgerräte einen Raum schüfen, in dem gegenseitiges Verständnis und eine respektvolle, gleichberechtigte Diskussion stattfinden könne, seien polarisierende Themen weniger mit Streit behaftet.
Bürgerrat-Teilnehmer freier als Politiker
Durch das Los bestimmte Bürger seien im Vergleich mit Politikern viel freier, ihre Meinung zu ändern oder Kompromisse zu schließen, wenn sie neue Informationen erhielten. Politiker müssten hingegen oft auf die Linie ihrer Partei achten und sich die Zuneigung ihrer Wähler bewahren. Da die Teilnehmer von Bürgerräten nicht an Wahlzyklen gebunden seien, neigten sie dazu, bei politischen Fragen eine eher langfristige Perspektive einzunehmen.
Bürgerräte „arbeiten mit gewählten Politikern zusammen, wobei jeder seine eigene Rolle hat; auf diese Weise helfen die Bürger den Politikern bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Die Methode ist daher eine Ergänzung zur gewählten repräsentativen Demokratie“, erklärt der Kongress. Die Forschung habe zudem gezeigt, dass eine nach dem Zufallsprinzip ausgewählte und daher vielfältige und ausgewogene Gruppe von Bürgern politische Probleme durch kollektive Intelligenz besser lösen könne - sogar besser als Experten.
Mehr Transparenz
„Indem die Bürger in die Lage versetzt werden, Entscheidungsprozess vorzubereiten, zeigen deliberative Methoden, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit ernst genommen wird“, heißt es im Bericht weiter. Durch die Veröffentlichung der Informationen, die die Bürgerinnen und Bürger in einem solchen Prozess erhalten, verbesserten diese Verfahren zudem die Transparenz politischer Entscheidungen. Aus all diesen Gründen könnten Bürgerräte auch das Vertrauen in die Demokratie auf lokaler Ebene stärken.
Der Kongress sieht Bürgerräte auch gegen Korruption gut gewappnet. „Theoretisch ist es wahrscheinlich nicht unmöglich, eine Gruppe sich beratender Bürgern zu korrumpieren, aber die Bedingungen machen das sehr unwahrscheinlich. In einem solchen Prozess sind alle Bürger im Entscheidungsfindungsprozess strikt gleichberechtigt, so dass es einer beträchtlichen Anzahl korrumpierter Bürger bedürfte, um eine in der Beratung getroffene Entscheidung zu beeinflussen.“
Gleichheit in der Beteiligung
Empirische Untersuchungen haben laut Kongress gezeigt, dass viele Formen der Bürgerbeteiligung mit Blick auf die Teilnehmer starke Verzerrungen aufweisen. „Die der deliberativen Demokratie innewohnende Idee der 'Gleichheit in der Beteiligung' hat daher zu einer Wiederbelebung der uralten Idee geführt, die Bürger für Entscheidungsprozesse auszulosen. Diese Praxis, die auf die athenische Demokratie zurückgeht, gilt als das beste Verfahren, um sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Chancen haben, einer Gruppe anzugehören, die politische Maßnahmen beeinflussen kann“, so der Konferenz-Bericht. Dies trage auch dazu bei, eine Gruppe zu bilden, die von der breiten Öffentlichkeit als repräsentativ genug angesehen werde, um das Ergebnis ihrer Beratungen akzeptieren zu können.
Die Institutionalisierung von Losverfahren etwa in Ostbelgien und in der Region Brüssel mache deutlich, dass diese Verfahren zu einem grundlegenden Bestandteil der Art und Weise würden, wie Regierungen die Bürger in die Entscheidungsfindung einbezögen.
Der Kongress unterstreicht die Wichtigkeit einer Institutionalisierung von Bürgerräten: "Es gibt zwar immer mehr Belege dafür, dass Bürgerräte Vertrauen in die von ihnen erarbeiteten Empfehlungen schaffen, doch für stärkere systemische Auswirkungen wie ein größeres Vertrauen in die Demokratie bedarf es eines stärker institutionalisierten Ansatzes, um zu funktionieren. Wir können nicht erwarten, dass ein einziges deliberatives Verfahren diese Art von Wirkung hat. Es braucht einen längeren Zeitraum, um die Wahrnehmung der Bürger davon zu verändern, wie das demokratische (und politische) System in ihrem Land funktioniert."
Themenauswahl
Eine der wichtigsten Entscheidungen für einen Bürgerrat ist die Auswahl des Themas oder der Frage, an der gearbeitet werden soll. Wer soll dies entscheiden und die Tagesordnung für einen Bürgerrat festlegen? In einem Minimalszenario sind es nur die Politiker. Für jedes Thema ist es wichtig, dass die Frage, die den Bürgern gestellt wird, deren Antwort nicht in eine bestimmte Richtung lenkt.
Manchmal ist ein offener Aufruf Teil der Themenauswahl für einen Bürgerrat. Dies kann durch die Befragung von Interessenvertretern geschehen, wie dies beim Bürgerrat in Mostar mit einem Workshop zur Erarbeitung von Vorschlägen für Bürgerrat-Themen der Fall war. Auch die breite Öffentlichkeit kann aufgefordert werden, Themen vorzuschlagen, wie es in Ostbelgien der Fall ist. Dies wäre ein deutliches Signal der Regierung und/oder des Parlaments, dass diese die Kontrolle über die politische Agenda an die Bürger und/oder Interessengruppen abgeben.
Bürgergremium für Bürgerräte
Wenn ein Aufruf an die Öffentlichkeit Teil der Themenauswahl ist, ist es wichtig, ein Auswahlverfahren für das endgültige Thema zu haben, das transparent ist und als legitim wahrgenommen wird, erklärt der Kongress. Es sei daher ratsam, die Bürgerinnen und Bürger die endgültige Entscheidung treffen zu lassen. Dafür werden auch Beispiele genannt: "In Ostbelgien geschieht dies durch den ständigen Bürgerrat, während in Mostar eine Zufallsstichprobe der Bevölkerung über drei mögliche Themen abstimmen konnte."
Bei einer Institutionalisierung von Bürgerräten nach dem Beispiel von Ostbelgien können die Aufgaben der Themenfindung, der Bürgerrat-Organisation und der Weiterverfolgung der Bürgerrat-Empfehlungen einem separaten Bürgergremium übertragen werden, empfiehlt der Kongress. Mit einem solchen Gremium werde auch eine ständige Verbindungsstelle für die Behörden geschaffen, die Informationen über die Weiterverfolgung der Empfehlungen dorthin weitergeben.
Zurück zur athenischen Demokratie
Ein vom Bürgerrat getrenntes Bürgergremium habe auch den Vorteil, dass sich jede Bürgergruppe auf ihre spezifischen Aufgaben konzentrieren könne, die zwar alle ein starkes Engagement erforderten, aber auch in ihrem Umfang begrenzt seien. Nicht zuletzt sei die Trennung zwischen der Befugnis, ein Thema auszuwählen, und der Befugnis, Empfehlungen zu diesem Thema abzugeben, auch eine Form der Gewaltenteilung bei der Institutionalisierung der deliberativen Demokratie. Dies gehe auf die athenische Demokratie zurück, wo diese Form der Bürgerdemokratie mit mehreren Organen angewandt worden sei.
Der Kongress ruft dazu auf, deliberative Verfahren wie Bürgerräte auf allen Ebenen stärker zu nutzen und Themen zu finden, bei denen Bürgerräte zum Entscheidungsprozess beitragen könnten. Er betont die Notwendigkeit, das gesamte Bürgerrat-Verfahren zu planen, die nötige Zeit für die Beratungen der Bürger einzuplanen und insbesondere faire Kriterien für die Auswahl der Teilnehmer festzulegen. Bürgerräte könnten institutionalisiert werden, indem sichergestellt werde, dass die lokalen Regierungen mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet werden.
Der Kongress der Gemeinden und Regionen
Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates ist die institutionelle Vertretung der über 200.000 regionalen und lokalen Gebietskörperschaften der 47 Mitgliedstaaten des Europarates. Er verfolgt die gleichen Ziele wie der Europarat: den Schutz der Menschenrechte, das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und die Entwicklung der Demokratie in den Mitgliedstaaten. Als beratendes Gremium des Europarates verfasst der Kongress kontinuierlich Berichte, Empfehlungen und Entschließungen zu Fragen der Kommunal- und Regionalpolitik und richtet sie an das Ministerkomitee.