„Sie hören den Nicht-Eliten zu“
Bürgerräte bieten auch Menschen ein Forum, die sonst in der Politik nicht zu Wort kommen. Das zeigte sich erneut beim Bürgerrat zur Demokratie in Großbritannien, dessen Empfehlungen am 7. April 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden.
„Die Organisatoren des Bürgerrates hören den Nicht-Eliten zu“, erklärte Laurel, zufällig gelostes Mitglied des Bürgerrates, nach ihrer Teilnahme. Wie viele für Bürgerräte ausgeloste Menschen war Laurel zunächst skeptisch. „Ist das ernst gemeint?“, fragte sich Laurel, als sie die Einladung zum Bürgerrat erhalten hatte. Sie vermutete eine Täuschung. Aber dann sagte sie zu: „Ok, ich werde das Risiko eingehen, habe ich mir gesagt.“
„Benutzen Sie Worte, die wir verstehen“
Zu Beginn des Bürgerrates erklärte Laurel den Organisatoren ihre Erwartung: „Ich mag es, wenn Leute Worte benutzen, die ich verstehe. Sie haben diese gebildeten Menschen, aber man muss auch an die kleinen Leute denken, die nicht so gebildet sind. Also benutzen Sie Worte, die wir verstehen. Wenn Sie Worte verwenden, die wir verstehen, können wir uns besser verständigen."
Laurel gehörte zur Gruppe der Teilnehmer mit niedrigen oder gar keinen Bildungsabschlüssen. Diese machten zu Beginn des Bürgerrates 35,1 Prozent aller Teilnehmer aus. Damit lagen die Organisatoren nah am Ziel von 36,3 Prozent, die diese Menschen in der britischen Gesamtbevölkerung ausmachen. In Parlamenten ist diese Bevölkerungsgruppe hingegen wenig bis gar nicht vertreten. Weitere Kriterien für die Zusammenstellung des Bürgerrates waren Alter, Geschlecht, Ethnie, Behinderung und Wohnort.
Beratungen an sechs Wochenenden
Außerdem waren die Teilnahme-Interessierten gefragt worden, ob sie 2016 am Brexit-Referendum teilgenommen und wie sie abgestimmt hatte, ob und mit welcher Stimmentscheidung sie an der letzten Unterhauswahl teilgenommen hatten und wie sie zum Thema Bürgerbeteiligung stehen. Auch hier lag die Verteilung im Bürgerrat nahe der in der Bevölkerung.
Die Bürgerrat-Mitglieder hatten sich vom 18. September bis zum 12. Dezember 2021 an sechs Wochenenden in Online-Sitzungen insgesamt 45 Stunden lang mit der Frage befasst, welche Rolle Regierung, Parlament, Gerichte und Öffentlichkeit ihrer Meinung nach spielen sollten und welche Erwartungen die Menschen an das Verhalten der Akteure in der britischen Demokratie haben. Die Teilnehmer haben dann 51 Empfehlungen dazu formuliert, wie die Demokratie funktionieren soll. Ziel war es, die Debatten über die Demokratie unter den politischen Entscheidungsträgern in den Regierungen und Parlamenten in allen Teilen Großbritanniens zu beeinflussen.
„Unzufrieden", "frustriert" und "enttäuscht"
„Unzufrieden", "frustriert" und "enttäuscht" sind im Bürgergutachten des Bürgerrates häufig auftauchende Worte. „Wir sind frustriert darüber, wie die Demokratie im Vereinigten Königreich heute funktioniert, weil es eine Kluft zwischen den Menschen und dem System gibt“, heißt es in im Gutachten. Man habe das Gefühl, dass sich der Zustand der Demokratie immer weiter verschlechtere. Gleichzeitig bekunden die Teilnehmer vertrauen in den Rechtsstaat. Die britische Demokratie sei besser als viele andere.
In ihrem Bürgergutachten stellen die Bürgerrat-Teilnehmer hohe Anforderungen an Abgeordnete und Regierung. Sie wünschen sich eine Umverteilung der Macht von der Regierung auf Parlament und Gerichte. Bürgerinnen und Bürger sollen stärker an politischen Entscheidungen beteiligt werden, sowohl über ihre gewählten Vertreter als auch direkt. Der Bürgerrat hat zudem konkrete Empfehlungen für die Auflösung und Einberufung des Parlaments, die gerichtliche Überprüfung von Gesetzen sowie zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit formuliert.
Bürgerrat für Bürgerräte
Die Bürgerrat-Teilnehmer brechen auch eine Lanze für Bürgerräte: „Wir sind der Meinung, dass Regierungen und Parlamente (…) deliberative Verfahren wie Bürgerräte häufiger nutzen sollten, um die Ansichten der Bürger besser zu verstehen“, lautet eine Empfehlung. Dabei wird auch die eigene Erfahrung im Bürgerrat beschrieben. „Wir sind alle so unterschiedlich und kommen aus verschiedenen Orten - aber alle haben sich darauf konzentriert wie wir Dinge besser machen können, wenn wir sie erst einmal angepackt haben. Das machte es anstrengend, aber auch spannend. Auf diesem Weg kann man ein breites Spektrum der Bevölkerung einbeziehen und die Leute lernen voneinander.“ Vorgeschlagen wird, dass Bürgerräte auch durch eine Petition aus der Bevölkerung ins Leben gerufen werden können.
Neben Bürgerräten befürwortet die Losversammlung auch Volksabstimmungen. Diese sollten aber sparsam eingesetzt werden und vor allem für Verfassungsfragen von erheblicher nationaler (oder regionaler) Bedeutung genutzt werden. Volksentscheide sollen außerdem nur dann eingesetzt werden, wenn es um klar definierte, aber umstrittene Entscheidungen geht, bei denen die Folgen der Entscheidung genau im Voraus genau dargelegt werden können.
Volksentscheide mit „Super-Mehrheit“
Ein unparteiisches Gremium soll dafür verantwortlich sein, die Bürger mit klaren, unvoreingenommenen und sachlichen Informationen zu versorgen. Volksabstimmungen sollen nur dann als bindend für Regierung und Parlament angesehen werden, wenn sie mit einer nicht näher definierten „Super-Mehrheit“ angenommen werden. „Eine Mehrheit von 50 Prozent +1 ist nicht genug, um als Auftrag der Gesellschaft zu gelten“, so der Bürgerrat.
Teilnehmer John hat die Teilnahme am Bürgerrat genossen. „Ich war beeindruckt von den Meinungen einiger Menschen“, so der Rentner aus der Nähe von Edinburgh, der früher in der chemischen Industrie gearbeitet hat. Durch die Wahrnehmung der Perspektiven anderer Teilnehmer habe er an manchen Punkten seine Meinung geändert. Teilnehmerin Paddy zeigte sich angetan von der Atmosphäre im Bürgerrat: „Das Grundprinzip lautete, dass man anderer Meinung sein kann, aber wir bleiben höflich, wir bleiben respektvoll, und das war wirklich wichtig. Und mir ist klar geworden, dass das in unseren aktuellen Debatten oft fehlt.“
„Bürger über Zustand der Demokratie besorgt“
Prof. Alan Renwick (Projektleiter und stellvertretender Direktor der UCL Constitution Unit) kommentierte die Ergebnisse des Bürgerrates: "Der Bürgerrat zur Demokratie zeigt, dass die Menschen im gesamten Vereinigten Königreich über den Zustand unserer Demokratie zutiefst besorgt sind. Das ist nicht nur eine kurzlebige Reaktion auf Partygate. Schon vor der Ausweitung des Skandals wünschten sich die Menschen Politiker, die ehrlich und vertrauenswürdig sind, und eine stärkere Rolle für unabhängige Regulierungsbehörden."
Kaela Scott, verantwortlich für Verfahren und Moderation des Bürgerrates und Leiterin der Abteilung Innovation und Praxis bei Involve, fügte hinzu: "Die Empfehlungen des Bürgerrates zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer Verschiedenheit ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielen können, wenn sie die Möglichkeit haben, zusammenzukommen und etwas über die Komplexität unseres demokratischen Systems zu lernen, und wenn sie die Zeit haben, wirklich über das System und ihre Wünsche zu diskutieren und nachzudenken.“
„Hört ihnen zu“
Prof. Renwick ergänzte: "Die Mitglieder des Bürgerrates haben unglaublich hart gearbeitet, um diesen Bericht zu erstellen, und sie verdienen es nun, ernst genommen zu werden." Man arbeite jetzt daran, ihre Vorschläge den politischen Entscheidungsträgern in London, Edinburgh, Cardiff und Belfast nahezubringen. "Meine Botschaft an die Politiker lautet: Hört ihnen zu und überlegt euch, was eure nächsten Schritte sein sollten."
Das Bürgerrat-Projekt wurde vom stellvertretenden Direktor der UCL Constitution Unit, Prof. Alan Renwick, in Zusammenarbeit mit Prof. Meg Russell, der Direktorin der UCL Constitution Unit, und Prof. Ben Lauderdale, einem führenden Experten für Meinungsforschung, geleitet. Der Bürgerrat wurde in Zusammenarbeit mit Involve durchgeführt, einer Organisation, die sich schwerpunktmäßig mit Bürgerräten beschäftigt. Die Sortition Foundation hatte das Losverfahren für den Demokratie-Bürgerrat durchgeführt.
Mehr Informationen: Citizens’ Assembly on Democracy in the UK