Losbürger keine Gesetzgeber
Im Schweizer Kanton Waadt sollte mit Hilfe einer Volksinitiative eine zufällig geloste Bürgerkammer geschaffen werden. Das Besondere daran: die Losversammlung sollte auch Gesetze beschließen können. Die Initiative zielte auf eine entsprechende Änderung der Kantonsverfassung. Der Staatsrat des Kantons hat die Volksinitiative für unzulässig erklärt.
Die Organisation AG!SSONS (Französisch für „Lasst uns handeln!“) hatte ihre Initiative mit aus ihrer Sicht vorhandenen Defiziten der repräsentativen Demokratie begründet. „Derzeit bewegt sich die Entscheidungsgewalt innerhalb eines verzerrten politischen Systems.Wir stellen fest, dass die repräsentative Wahl nicht gleichberechtigt ist, da sie bestimmte soziale Gruppen bevorzugt und andere marginalisiert“, heißt es auf der Internetseite von AG!SSONS.
Parlament bei bestimmten Themen blockiert
Das Bedürfnis, wiedergewählt zu werden, löse Angst vor Debatten aus und führe dazu, dass bestimmte heikle Themen gemieden würden. Die politischen Parteien bekämpften sich systematisch, was eine langfristige Planung verhindere.„Gewählte Politiker geben selbst zu, dass das Parlament bei bestimmten Themen 'blockiert' ist“, hatte die Demokratie-Initiative erklärt.
AG!ISSONS hatte vorgeschlagen, dass jede Bürgerkammer sich aus 200 ausgelosten Personen zusammensetzt, die einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Die Kammer sollte sich intensiv mit dem zu behandelnde Thema befassen und dabei die Argumente von verschiedenen Interessengruppen und Fachleuten anhören. Dies bringe Empfehlungen von hoher Qualität hervor.
75 Prozent Zustimmung für verbindliche Entscheidung
„Wird ein Vorschlag von mindestens 75 Prozent der Versammlung angenommen, mündet er in einen Gesetzestext mit Entscheidungswirkung, der von den Behörden umgesetzt werden muss“, hatte AG!SSONS vorgeschlagen. Ein juristisches Sekretariat sollte die Gesetze ausarbeiten, die dann wiederum von der Bürgerkammer hätten bestätigt werden müssen. Der Regierung, dem Parlament sowie den Bürgerinnen und Bürgern des Kantons Waadt sollte es erlaubt sein, Änderungsvorschläge zum Gesetzentwurf einzureichen.
Ein Bürgersenat mit 150 Mitgliedern - zusammengesetzt aus ehemaligen Mitgliedern der Bürgerkammer - sollte pro Halbjahr zwei Themen auswählen, mit denen die Bürgerkammer sich anschließend befassen sollte. Die Mitglieder dieses Senats sollten von ihrer Arbeit freigestellt werden alle ihre Aufwendungen erstattet bekommen. Bürgerinnen und Bürger sollten mit mindestens 10.000 Unterschriften ebenfalls eine Bürgerkammer einberufen können. Dabei sollte es auch möglich sein, dass mehrere Bürgerkammern gleichzeitig tagen, die sich jeweils mit einem bestimmten Thema befassen sollten.
Parlament sollte Bürgerkammer-Gesetz ändern können
Der Große Rat hätte als Kantonsparlament die Möglichkeit bekommen, ein von einer Bürgerkammer beschlossenes Gesetz zu ändern. Die Abstimmung des Parlaments darüber hätte aber vom Bürgersenat freigegeben werden müssen. Dazu hätte es einer Mehrheit von mindestens 75 Prozent der an der Abstimmung darüber teilnehmenden Bürgersenat-Mitglieder bedurft. Diese Regelung sollte zu einer öffentlichen Debatte über die Änderung führen. Mit einem Referendum oder einer Volksinitiative hätte auch die Bevölkerung die Möglichkeit bekommen sollen, Entscheidungen der Bürgerkammer wieder rückgängig zu machen.
Über die Qualität der Arbeit der Bürgerkammer sollte ein Rat für Regeln und Verfahren wachen. Dieser sollte mit unparteiischen und unabhängigen Expertinnen und Experten besetzt werden, die für vier Jahre amtiert hätten. Mitglieder des Expertenrates sollten durch eine Mehrheit des Bürgersenates jederzeit wieder abberufen werden können. Der Rat sollte auch die für die Bürgerkammer vorgeschlagenen Themen prüfen und diese bei rechtlicher Zulässigkeit bestätigen. Bei einer Ablehnung hätte beim Bürgersenat Widerspruch eingelegt werden können. Eine Koordinierungsstelle für deliberative Demokratie sollte der Vorbereitung und Durchführung der Sitzungen von Bürgerkammer und Bürgersenat dienen.
Autonomes Gremium
Die Bürgerkammer und ihre Hilfsgremien sollten nach dem Vorschlag von AG!SSONS in Fragen der Organisation, der Verwaltung und der Finanzen autonom sein. „Der Große Rat sorgt für ein angemessenes Budget, um das wirksame Funktionieren der Bürgerkammer und ihrer Hilfsgremien zu gewährleisten. Der Vorschlag für für den Jahreshaushalt wird von der Koordinationsstelle für Deliberative Demokratie berechnet“, hieß es im Vorschlag der Volksinitiative.
„Dieses Entscheidungssystem führt aus der politischen Polarisierung heraus, bringt die Bevölkerung zusammen und führt zu Entscheidungen, die dem Gemeinwohl dienen“, so AG!SSONS. Das Losverfahren gewährleiste, dass die Vielfalt der Bevölkerung vertreten sei und für alle die gleichen Teilnahme-Chancen bestünden. Das schaffe Vertrauen. Die Bürger würden in den Mittelpunkt des Entscheidungsprozesses gestellt.
Volksinitiative unzulässig
Der Staatsrat des Kantons Waadt hat die Volksinitiative am 25. Oktober 2022 für unzulässig erklärt. Begründung: Die Volksinitiative sehe die Schaffung einer gelosten Bürgerkammer vor, die mit Befugnissen ausgestattet sei, die zumindest denen des Großen Rates entsprächen und sogar größer seien, da dieser keine Gesetze mehr zu einem Thema beschließen könne, sobald eine Bürgerkammer sich mit demselben Thema befasse. Diese Vorgehensweise würde es dem Volk nicht ermöglichen, seine gesetzgebenden Vertreter direkt zu wählen.
AG!SSONS hatte argumentiert, dass die Volksinitiative den Zulässigkeitsanforderungen entspreche, da Entscheidungen der Bürgerkammer dem fakultativen Referendum unterworfen wären. Nach Meinung des Staatsrates ersetzt die Möglichkeit eines Referendums aber nicht die Wahl von Abgeordneten. Die Kantone seien laut Bundesverfassung nicht verpflichtet, bei Gesetzgebungsfragen ein Referendum zu ermöglichen. Sie seien hingegen verpflichtet, eine Direktwahl ihres gesetzgebenden Organs vorzusehen. Dieser letzte Punkt sei also der entscheidende Aspekt.
Rechtsbeschwerde eingereicht
AG!SSONS hatte im Dezember 2022 eine 15-seitige Rechtsbeschwerde formuliert, die beim Verfassungsgericht des Kantons Waadt eingereicht wurde. Die Organisation hatte gefordert, dass das Waadtländer Verfassungsgericht den Ungültigkeitsbeschluss des Waadtländer Staatsrats aufhebt und den Staatsrat anweist, einen neuen Beschluss zu erlassen, der die Initiative sowohl formal als auch inhaltlich für gültig erklärt.
Am 8. Juni 2023 hatte das Verfassungsgericht in einem Urteil aber die Rechtsauffassung des Staatsrates bestätigt. Es erklärte die Initiative für ungültig, da sie nicht demokratisch sei. Die Initiativgruppe der Volksinitiative hatte daraufhin beschlossen, keine Beschwerde beim Bundesgericht einzulegen. Damit soll vermieden werden, einen Präzedenzfall auf der Ebene der Rechtsprechung zu schaffen, der ähnliche Initiativen in anderen Kantonen blockiert.
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