Bürger-Ideen gegen Lebensmittelverschwendung
Am 12. Februar 2023 hat ein zufällig gelostes EU-Bürgerforum 23 Empfehlungen zur Eindämmung der Lebensmittelversdhwendung in der Europäischen Union. beschlossen. Die 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten ihre Vorschläge an drei Wochenenden gemeinsam entwickelt.
Lebensmittelverschwendung bedeutet, dass bereits bei der Produktion von Nahrungsmitteln hohe Verluste auftreten. In den Privathaushalten werden außerdem neben ungenießbaren Teilen auch noch essbare Lebensmittel in die Abfalltonnen geworfen. Hinzu kommen weitere Verluste entlang der Lebensmittelversorgungskette.
Verschwendung größer als Import
Laut einer im September 2022 von der Umweltorganisation Feedback EU veröffentlichten Studie verschwendet die EU mehr Lebensmittel als sie importiert. Im Jahr 2021 hat die EU danach fast 138 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Wert von 150 Milliarden Euro importiert. Gleichzeitig schätzen die Autoren der Studie "No Time to Waste", dass in der EU jedes Jahr 153,5 Millionen Tonnen Lebensmittel nicht für die Ernährung der Bevölkerung genutzt werden.
Allein die Menge des in der EU weggeworfenen Weizens entspreche etwa der Hälfte der ukrainischen Weizenexporte und einem Viertel der anderen Getreideexporte der EU. Der Bericht geht von etwa 90 Millionen Tonnen Lebensmittelabfällen in der Lebensmittelherstellung aus - dreimal mehr als Haushaltsabfälle.
Kosten von 143 Milliarden Euro jährlich
Die Verschwendung ist dabei laut Studie in Ländern mit hohem Einkommen größer als in Länder mit kleinerem Einkommen. Der größte Teil der Verschwendung werde jedoch wahrscheinlich gar nicht erst erfasst, denn in der Regel würden Lebensmittel, die in den landwirtschaftlichen Betrieben nicht geerntet, nicht verwendet oder nicht verkauft werden, auch nicht berücksichtigt.
Die Verschwendung von Lebensmitteln koste Unternehmen und Haushalte in der EU schätzungsweise 143 Milliarden Euro pro Jahr. Sie verursache mindestens sechs Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in der EU. Schätzungsweise 20 Prozent der in der EU produzierten Lebensmittel landeten nicht in den Mägen der EU-Bürger. Durch die Halbierung der Lebensmittelverschwendung in der EU bis 2030 könnten 4,7 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche einer anderen Nutzung zugeführt werden.
Bündnis fordert verbindliche Zielvorgaben
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen hat ein internationales Bündnis aus 43 Organisationen aus 20 EU-Staaten eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der die EU aufgefordert wird, rechtlich verbindliche Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten einzuführen, um die Lebensmittelverschwendung in der EU vom Erzeuger bis zum Verbraucher bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren.
Zu den Unterzeichnern gehören die Organisationen Feedback EU, das Europäische Umweltbüro und Zero Waste Europe, die Lebensmittelabfallunternehmen Too Good to Go und OLIO sowie die Mitglieder der EU-Plattform für Lebensmittelverluste und -verschwendung, dem offiziellen Beratungsgremium der EU für Lebensmittelabfälle.
EU-Kommission will Verschwendung halbieren
Die Europäische Kommission hat sich verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. Bereits im Oktober 2021 hatte die Kommission ein Beteiligungsverfahren zu einem Leitlinien-Entwurf eingeleitet. Die Konsultation, die sich an die Akteure der Lebensmittelversorgungskette richtete, aber auch den Bürgern offenstand, wurde im August 2022 abgeschlossen und mündete in einen zusammenfassenden Bericht. Bei den Befragten handelte es sich hauptsächlich um EU-Bürger (35 %), Unternehmen/Unternehmensorganisationen (22 %) und Wirtschaftsverbände (20 %).
Eine Mehrheit der Konsultationsteilnehmer stimmte der Festlegung rechtlich verbindlicher Ziele für eine Verringerung der Lebensmittelverschwendung durch Maßnahmen wie die "Verbesserung der Effizienz entlang der Lebensmittelversorgungskette", "Aus- und Weiterbildung", "Erleichterung der Spende überschüssiger Lebensmittel" und "Weiterverwendung überschüssiger Lebensmittel und Nebenprodukte" zu oder stark zu.
Empfehlungen des Bürgerforums
Das EU-Bürgerforum zur Lebensmittelverschwendung hat nun u.a. die Einführung eines Rechtsrahmens für die Erfassung und Meldung von Lebensmittelabfällen vorgeschlagen. Sensibilisierungskampagnen sollen den Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum deutlich machen. Weiterhin plädieren die Forumsteilnehmer für Bildungsmaßnahmen in Schulen und Investitionen in Plattformen, die überschüssige Lebensmittel anbieten und weiterverteilen.
In allen Lieferketten soll bzgl. Lebensmittelverwchwendung mehr Transparenz geschaffen werden, um das Problem besser sichtbar zu machen. Alle Akteure in der Kette sollen verpflichtet werden, zu dokumentieren und zu berichten, wie viel Abfall sie erzeugen und was damit gemacht wird. Ein weiterer Schwerpunkt soll auf neuen Möglichkeiten der Datenerfassung sowie auf der Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung im Agrarsektor liegen. "Die EU sollte auch eine Best-Practice-Evaluierung der verschiedenen Mitgliedsstaaten über ihre bestehenden Berichtsstrukturen und Anreize sowie Korrekturmaßnahmen durchführen", heißt es im Abschlussbericht des Bürgerforums.
Forumsteilnehmer zufällig ausgelost
Die Teilnehmer des Bürgerforums zur Lebensmittelverschwendung wurden von einem unabhängigen Meinungsforschungsunternehmen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Um die Verschiedenheit der Menschen in der EU widerzuspiegeln, wurden die Mitglieder des Bürgerforums nach den Kriterien geografische Herkunft (Staatsangehörigkeit und Stadt/Land), Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Hintergrund und Bildungsstand so gemischt, dass sie ein Abbild der EU-Bevölkerung dargestellt haben. Ergänzt wurden diese Kriterien um eine Frage zur Einstellung der Ausgelosten zur EU, damit EU-Kritiker im Bürgerforum entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil ebenso angemessen vertreten waren wie EU-Befürworter. Junge Leute zwischen 16 und 25 Jahren waren überrepräsentiert. Sie stellten ein Drittel der Teilnehmer. Es wurde außerdem ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gewahrt.
Das Bürgerforum hatte sich zu drei Sitzungen getroffen. Diese fanden vom 16. - 18. Dezember 2022 in Brüssel, vom 20. - 22. Januar 2023 online und vom 10. - 12. Februar 2023 erneut in Brüssel statt. Die hier entstandenen Empfehlungen sollen die Arbeit der Kommission im Bereich der Lebensmittelverschwendung unterstützen. Sie sollen zudem den EU-Mitgliedstaaten als Orientierungshilfe bei der Erreichung der künftigen Ziele zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung dienen.
Beschluss über Richtlinie im Juli 2023
Am 5. Juli 2023 hat die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag zur Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung angenommen, der erhebliche Verbesserungen für Verbraucher, Unternehmen und die Umwelt mit sich bringen soll. Dieser muss nun vom Europäischen Parlament und vom Rat gebilligt werden, ein Verfahren, das sich bis zu zwei Jahren hinziehen kann. Danach kann es ein weiteres Jahr dauern, bis die Richtlinie von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt wird. Im schlimmsten Fall wird das Verfahren erst 2026 abgeschlossen sein.
Organisiert und moderiert wurde das Bürgerforum von Experten von The Danish Board of Technology (DBT), deliberativa, ifok und Missions Publiques. Diese vier Beteiligungsunternehmen haben ihre langjährige Erfahrung in der Organisation von Losversammlungen in das Forum eingebracht.
Kritik am Verfahren
Mitglieder des Bündnisses "Citizens Take Over Europe" haben das EU-Bürgerforum zur Lebensmittelverschwendung beobachtet. Das Bündnis bemängelt die folgenden Punkte und empfiehlt Änderungen:
- Fehlender Blick auf die Öffentlichkeitswirksamkeit. Wie im Fall der Konferenz zur Zukunft Europas wurde das Bürgerforum als eine Blase konzipiert, die keine Verbindung zu laufenden öffentlichen Debatten hatte. Abgesehen von der kleinen Zahl von Menschen, die die Bürgerforen verfolgt haben, gab es kaum öffentliche Aufmerksamkeit und Debatten darüber. Somit hat das Bürgerforum nicht zur Ausweitung der EU-Debatte über Lebensmittelverschwendung beigetragen.
- Die Themenauswahl erfolgte von oben nach unten. Die Themen sollten aber besser von oder mit den Bürgern selbst ausgewählt werden, wie z. B. bei erfolgreichen europäischen Bürgerinitiativen. Das Thema scheint auf der Grundlage der politischen Vorlagen ausgewählt worden zu sein, die sich in der "richtigen" politischen Phase befanden, und nicht auf der Grundlage von Themen, die in der öffentlichen Diskussion stehen. Auch wenn dies ein Argument gewesen sein könnte, um das Thema "Lebensmittelverschwendung" auf die politische Tagesordnung zu setzen, ist dies doch am Ziel vorbeigegangen.
- Auswahl der Experten. Der "Wissensausschuss", der für die Wissensvermittlung gesorgt hat, wurde von derselben Institution eingesetzt, die auch für die Weiterverfolgung der Ergebnisse zuständig ist. Folglich haben die meisten der Experten, die Beiträge lieferten, weitgehend mit dem ursprünglichen Standpunkt der Europäischen Kommission übereingestimmt. Das Ergebnis der Empfehlungen steht in hohem Maße im Einklang mit dem von der Kommission in der ersten Sitzung vorgetragenen Konzept der "individuellen Verantwortung" für die Lebensmittelverschwendung, so dass ein systemischeres Verständnis des Themas in den Hintergrund gedrängt wurde.
- In den Beratungen wurde kaum Widerspruch oder Debatten zugelassen, und alle Beiträge und Fachkenntnisse haben sich nur ergänzt. Stattdessen sollten Experten Pro- und Kontra-Argumente vorbringen oder Experten mit unterschiedlichen Ansichten auftreten. Die Teilnehmer könnten auch mit den Ansichten der Fraktionen des Europaparlaments zum Thema Lebensmittelverschwendung vertraut gemacht werden.
- Einbeziehung von unterrepräsentierten Gruppen. Um sicherzustellen, dass die Stimmen schutzbedürftiger Gruppen gehört werden, ist eine stärkere Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen, die mit diesen Gruppen arbeiten, erforderlich. Darüber hinaus könnten weitere Kriterien zur Einbeziehung von Mitgliedern marginalisierter Gruppen im Rekrutierungsprozess für Bürgerforen berücksichtigt werden.
- Der "Wissensausschuss" hat die Rolle der Zivilgesellschaft gesteuert. Die als Experten eingeladenen Akteure der "Zivilgesellschaft" haben den Teilnehmern Input geliefert, der sich am Kommissionsvorschlag orientiert und sich auf die "individuelle Verantwortung" der Verbraucher konzentriert. So hatte einer der als Sachverständige geladenen "zivilgesellschaftlichen" Akteure am ersten Tag des Bürgerforums vorgeschlagen, dass die Verbraucher mit "Einkaufslisten" in die Geschäfte gehen sollten, um nicht mehr Dinge zu kaufen, als sie brauchen. Die Zivilgesellschaft, die der Kommission mehr kontroverse Vorschläge liefern könnte, war also nicht anwesend.
- In einem großen Teil der Debatten ging es um Kampagnen zur "Sensibilisierung" für die Lebensmittelverschwendung und nicht um die Festlegung von Zielvorgaben, die die Kommission eigentlich als Gesetzgeber anstrebt. In diesem Sinne wurde beispielsweise eine kürzlich von einem Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen abgegebene Erklärung nicht vorgestellt, diese Organisationen wurden auch nicht aufgefordert, einen Beitrag zu leisten (nur der WWF war für den Freitag der ersten Sitzung eingeladen, konnte aber am Ende nicht kommen).
Bürgerforum folgt Bürgerempfehlungen
Das Bürgerforum ist unmittelbare Folge der Konferenz zur Zukunft Europas. Im Rahmen dieser Konferenz hatten 800 zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger aus der gesamten EU auch über die Weiterentwicklung der Demokratie in der Europäischen Union beraten. Eine dabei entstandene Empfehlung war der Wunsch, zufällig geloste Bürgerforen regelmäßig in der EU einzusetzen. Die EU-Institutionen sind diesem Wunsch gefolgt.
Neben dem Bürgerforum zur Lebensmittelverschwendung fanden zwischen Februar und April 2023 noch Foren zu den Themen Lernmobilität und virtuelle Welten statt.