"Aus der Politikverdrossenheit geholt"

28. Februar 2024

Von September 2023 bis Januar 2024 lief der erste vom Bundestag beauftragte Bürgerrat „Ernährung im Wandel". Bereits zuvor hatte es u.a. von zivilgesellschaftlichen Organisationen organisierte Bürgerräte gegeben. Anand Kumar und Urte Stahl haben am Bürgerrat Demokratie bzw. am Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ teilgenommen. Diese haben zur Entstehung des Ernährungs-Bürgerrates beigetragen. Wir haben die beiden nach ihrer Meinung zum jüngsten bundesweiten Bürgerrat gefragt.

Frage: Liebe Urte, lieber Anand, am 20. Februar 2024 hat der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ seine Empfehlungen an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und die Bundestagsfraktionen übergeben. Wie sehr ihr diesen Bürgerrat?

Urte Stahl: Zunächst einmal war es für mich ein wichtiger Meilenstein, dass dieser Bürgerrat erstmals im Auftrag des Bundestages stattgefunden hat. Das Instrument der Bürgerräte ist hierdurch nun auch in der Öffentlichkeit viel bekannter geworden. Und der Bürgerrat Ernährung ist aus meiner Sicht toll abgelaufen, sowohl hinsichtlich Organisation als auch in Hinsicht auf die Ergebnisse.

Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sogar Finanzierungsvorschläge zur Realisierung ihrer Empfehlungen gemacht haben, zeigt, wie sehr sie sich mit dem Thema befasst haben. Die Abstimmungsergebnisse beweisen aus meiner Sicht auch deutlich, dass hier keine Gleichschaltung von Meinungen stattfindet sondern dass bis zum Ende durchaus kontrovers diskutiert wird, was ja das Wesen demokratischer Prozesse ist.

Ergebnisse des Bürgerrates richtungsweisend“

Anand Kumar: Ich sehe die Ergebnisse des Bürgerrates als richtungsweisend an. Wie in dem Bürgerrat, an dem ich teilnehmen durfte, haben die BürgerInnen einen großen Wunsch nach Transparenz. Erschrocken hat mich etwas die Forderung nach einem kostenlosen Mittagessen für alle Kinder, denn mit meinem Wissen, wie man in einem Bürgerrat zu einer Empfehlung an die Politik kommt, kann das aus meiner Sicht nur bedeuten, dass es um die Ernährung einer sehr großen Zahl von Kindern schlecht bestellt sein muss.

Frage: Urte, Du warst Teilnehmerin des 2019 durchgeführten Bürgerrates Demokratie. Wie hast Du die Losversammlung damals erlebt und was hat das in Dir ausgelöst?

Stahl: Diese Art von „Losgewinn“ war tatsächlich besser als ein Sechser im Lotto. Allein das Kennenlernen des Instrumentes der Bürgerräte hat mir neue Wege der Demokratie aufgezeigt, mich aus der Politikverdrossenheit geholt und mich wieder zu einem politisch aktiven Menschen gemacht. Bürgerräte sind ein unverzichtbarer Baustein zur Weiterentwicklung unserer parlamentarischen Demokratie.

Vorteile haben mich überzeugt“

Die Vorteile gegenüber anderen bestehenden Instrumenten der direkten Demokratie, der üblichen Öffentlichkeitsbeteiligung und gegenüber Meinungsumfragen haben mich völlig überzeugt. Dies sind zum einen die losbasierte Zufallsauswahl, die auch bislang völlig unpolitische Menschen erreicht. Im Weiteren trägt diese Vielfalt dazu bei, dass man sich mit anderen Lebenserfahrungen und Sichtweisen zum Thema auseinandersetzt, die einem in der eigenen „Blase“ nicht begegnen. Die moderierten Diskussionsprozesse sind hierbei extrem wertvoll. Und schließlich ist die umfassende und ausgewogene inhaltliche Information ein großer Vorteil, um fundierte und abgewogene Empfehlungen geben zu können.

Frage: Anand, wegen der Corona-Pandemie fand der Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“, an dem Du teilgenommen hast, ausschließlich online statt. Was ist Dir von diesem Bürgerrat geblieben?

Kumar: Ich weiß, es hört sich fast pathetisch an, aber meine zufällige Teilnahme hat mir den Glauben an meine Mitmenschen zurück gegeben! Die Art und Weise, wie Menschen unterschiedlichster Persönlichkeiten und Meinungen miteinander arbeiten können, wenn sie ein gemeinsames Ziel mit einer Deadline haben, eben die Übergabe eines Bürgergutachtens, hat mich nachhaltig motiviert, mich wieder politisch in meiner Freizeit zu engagieren.

Solche Orte müssen wir mehr schaffen“

Eine sichere Gesprächsatmosphäre, in der jeder moderiert zu Wort kommt, solche Orte müssen wir mehr schaffen. Ich war als Jungwähler mal sehr motiviert, dann irgendwann desillusioniert und vor der Teilnahme am Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ auf dem besten Weg zum Zyniker.  

Frage: Ihr engagiert euch beide seit längerem im Forum ehemaliger Bürgerräte. Was ist dieses Forum und wie sieht eure Arbeit dort aus? Kann man bei euch mitmachen?

Stahl: Ich habe dieses Forum 2020 ins Leben gerufen, um mich zunächst mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bürgerrates Demokratie auszutauschen, zu vernetzen und zu überlegen, wie wir das Instrument als Multiplikatoren und Teilnehmer bekannter machen können.

Wir fokussieren uns vor allem auf die Bundes- und die Länderebene, da hier noch viel Aufklärungsbedarf besteht und Luft nach oben ist. Auf kommunaler Ebene haben Bürgerräte ja glücklicherweise schon viel Schwung aufgenommen und dort gibt es andere Vernetzungs- und Diskussionsforen.

Wir freuen uns über Neuzugänge“

Seit 2020 sind weitere Teilnehmer von anderen bundesweiten Bürgerräten hinzugekommen und wir freuen uns natürlich immer über Neuzugänge und Interessenten. In unseren Online-Treffen, die etwa alle vier bis sechs Wochen stattfinden, besprechen wir, was wir insbesondere durch Kommunikationsarbeit aktuell tun können.

So haben wir beispielsweise während der Koalitionsverhandlungen 2021 eine Resolution an die Fraktionen mit der Unterschrift zahlreicher ehemaliger Bürgerrats-Teilnehmer verfasst, dass Bürgerräte im Auftrag des Bundestages stattfinden sollen. Aktuell sammeln wir ebenfalls wieder Unterschriften von ehemaligen Teilnehmern, um einen Appell an die Bürgerrat-kritische CDU/CSU-Fraktion im Bundestag zu senden und mit diesen ins Gespräch zu kommen.

Positive Erfahrungen teilen“

Kumar: Ich möchte einfach meine positive Erfahrung mit möglichst vielen Menschen teilen. Da noch immer einige Politiker das Instrument Bürgerrat kritisch sehen, versuchen wir, vor allen Dingen mit solchen Entscheidern in Kontakt zu treten.

Manchmal läuft es auch darauf hinaus, sich in einem monatlichen Online-Treffen gegenseitig zu motivieren, sich weiter zu engagieren, wenn man mal wieder enttäuscht wurde.

Wir freuen uns, über jeden Teilnehmer eines Bürgerrates, der mal schauen will, was wir so machen. 

Frage: Wie sind die Reaktionen, wenn ihr mit Politikern oder Medien über Bürgerräte sprecht?

Kumar: Ich glaube, eine immer wieder geäußerte Bemerkung der Menschen, mit denen ich über das Thema rede - Politik, Medien und auch Freunde und Bekannte - ist, man könne meine Begeisterung, wenn ich von meiner persönlichen Erfahrung berichte, gut spüren. Das finde ich, ist das schönste Feedback. Diese emotionale Reaktion hat glücklicherweise auch viele Kritiker dazu gebracht, sich nochmal mit den Argumenten für Bürgerrate zu befassen.

Stahl: Die Reaktionen sind unterschiedlich, aber überwiegend gut. Als ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer und „normale Bürgerinnen und Bürger“ werden wir von Politikern und Medien anders und vielleicht wohlwollender wahrgenommen als die „üblichen“ organisierten Lobbygruppen. Insofern verstehen wir uns als Ergänzung der wichtigen Arbeit von Mehr Demokratie.

Wesen der Bürgerräte noch einmal anders vermitteln“

Mit unseren Berichten aufgrund eigener Erfahrung können wir das Wesen der Bürgerräte noch einmal ganz anders vermitteln - oft auch greifbarer und emotionaler, da viele aus unserem Kreis wirklich grundlegend vom Instrument überzeugt und begeistert sind. Und wir sind auch der lebende Beweis, dass Bürgerräte die Teilnehmenden wirklich zur konstruktiven politischen Mitarbeit aktivieren können. Auch dies ist für Politiker ein wichtiges Argument.

Frage: Welche Zukunft wünscht ihr euch für Bürgerräte?

Kumar: Ich wünsche mir einerseits mehr Bürgergutachten von gelosten Gremien zu unterschiedlichsten Themen. Allerdings wünschte ich mir auch, dass die Adressaten in der Politik die Ergebnisse solcher Gutachten in ihre Arbeit einfließen lassen.

Vorwürfe treffen auch auf Abgeordnete zu

Politiker müssen sich mal mit der Tatsache beschäftigen, dass der von ihnen teilweise geäußerte Vorwurf, Bürgerrat-Teilnehmer seien abhängig von der Art des fachlichen Inputs und hätten selbst keine eingehenden Fachkenntnisse in allen Bereichen, praktisch auch auf jedes gewählte Mitglied des Bundestages zutrifft!

Und bei aller Kritik sollen die mir bitte mal erklären, welches andere Instrument Menschen, die sich nicht mit Politik befassen und nicht mal wählen gehen, in einen politischen Prozess einbindet? Wenn ihnen ein besseres einfällt, ist das selbstverständlich willkommen!

Stahl: Ich wünsche mir, dass sie sich insbesondere auf Bundesebene und in den Bundesländern, in denen sie noch nicht praktiziert werden, fest als Instrument gesetzlich verankern und regelmäßig, das heißt mindestens einmal jährlich, durchgeführt werden. Ich wünsche mir zudem, dass die Politik die Empfehlungen der Bürgerräte als wertvolle Beratung sieht und sie eingehend auf Umsetzung prüft. Niemand sollte erwarten, dass alle Empfehlungen 1:1 umsetzbar sind, aber die Gründe hierfür sollten dann transparent erläutert werden.

Bürgerräte mit Volksabstimmungen kombinieren

Ich hoffe, dass das Vertrauen in das Instrument weiter wächst, damit zukünftig auch brisantere Themen diskutiert werden können. Und schließlich sollte der Weg irgendwann dazu führen, dass Volksabstimmungen in Kombination mit vorgeschalteten Bürgerräten auf Bundesebene stattfinden.

Über die Bürgerrat-Mitglieder

Anand Kumar ist 52 Jahre alt und lebt in Darmstadt. Beruflich arbeitet er als selbständiger Vermögensberater. In seiner Freizeit spielt er am liebsten Gitarre in zwei Bands, läuft gerne bei Volksläufen mit und versucht die Demokratie zu stärken.

Urte Stahl ist 50 Jahre alt und wohnt in Friesenheim bei Offenburg. Sie ist Landschaftsplanerin und führt Beratungen und Planungen zum Thema Biodiversität, naturnahe und klimaangepasste Freiräume durch. Hobbies sind Gärtnern, ein bisschen Sport und weitere ehrenamtliche Aktivitäten in Kirche und Naturschutzbund.

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