Bürgerrat will gleiche Bildungschancen für alle

11. Juli 2023
Bürgerrat Bildung und Lernen

Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat sich ein Jahr lang intensiv mit dem Thema Chancengleichheit auseinandergesetzt und gefragt: Wie müssen die Rahmenbedingungen aussehen, um in der Bildung echte Chancengleichheit zu schaffen? An welcher Stelle müssen Brücken gebaut und Maßnahmen organisiert werden, damit alle die Chancen auf ihrem Bildungsweg auch nutzen können? Am 10. Juni 2023 wurden die Empfehlungen an die Kultusministerkonferenz (KMK) übergeben.

Es wurden insgesamt 15 Vorschläge verabschiedet, die aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen können. Die Vorschläge sind in die Bereiche frühkindliche Bildung, allgemeinbildende Schulen und  berufliche Bildung unterteilt.

Grundsätze zur Chancengleichheit

Die Bürgerrat-Teilnehmer haben sich dabei auf Grundsätze zur Chancengleichheit geeinigt. Danach sollen alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland die Chance auf eine gute Bildung haben. Dafür könne und müsse man an vielen Stellen etwas verändern. Für diese Veränderungen müssten bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden.

Wichtig ist dem Bürgerrat dabei u.a., dass allen Bildungseinrichtungen bundesweit eine einheitliche und angemessene Grundausstattung zur Verfügung steht. Die Ausbildungsziele für Lehramt(s)studierende und pädagogische Fachkräfte sollen bundesweit einheitlich sein. Alle sollen einen barrierefreien Zugang zur Bildung haben - unabhängig von der familiären, materiellen, finanziellen Situation. Die dafür notwendige finanzielle Förderung soll gewährleistet werden.

Inklusion fördern

Inklusion soll gefördert und alle Schulformen und Ausbildungswege sollen gleich wertgeschätzt werden. Eine individuelle Förderung soll es nach dem Wunsch der Bürgerrat-Mitglieder ermöglichen, eigene Talente und Neigungen zu entdecken und auszubauen. Weil angemessene deutsche Sprachkenntnisse die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsteilhabe seien, sollen diese in allen Bildungswegen gefördert werden.

Wichtig sind dem Bürgerrat auch genügend qualifizierte Bezugspersonen wie Schulpsychologen, Sonderpädagogen und Vertrauenslehrer. Auch durch ein ausreichendes Angebot von Arbeitsgemeinschaften, Freizeitaktivitäten und Ausflügen soll Schule Teil der sozialen Heimat sein.

Einheitliches Qualitätsmanagement

Der Staat soll ein einheitliches Qualitätsmanagement gewährleistet: Das Bildungspersonal soll fachgerecht und pädagogisch aus- und weitergebildet werden, auch durch Teambuilding und kontinuierliches Coaching. Eingefordert wird ein ständiges Feedback eingefordert. Stetiger kollegialer Austausch soll auch schulübergreifend zur Norm werden.

Der Anspruch auf „Chancengleichheit“ ist im Grundgesetz verankert. Doch welche konkreten Maßnahmen müssen unternommen werden, um dem Anspruch auch tatsächlich gerecht zu werden? Mit dieser Frage hat sich der Bürgerrat Bildung und Lernen seit April 2022 vertiefend beschäftigt. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten gab es hierzu zahlreiche Online- und Präsenz-Sitzungen mit 10 bis 300 Menschen. In den Arbeitsgruppen haben diese Ideen entwickelt, eigene Erfahrungen eingebracht, Empfehlungen gemeinsam ausformuliert und über die einzelnen Ansätze intensiv diskutiert.

Bürgerrat-Tagungen in Berlin und Montabaur

Bei großen Bürgerrat-Tagungen in Berlin (September 2022) und in Montabaur (März 2023) stimmte das Plenum mit jeweils rund 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die verschiedenen Vorschläge ab. Einige erzielten eine breite Mehrheit, andere nur eine knappe. Das heißt, hier waren sich Mitglieder des Bürgerrats nicht wirklich einig. Und es gab auch Vorschläge, die durchfielen. Hier die Empfehlungen im Einzelnen:

Frühkindliche Bildung

  • Eine Offensive für frühkindliche Bildung: mehr Kitaplätze, mehr Fachkräfte, kleinere Gruppen
  • Eine kostenfreie und qualitätvolle frühkindliche Bildung von null bis zur Einschulung
  • Eine verbindliche Förderung der Sprachkompetenz in Kindertagesstätten
  • Familienzentren: Vertrauensfördernde Räume für Eltern und Kinder ausbauen
  • Eine Kitapflicht in den letzten zwei Jahren vor der Schule

Allgemeinbildende Schulen

  • Ausweitung des Fachpersonals an Schulen und damit die kontinuierliche Betreuung durch multiprofessionelle, vielseitige Teams
  • Selbstwirksamkeitserfahrung und soziale Kompetenz soll als verbindliches durchgängiges Unterrichtsprinzip und Auftrag für alle Lehrkräfte gelten
  • Verpflichtender Ganztag an drei Tagen pro Woche für Jahrgangsstuften 1 - 10
  • Mehr Geld zweckgebunden zum Wohl der Kinder einsetzen
  • Längeres gemeinsames Lernen in alters-übergreifenden fachspezifischen und an Leistungen und Interessen orientierten Gruppen bis zum 16. Lebensjahr – bei individueller Förderung

Berufliche Bildung

  • Engere Verzahnung von Schule und Betrieben aus allen Berufsfeldern
  • Individuelle Unterstützung zur Berufsorientierung spätestens ab der Mittelstufe
  • Mehr „Berufsorientierung“ mit verpflichtenden Praktika
  • Ein freiwilliges Orientierungsjahr für alle
  • Transparente finanzielle Förderung von Ausbildung und Studium für alle Berufe

Längeres gemeinsames Lernen

Viel diskutiert wurde im Bürgerrat darüber, dass Kinder in der Schule länger gemeinsam lernen sollten. Aktuell ist der Regelfall, dass sie nach der 4. Klasse eine weiterführende Schule besuchen (in Berlin findet dieser Wechsel nach der 6. Klasse statt). Eine klare Mehrheit von 62 Prozent der Bürgerrat-Teilnehmer sprach sich dafür aus, dass Kinder und Jugendliche künftig in der Regel wie in anderen Ländern bis zur Jahrgangstufe 10 gemeinsam lernen können - bei individueller Förderung sowohl für die leistungsstarken und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler.

"Chancengerechtigkeit bedeutet, dass jeder Einzelne sein maximales Lernpotenzial erreichen kann, und dafür ist die Individualisierung des Lernens von großer Bedeutung", sagt das Bürgerrat-Mitglied Dieter Schulz, 69 aus Bad Zwischenahn in Niedersachsen. "Jeder Mensch hat individuelle Vorlieben, aber auch Abneigungen, sowie Stärken und Schwächen." Es sei unerlässlich, diese Aspekte in der Bildung uneingeschränkt zu berücksichtigen, sagt der ehemalige Personalentwickler in der IT. "Es ist an der Zeit, uns von einem reinen Lehransatz hin zu einem lernerzentrierten Ansatz zu bewegen.

Gleiche Chancen für alle Kinder

Chancengleichheit in der Bildung sollte sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen die Chance auf eine guten Schulabschluss haben und so später ihren Wunschberuf anstreben können, ganz gleich, wo sie in Deutschland zur Schule gegangen sind und ob sich die Eltern diese Berufsausbildung ihres Kindes auch leisten können.

Moaz Krenba, der 2016 mit seiner Familie nach Deutschland kam, berichtete von seinen ganz persönlichen Erfahrungen während der Schulzeit: "Ein guter Schulabschluss war für mich mit einem ständigen Kämpfen verbunden. An mich und meine Potenziale hat im System Schule niemand geglaubt. Ich war von innen heraus hochmotiviert, habe mit Youtube-Videos Deutsch gepaukt und nur so konnte ich in den anderen Fächern Anschluss finden."

300 Bürgerrat-Teilnehmer

Im Bürgerrat sitzen Eltern und Schüler, Polizisten oder Berater für Biodiversität: Fast 300 zufällig ausgewählte Menschen aus der Mitte der Gesellschaft haben die Vorschläge zur Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungssystem erarbeitet. Ihre Empfehlungen liegen nun vor.

Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, die bereits mehrfach im Austausch mit Bürgerbotschaftern und Jugendbotschaftern des Bürgerrats Bildung und Lernen war, versprach, die Diskussion über das neue Programm auch im Kreis der Kultusministerkonferenz fortzuführen. "Die Perspektiven der Bürgerinnen und Bürger zum Thema Chancengerechtigkeit bieten gute Anknüpfungspunkte für das Schwerpunktthema Ganztag im Rahmen meiner KMK-Präsidentschaft."

Bürgerrat läuft seit 2020

Der Bürgerrat „Bildung und Lernen“ hatte 2020 seine Arbeit aufgenommen. Im Dezember 2021 Jahres hatte die Losversammlung bereits ihren Vorschlag für ein Sofortprogramm zur Bildungspolitik in Deutschland vorgestellt.

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