Weg frei für Bürgerräte in Belgien

11. Februar 2023
G1000

Das belgische Parlament hat am 9. Februar 2023 ein Gesetz beschlossen, das es erlaubt, auf nationaler Ebene deliberative Ausschüsse zu bilden und Bürgerräte einzuberufen. Diese Gremien sollen das Parlament bei seinen politischen Entscheidungen beraten. Die Regierung will damit die Bürger stärker in die Politik einbeziehen. Auf nationaler Ebene ist diese Regelung weltweit die erste dieser Art.

Das neue Gesetz ermöglicht es, Bürger, die keine Politiker sind und nicht unbedingt einer Partei angehören, in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen. Diese werden zufällig aus der Bevölkerung ausgelost und zur freiwilligen Teilnahme an Bürgerräten oder deliberativen Ausschüssen eingeladen. Die Bürgerräte bestehen ausschließlich aus ausgelosten Bürgern, die beim Parlament angesiedelten deliberativen Ausschüsse sowohl aus Abgeordneten als auch aus ausgelosten Bürgern.

Rechtsgrundlage für Losverfahren

Mit dem Gesetz existiert nun eine Rechtsgrundlage für die zufällige Auslosung von Bürgern aus den Einwohnermelderegistern der Gemeinden. Die auf dieser Grundlage eingeladenen Einwohner können sich für eine Teilnahme an dem Gremium bewerben, für das sie ausgelost wurden.. In einer zweiten Losrunde wird eine Bürgergruppe zusammengestellt, die nach Geschlecht, Alter, Wohnort und Bildungsniveau ein Abbild der Bevölkerung darstellt.

Bevor die deliberativen Ausschüsse oder Bürgerräte Empfehlungen formulieren, beraten sie mit Hilfe von Abgeordneten, Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft über das jeweilige Thema.

Mindestalter 18

Jeder Bürgerrat wird aus mindestens 50 und maximal 75 Teilnehmern bestehen. Für deliberative Ausschüsse gilt eine Mindestgröße von 39 Mitgliedern und ein Maximum von 51 Teilnehmern. Die Ausgelosten müssen mindestens 18 Jahre alt sein. Von einer Teilnahme ausgeschlossen sind Menschen, die auf regionaler, nationaler oder EU-Ebene Abgeordnete sind oder ein Regierungsamt innehaben. Nicht teilnehmen dürfen auch Parlamentsmitarbeiter mit bestimmten Zuständigkeiten und Richter mit bestimmten Funktionen.

"Diese Regierung setzt sich konkret für Bürgerbeteiligung ein. Unser Ziel ist es, die Bürgerinnen und Bürger stärker in die Politik einzubinden und ihnen Einblick in die politische Entscheidungsfindung zu geben. Ich bin überzeugt, dass ihre Einsichten zu innovativeren Ideen führen können und dass sie ein zusätzlicher Resonanzboden für das Parlament sein können", kommentierte Annelies Verlinden als Ministerin für demokratische Erneuerung die Entscheidung der belgischen Abgeordnetenkammer.

Das Parlament bereitet derzeit die Einrichtung eines ersten deliberativen Ausschusses oder Bürgerrates vor. Thematisch soll es u.a. um den Bericht zur Bürgerbefragung "Ein Land für die Zukunft" gehen. Der Bericht wird in Kürze der Regierung und dem Parlament vorgelegt.

Deliberative Ausschüsse in Brüssel und der Wallonie

Deliberative Ausschüsse aus Abgeordneten und gelosten Bürgern gibt es bereits in den beiden Parlamenten der Region Brüssel-Hauptstadt und in der Volksvertretung der Wallonischen Region. Während über diese Verstetigung der Zusammenarbeit von Bürgern und Abgeordneten in Brüssel bereits 2019 entschieden wurde, wurde die Einführung solcher gemischter Ausschüsse in der Wallonie erst am 2. Februar 2023 beschlossen.

In der Region Brüssel-Hauptstadt beginnt jeder deliberative Ausschuss mit einem Thema, das von mindestens 1.000 Einwohnern der Stadt unterstützt werden muss, oder durch einem Vorschlag von Abgeordneten des Regionalparlaments. Ein beratender Ausschuss besteht zu einem Viertel aus Abgeordneten, die aus dem für das gewählte Thema zuständigen Parlamentsausschuss kommen, und zu drei Vierteln aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern.

Umgang mit Empfehlungen

Die Abgeordneten des für das Thema zuständigen Ausschusses sorgen dafür, dass die Empfehlungen innerhalb von neun Monaten nach ihrer Annahme weiterbehandelt werden. Die Brüsseler Regierung hat sich ebenfalls zu einer solchen Weiterbehandlung verpflichtet. Nach neun Monaten werden die Bürgerinnen und Bürger, die am deliberativen Ausschuss teilgenommen haben, zu einem Treffen eingeladen, bei dem die ergriffenen Folgemaßnahmen vorgestellt werden. Wenn Empfehlungen nicht weiterverfolgt wurden, muss dies begründet werden.

Seit 2021 haben deliberative Ausschüsse in Brüssel Vorschläge zu fünf Themen erarbeitet: Biologische Vielfalt, die Rolle der Brüsseler Bürger in Krisenzeiten, Einführung des Mobilfunkstandards 5G, Duale Ausbildung und Obdachlosigkeit.

In der Wallonie können auf Initiative von Bürgern oder Parlament 30 zufällig geloste Einwohner zusammen mit zehn gewählten Parlamentsabgeordneten Empfehlungen für Entscheidungen des Regionalparlaments entwickeln.

Regionale und lokale Bürgerräte

Auf regionaler und lokaler Ebene haben in Belgien auch bereits zahlreiche Bürgerräte stattgefunden. Herausragend ist dabei der Bürgerdialog in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Ostbelgien. Dort formulieren geloste Bürger nicht nur Empfehlungen an das Parlament der DG. Vielmehr hat ein eigens dafür gelostes Gremium auch die Organisationsgewalt inne. So entscheidet dieser Bürgerrat auf Vorschlag aus den eigenen Reihen oder aus Bevölkerung, Parlament oder Regierung über die Themen der einzelnen Bürgerversammlungen. Seit 2019 haben vier Bürgerversammlungen über die Themen Digitale Fähigkeiten, Inklusive Bildung, Pflege, und Wohnen beraten.

Bei kommunalen Bürgerräten in Belgien ging es etwa in Arlon, Forest, Namur und der Province de Luxembourg um das Thema Klima, in Gent und Kessel-Lo um den Bereich Verkehr, in Molenbeek-Saint-Jean um die Radikalisierung junger Menschen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft und in Wichelen um eine Gemeindefusion. In Brüssel arbeitet seit dem 3. Februar 2023 ein ständiger Bürgerrat, der in wechselnder Zusammensetzung den Klimaschutz in der belgischen Haupstadt vorantreiben soll.

Vorgeschichte: Bürgergipfel 2011

Die Entwicklung hin zu mehr Losdemokratie in Belgien hat aber eine längere Vorgeschichte. 2011 konnten sich die Parteien nach der vorausgegangenen Wahl 541 Tage lang nicht über die Bildung einer Regierung einigen. Inmitten dieser politischen Krise wollte die Initiative G1000 der Demokratie mit einem Bürgerrat neues Leben einzuhauchen.

Am 11. November versammelten sich in Brüssel fast 1.000 Menschen zum „G1000 Burgertop“. Die Themen: soziale Sicherheit, die Verteilung des Reichtums in Zeiten der Krise und Einwanderung. Der G1000-Bürgergipfel wurde zum Meilenstein für die demokratische Erneuerung Belgiens. Aus dieser Initiative ist mit G1000 eine beständige Organisation geworden, die viele der Demokratie-Reformen der vergangenen Jahre angestoßen hat.

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