Prima Klima durch Bürgerräte?
Immer häufiger werden zur Bewältigung der Klimakrise Bürgerräte einberufen. Hier eine Übersicht zum Stand der Dinge in verschiedenen Ländern.
„Dieser nationale Konvent wird, wenn er gut funktioniert, der erste in einer Reihe von Konventen zu anderen Themen sein. Das Format soll zu einer dauerhaften Struktur unserer Demokratie werden.“ Diese vielversprechende Ankündigung machte der französische Ministerpräsident Edouard Philippe auch im Namen von Präsident Emmanuel Macron beim Auftakt des ersten französischen Bürgerrates am 4. Oktober 2019 in Paris. Das Thema: Klimaschutz.
Bürgerräte werden immer häufiger zur Bewältigung der Klimakrise einberufen. Unter einem Bürgerrat versteht man eine Versammlung zufällig ausgeloster Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer Zusammensetzung ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellen sollen. Deshalb werden bei der Auslosung Kriterien wie Geschlecht, Alter, Bildung, Wohnort und Migrationshintergrund berücksichtigt. Grundlage der Zufallsauswahl bilden die Einwohnermelderegister der Kommunen. Hieraus werden zufällig ausgewählte Einwohnerinnen und Einwohner angeschrieben und zur Teilnahme am Bürgerrat eingeladen. Sie können sich dann für eine Teilnahme bewerben.
Parlamente zu wenig repräsentativ
Ausgangspunkt ist das Gefühl vieler Menschen, dass die bestehenden Instrumente der Demokratie zur Bewältigung der Klimakrise nicht ausreichen und Parlamente viele Bevölkerungsgruppen wie Frauen oder junge Menschen nicht ausreichend repräsentieren.
„In Deutschland liegt die Verantwortung in den Händen einer relativ kleinen Anzahl von Abgeordneten, die von der Bevölkerung gewählt werden. In den letzten Jahrzehnten ist diese Regierungsform daran gescheitert, die Entscheidungen zu treffen, die nötig sind, um die Klimakrise und die ökologische Krise effektiv zu bekämpfen. Die vierjährigen Legislaturperioden halten Regierungen davon ab, Langzeitproblemen wie dem Klimawandel die nötige Priorität einzuräumen“, kritisiert die Bewegung Extinction Rebellion.
"Verhärtete Fronten überwinden"
"Bürgerräte können verhärtete Fronten überwinden und verschiedene Handlungsmöglichkeiten sichtbar machen, sagt die Initiative "Klimamitbestimmung", die 2020 eine von 69.863 Menschen unterstützte Petition für einen bundesweiten Klima-Bürgerrat beim Bundestag eingereicht hatte. Die wissenschaftlichen Vorträge zu Beginn eines Bürgerrates garantierten informierte Entscheidungen und die moderierten Diskussionen danach stärken den Blick für das Allgemeinwohl, wie Forscher in Irland hätten nachweisen können. “Besonders bei einem Jahrhundertthema wie dem Klimawandel brauchen wir eine große gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen wollen. Genau das kann ein Bürgerrat leisten”, meinen die Petenten von Klimamitbestimmung.
„Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass die Teilnehmenden eines Bürgerrats die Verantwortung sehr ernst nehmen. Der Austausch mit andersdenkenden Menschen bereichert die Debatte und bereitet den Boden für Empfehlungen, die wissenschaftlich fundiert und gesellschaftlich fair sind”, betonen die Initiatoren der Petition. “Während sich in anderen Formen der Bürgerbeteiligung oftmals nur bestimmte Bevölkerungsgruppen einbringen - z.B. jene, die sich das Engagement zeitlich und finanziell leisten können - spiegelt ein Bürgerrat durch die Zufallsauswahl die Vielfalt unserer Gesellschaft wider. Das steigert die Anerkennung, die ein solches Gremium in der Gesamtbevölkerung genießt. Und wenn Politiker die Breite der Gesellschaft in ihrem Rücken wissen, fühlen sie sich ermutigt, langfristige, zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen.”
Vorreiter Großbritannien
Besonders aktiv bei der Nutzung von Bürgerräten sind britische Kommunen. Vorreiter war hier der Londoner Stadtteil Camden, dessen Stadtrat sich am 7. Oktober 2019 einstimmig den Vorschlägen des dortigen Bürgerrates für kommunale Klimaschutz-Maßnahmen angeschlossen hat. Zu den 17 Vorschlägen gehört u.a. das Montieren von Solarmodulen auf so vielen Häusern wie möglich, der Bau von mehr Radwegen, autofreie Zonen und Tage, ein Pilotprojekt für ein kommunales Heizungsprogramm und die Einrichtung eines Klima-Notfall-Prüfungsausschusses, der sich aus Experten und Bewohnern zusammensetzen soll.
Ähnliche Bürgerräte gab oder gibt es es in mehr als 40 britischen Städten und Gemeinden, darunter Birmingham, Glasgow, Guernsey, Leeds, Oxford und Sheffield. Wie in Frankreich hat in Großbritannien seit Januar 2020 auch ein nationaler Klima-Bürgerrat getagt, der im September 2020 seine 50 klimapolitischen Empfehlungen veröffentlicht hat. Der spanische Klima-Bürgerrat hatte am 6. Juni 2022 seine 172 Empfehlungen der Regierung übergeben. Am 4. Juli 2022 hatte der Klimarat in Österreich seine 93 Empfehlungen vorgestellt. Weitere nationale Klima-Bürgerrat gab es in in Belgien, Dänemark, Finnland, Luxemburg und Schweden. Derzeit läuft in Norwegen ein Bürgerrat zum Thema nachhaltiger Konsum. Ein weiterer nationaler Klima-Bürgerrat ist in den Niederlanden geplant.
Zahlreiche kommunale Klima-Bürgerräte
Auf kommunaler Ebene fanden Klima-Bürgerräte u.a. statt in Amsterdam, Barcelona, Berlin, Brüssel, Budapest, Den Haag, Frankfurt/Main, Kawasaki, Krakau, Lissabon, Paris, Stuttgart und Wien, im Schweizer Kanton Genf sowie im US-Bundesstaat Washington.
Derzeit läuft ein lokaler Klima-Bürgerrat in Edermünde. In Wien befindet sich das "Wiener Klimateam" mit zufällig gelosten Bürger-Jurys in der dritten Runde. Außerdem sind in der italienischen Stadt Bozen sowie im Saarland, in den Berliner Ortsteilen Antonkiez und Nördliche Luisenstadt und in Nürnberg, Osterburg und Pinneberg solche Bürgerversammlungen zum Thema Klimapolitik geplant.
Bürgerräte ständig und global
Im belgischen Brüssel, im dänischen Kopenhagen und im italienischen Mailand gibt es die ersten ständigen Klima-Bürgerräte. Ihre Aufgabe ist es, die lokale Klimapolitik über die nächsten Jahre zu verfolgen.
2021 hatte mit der Global Assembly ein weltweiter Klima-Bürgerrat stattgefunden. Für diesen globalen Bürgerrat waren 100 Menschen aus aller Welt nach dem Zufallsprinzip ausgelost worden, um den Staats- und Regierungschefs der Welt einen Plan zur Bekämpfung des Klimawandels vorzulegen. Eine Erklärung des Bürgerrates zur Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens wurde am 1. November 2021 auf dem UN-Klimagipfel COP26 in Glasgow von Teilnehmern der Global Assembly verlesen.
Vorbild Irland
Vorbild der neuen Bürgerräte ist die Bürgerversammlung (Citizens' Assembly bzw. deren Vorläuferin Constitutional Convention) in Irland, deren Vorschläge zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und zum Abtreibungsrecht in Referenden breite Mehrheiten fanden. Dort fand 2017 auch ein Bürgerrat zum Klimawandel statt, der weitreichende Maßnahmen zum Klimaschutz empfahl.
Die Mitglieder der Citizens Assembly stimmten zu 80 Prozent oder mehr für 13 Empfehlungen zum Klimawandel. Dazu gehörten Vorschläge wie die Schaffung einer neuen Regierungsstruktur, um die Klimapolitik in den Mittelpunkt der Politikgestaltung zu stellen. Auch gab es Mehrheiten für die Erhöhung der irischen CO2-Steuer und der Besteuerung der Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft, die Irlands größter Verursacher von klimaschädlichen Gasen ist. Zu den Empfehlungen gehörte weiterhin ein weitreichender Ausbau von Fahrradwegen und öffentlichem Nahverkehr, Wiederaufforstungsmaßnahmen, der sofortige Stopp von Subventionen für den Torfabbau und die Förderung der ökologischen Landwirtschaft. Mitte 2019 mündete die Arbeit der Bürgerversammlung in einen Klimaaktionsplan, mit dem Irland seine Emissionen zwischen 2021 und 2030 um 30 Prozent senken will.
Referendum in Frankreich gescheitert
Der Klima-Bürgerrat in Frankreich hatte an sieben Wochenenden getagt. Das Ziel: Vorschläge zu formulieren, wie Frankreich seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent reduzieren kann. Präsident Macron hatte versprochen, alle Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum über Empfehlungen der „Citoyenne“ abstimmen zu lassen. Außerdem sollen Bürgerräte zur ständigen Einrichtung werden und sich auch mit anderen Themen befassen. Am 20. Juli 2021 hatte die französische Nationalversammlung ein umfassendes Gesetzespaket zum Klimaschutz verabschiedet. Darin tauchten 25 Vorschläge der Convention Citoyenne nicht auf, 19 wurden übernommen, 75 teilweise übernommen. Das Gesetzespaket sieht unter anderem den neuen Straftatbestand des "Ökozids", ein Verbot bestimmter Kurzstreckenflüge sowie Prämien beim Kauf von Elektrofahrrädern vor.
Bereits am 14. Dezember 2020 hatte Präsident Macron angekündigt, dem Vorschlag des Bürgerrates zu folgen, alle Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum über die Einfügung des Staatsziels Klimaschutz in die Verfassung abstimmen zu lassen. Dieser Vorstoß ist allerdings am 6. Juli 2021 an der Uneinigkeit zwischen Senat und Nationalversammlung über die Formulierung der Verfassungsänderung gescheitert.
Klima-Bürgerrat in Deutschland
Von April bis Juni 2021 lief in Deutschland der bundesweite Bürgerrat Klima. 160 zufällig ausgewählte Menschen kamen dort zusammen und haben über mögliche Maßnahmen zum Umgang mit der Klimakrise diskutiert. Dabei wurden sie von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft informiert. Die Teilnehmenden berieten gemeinsam, wie Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens noch erreichen kann - unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte. Die Handlungsempfehlungen des Bürgerrates sind in ein Bürgergutachten eingeflossen, das am 15. September 2021 an Spitzenpolitiker aller demokratischen, im Bundestag vertretenen Parteien übergeben wurde.
"Wir müssen neue Formen der Demokratie erfinden, das ist unerlässlich. Die repräsentative Demokratie hat gut funktioniert: Heute ist sie dazu nicht mehr in der Lage", sagte der französische Politikwissenschaftler Loic Blondiaux zum Start des französischen Klima-Bürgerrates. „Unsere Demokratien stehen vor einer Klimakrise, die gefährden könnte, dass sie Demokratien bleiben." Bürgerräte können ein Beitrag zur Rettung der Demokratie sein.