Abstimmungshilfe durch geloste Bürger
Am 18. Juni 2023 haben die Schweizer über den Klimaschutz im Land abgestimmt. In der Stadt Bellinzona haben die Stimmberechtigten dazu eine von zufällig gelosten Bürgern formulierte Abstimmungsinformation mit den wichtigsten Pro- und Kontra-Argumenten erhalten.
In der Schweiz sind Volksabstimmungen ein zentraler Pfeiler der Demokratie. Drei bis vier Mal im Jahr haben die Bürger die Möglichkeit, auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene ihre Stimme abzugeben. Damit entscheiden sie unmittelbar über wichtige politische Vorlagen.
Eine demokratische Herausforderung
Sich jeweils über zum Teil äußerst komplexe Vorlagen zu informieren und sich eine eigene Meinung zu bilden, kostet Zeit und ist für viele eine (demokratische) Herausforderung, heißt es auf der Internetseite des Demokratie-Projekts „Demoscan“.
Verschiedene Untersuchungen zeigten, dass die offiziellen Abstimmungsunterlagen für viele Stimmberechtigte zu kompliziert seien oder sie sich nicht sicher genug fühlten, um abzustimmen. Außerdem würden Abstimmungskampagnen heute emotionaler geführt, was die neutrale Meinungsbildung zusätzlich erschwere.
Stärkung der öffentlichen Meinungsbildung
Mit dem Projekt Demoscan soll die öffentliche Meinungsbildung im Vorfeld einer Volksabstimmung gestärkt werden. Demoscan bringt zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger zusammen, die möglichst repräsentativ zusammengesetzt sind. Während vier Tagen befassen sie sich intensiv mit einer Abstimmungsvorlage.
Die Befürworter und Gegner der Maßnahme tragen ihre Argumente vor und werden von den Bürgern befragt. Darüber hinaus stellen unabhängige Experten Informationen zur Verfügung und beantworten die Fragen des Gremiums.
Transparenz und Neutralität
Während des gesamten Verfahrens beraten die Diskussionsteilnehmer über die erhaltenen Informationen, die zugrundeliegenden Werte und die unterschiedlichen Perspektiven. Der Prozess wird so transparent wie möglich durchgeführt. Die Neutralität ist durch eine professionelle und unabhängige Moderation gewährleistet.
Gegen Ende verfassen die Bürger einen zweiseitigen Brief mit den wichtigsten Informationen über die Vorlage, den drei wichtigsten Argumenten für und den drei wichtigsten Argumenten gegen die Vorlage. Dieser Bürgerbrief wird anschließend der Stimmbevölkerung zur Verfügung gestellt, um sie bei der Meinungsbildung zu unterstützen.
Vorbild Oregon
Solche im Vorfeld von Volksabstimmungen eingesetzten Bürgerräte orientiert sich an einem Verfahren, das es im US-Bundesstaat Oregon von 2008 - 2016 unter dem Namen "Citizens' Initiative Review" gab. Das Verfahren ist transparent, seine Neutralität wird durch die Unparteilichkeit der Moderatorinnen und Moderatoren gewährleistet. Das Verfahren wurde bereits in mehreren US-Bundesstaaten, in Finnland und in der Schweiz durchgeführt.
Beim Demoscan-Bürgerrat in Bellinzona trafen sich 22 Bürgerinnen und Bürger an zwei Wochenenden (25./26. März und 1./2. April) zur Diskussion über das neue Bundesgesetz über Klimaschutzziele, Innovation und Stärkung der Energiesicherheit.
Informationssammlung und Bericht
"Am ersten Wochenende haben die Mitglieder des Bürgerrates die Möglichkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die Meinungen der Befürworter und Gegner des neuen Gesetzes zu hören und mit einer Expertenrunde in den Dialog zu treten", heißt es in einer Mitteilung der Stadt. "Das zweite Wochenende hingegen ist den Beratungen und der Ausarbeitung eines Berichts gewidmet, der allen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern in Bellinzona zugestellt wird, damit sie sich eine Meinung zur eidgenössischen Abstimmung bilden können".
Die Beratungen des Bürgerrates waren öffentlich. Interessierte konnten zuhören, sich aber nicht an den Diskussionen beteiligen.
Einbeziehung von Nichtwählern
Das Hauptziel von Demoscan besteht darin, "Menschen einzubeziehen, die normalerweise nicht zur Wahlurne gehen, und so das Interesse der Bürger am politischen Leben zu steigern". Dieser Ansatz ist erfolgreich. In den Städten, in denen dieses Projekt bereits erprobt wurde, waren die Menschen, die den Bericht des Bürgerrates erhalten haben, zum einen eher bereit, an der betreffenden Abstimmung teilzunehmen, und zum anderen waren sie auch besser über das betreffende Thema informiert.
Die Teilnehmer des Bürgerrates in Bellinzona waren bereits 2022 ausgelost worden. Nachdem ein erstes Anschreiben an 2.000 zufällig ausgeloste Einwohner ab 16 Jahren verschickt worden war, hatten sich 139 von ihnen für den Bürgerrat zur Verfügung gestellt. In einer zweiten Auslosung wurde eine Gruppe von 22 Teilnehmern gebildet, die durch die Berücksichtigung von Geschlecht, Alter, Bildung und politischer Einstellung ein Abbild der Bevölkerung war.
Wissenschaftliche Begleitung
Bei diesem Demoscan-Projekt hat die Stadt Bellinzona mit der Universität Genf zusammengearbeitet. Das Forschungsprojekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert und von einem Wissenschaftler-Team unter der Leitung von Professor Nenad Stojanović von der Universität Genf durchgeführt.
Das Projekt fand erstmals im November 2019 in der Stadt Sion statt. Im September 2021 gab es ein zweites Verfahren im Kanton Genf. Neben Bellinzona ist 2023 der Kanton Aargau ein weiterer Ort für das Beteiligungsverfahren. Die Verfahren in der Schweiz werden wissenschaftlich von Forschern der Universitäten Genf und Zürich begleitet. Ziel der Untersuchung ist es, die Wirksamkeit und den Nutzen von Demoscan im Schweizer Kontext zu testen.