Referenden zu Geschlechter-Gerechtigkeit gescheitert

09. März 2024

Nach einem Bürgerrat zur Geschlechtergerechtigkeit in Irland wurden am 8. März 2024 zwei Verfassungsänderungen zur Neudefinition von Familie und zur Care-Arbeit in Referenden von einer Mehrheit der Abstimmenden abgelehnt. Gegen eine Änderung der Definition von Familie votierten 67,7 Prozent. Eine Änderung des Verfassungsartikels zur Care-Arbeit stieß bei 73,9 Prozent auf Ablehnung. Die Abstimmungsbeteiligung lag bei 44,4 Prozent.

Das erste Referendum hätte bei seiner Annahme eine breitere Definition von Familie in der Verfassung verankert, "unabhängig davon, ob sie auf der Ehe oder auf anderen dauerhaften Beziehungen beruht". Das zweite Referendum zum Thema Care-Arbeit hätte, falls es angenommen worden wäre, Artikel 41.2 der Verfassung aufgehoben, der sich auf das Leben der Frau im Haus bezieht. Eingefügt worden wäre ein neuer Artikel, der anerkannt hätte, dass "die Fürsorge der Familienmitglieder füreinander aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Bindungen der Gesellschaft eine Stütze gibt, ohne die das Gemeinwohl nicht erreicht werden kann, und die Gesellschaft sich bemüht, eine solche Fürsorge zu unterstützen."

"Frauen zu lange diskriminiert"

Bei der ersten Ankündigung der Referenden am 8. März 2023 hatte Ministerpräsident Leo Varadkar erklärt, dass "Frauen und Mädchen zu lange einen unverhältnismäßig großen Teil der Care-Arbeit getragen haben, zu Hause und am Arbeitsplatz diskriminiert wurden, als Objekte betrachtet wurden oder in Angst vor häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt gelebt haben".

Kritiker hatten den Wortlaut der Änderungsvorschläge und einen Mangel an gesetzgeberischer Kontrolle bemängelt und vor unbeabsichtigten Auswirkungen gewarnt. Einige befürchteten, dass sich die Ausweitung der Definition von Familie auf die Steuer- und Staatsbürgerschaftsregeln auswirken könnte. Andere meinten, der Vorschlag, die Last der Pflege von Familienmitgliedern mit Behinderungen von der Frau auf die gesamte Familie zu verteilen, führe zu einem Streit über das Ausmaß oder die Bereitschaft des Staates, Pflegekräfte zu unterstützen. Stattdessen gelte es, auch die Betreuung ausserhalb der Familie und durch den Staat anzuerkennen und zu fördern. Die Vorsitzende der Labour Party, Ivana Bacik, sagte, die Regierung habe alternative Formulierungsvorschläge des Gleichstellungsausschusses des Parlaments ignoriert und dann eine glanzlose Kampagne geführt.

Kritiker: Formulierung ging nicht weit genug

Der Bürgerrat zur Geschlechtergerechtigkeit hatte 2022 dafür gestimmt, eine geschlechtsneutrale Formulierung zu wählen, die nicht nur symbolisch ist, sondern tatsächlich eine Bedeutung hat. Deshalb hatte der Bürgerrat eine Formulierung vorgeschlagen, die den Staat verpflichten würde, angemessene Maßnahmen zur Unterstützung der Haus- und Familienarbeit zu ergreifen, wobei er sich auf einen ähnlichen Wortlaut aus der Verfassung Südafrikas gestützt hatte. Ein Parlamentsausschuss, der eingerichtet worden war, um die Vorschläge zu prüfen, hatte dieser Formulierung zugestimmt.

Die von der Regierung formulierte Verfassungsänderung ist nach Meinung der Verfassungsrechtsexpertin Prof. Laura Cahillane „eine Enttäuschung für alle, die auf eine Reform gedrängt hatten“. Zwar wäre damit die sexistische Wortwahl ersetzt und die implizite Aussage beseitigt worden, dass die Frau an den Herd gehöre. Aber auch die neue Formulierung hätte den Staat nicht dazu verpflichten, den Menschen Unterstützung zu leisten, die die Haus- und Familienarbeit übernehmen.

Ermessensspielraum für Entscheidungsträger

„Diese Menschen können auch nach dem Referendum nicht erwarten, mit Leistungen oder Rechten für ihre wichtige Arbeit entschädigt zu werden“, so Cahillane vor der Volksabstimmung. Die Irinnen und Iren seien im Grunde nur gefragt worden, ob sie eine unwirksame Klausel mit einer veralteten und bevormundenden Ausdrucksweise durch eine neue unwirksame Klausel mit einer etwas akzeptableren Sprache ersetzen wollten.

Premierminister Leo Varadkar glaubte hingegen nicht, dass die vom Bürgerrat vorgeschlagene Formulierung zur Care-Arbeit stärker ist als der Antrag auf Verfassungsänderung, der im Referendum eingebracht wurde. "Man muss den Menschen, die man wählt, einen gewissen Ermessensspielraum für Entscheidungen dazu lassen, wie Mittel zugewiesen werden und wie das Geld ausgegeben wird, denn wenn man alles in die Verfassung schreibt, werden die Gerichte entscheiden und nicht die Menschen, die man wählt, und das ist keine gute Idee“, so Varadkar.

"Herablassende Behandlung der Bürgerrates"

Der Bürgerrat-Experte Prof. David Farrell kommentierte die Abstimmungsergebnisse auf X (früher Twitter): "Diese Niederlagen beim Referendum stellen eine Reihe von Dingen in Frage, aber ganz oben auf der Liste steht die herablassende Behandlung des Bürgerrates (und des Parlamentsausschusses zur Geschlechtergerechtigkeit) durch die Regierung. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Regierung im Fall der Referenden zur Rolle der Frau und der Care-Arbeit zum zweiten Mal die Empfehlungen eines deliberativen Verfahrens mit Bürgerbeteiligung kurzerhand verworfen hat. Der Verfassungskonvent (2012/13) wurde auf ähnliche Weise übergangen.

Wie viel Geld wurde für die Durchführung dieser schlecht konzipierten Referenden verschwendet? Wie viel Geld wurde für die Organisation der beiden deliberativen Verfahren vergeudet, deren Empfehlungen weitgehend ignoriert wurden? Wie viel Zeit/Ressourcen der Abgeordneten wurden bei diesem Debakel verschwendet? Nicht zum ersten Mal fordere ich die Regierung auf, darüber nachzudenken. Wenn Sie einen Bürgerrat einberufen, um ein Thema zu diskutieren, dann müssen Sie dessen Empfehlungen respektvoll behandeln. Die Verbindung zwischen den Empfehlungen des Bürgerrates und der Entscheidung der Regierung ist undurchsichtig und schlecht organisiert - mit dem Ergebnis, dass wir heute einen solchen Schlamassel erleben."

Mangel an Informationen

Die Bürgerrat-Expertin Prof. Jane Suiter sieht einen der Hauptgründe für die Ablehnung der Verfassungsänderungen vor allem im Mangel an Informationen für die Stimmberechtigten. In einem Interview mit Democracy International erklärte sie, dass es absehbar gewesen sei, dass die meisten irischen Bürger der Logik folgen: 'Wenn man nicht informiert ist, stimmt man mit Nein', "denn dann ist das Ergebnis der Erhalt des Status quo und die Menschen wissen, was der Status quo ist". Da der Bürgerrat zur Geschlechtergerechtigkeit aufgrund der Corona-Pandemie online durchgeführt wurde, habe er von Medien und Öffentlichkeit zu wenig Aufmerksamkeit erhalten.

Schließlich sei die Entscheidung, das Referendum am 8. März 2024 abzuhalten, sehr überstürzt getroffen worden. Die Referenden am Internationalen Frauentag durchzuführen wirke fast wie Symbolpolitik - und nicht wie ein sehr gründlich durchdachtes Verfahren, argumentiert Prof. Suiter.

45 Bürgerrat-Empfehlungen

Der Bürgerrat zur Geschlechtergerechtigkeit hatte am 2. Juni 2021 insgesamt 45 Empfehlungen an das Parlament übergeben. Der Parlamentsausschuss für Geschlechtergerechtigkeit hatte im Dezember 2022 empfohlen, den Empfehlungen zu folgen und über dazu notwendige Verfassungsänderungen ein Referendum durchzuführen.

In der Citizens' Assembly hatten 99 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger sich mit allen Aspekten der Gleichstellung der Geschlechter in Irland befasst. Die Versammlung war nach Alter, Geschlecht und Wohnort ein Abbild der irischen Gesellschaft. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Losversammlung größtenteils online durchgeführt. Die Sitzungen fanden zwischen dem 20. Januar 2020 und dem 18. April 2021 statt.

Platz der Frau-Klausel“ ersetzen

Der Bürgerrat schlägt vor, die so genannte "Platz der Frau-Klausel" in der Verfassung durch eine nicht geschlechtsspezifische Formulierung zu ersetzen, die den Staat verpflichtet, angemessene Maßnahmen zur Unterstützung der Care-Arbeit im Haushalt und in der breiteren Gesellschaft zu ergreifen. In Artikel 41 der Verfassung ist bisher zu lesen: „Der Staat erkennt an, daß die Frau durch ihr häusliches Leben dem Staat eine Stütze ist, ohne die das Gemeinwohl nicht erreicht werden kann“ und „der Staat daher bestrebt ist, dafür zu sorgen, daß die Mütter nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeit gezwungen sind, unter Vernachlässigung ihrer häuslichen Pflichten zu arbeiten".

Die Bürgerrat-Teilnehmer empfehlen auch eine Änderung des Teils von Artikel 41, der die Familie als natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft als moralische Institution anerkennt. Nach Meinung des Bürgerrates soll die Familie nicht auf die eheliche Familie beschränkt sein. Er schlägt vor in der Verfassung ausdrücklich auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Nichtdiskriminierung hinzuweisen.

Bedingungen für Pflegekräfte verbessern

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie fordert der Bürgerrat die Regierung auf, die Bedingungen für Pflegekräfte zu verbessern. Er empfiehlt eine Wahlmöglichkeit bei der Pflege und Unabhängigkeit für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie Änderungen bei der Pflegebeihilfe und bei den Renten für pflegende Angehörige. Die Regierung müsse zudem besondere Anstrengungen unternehmen, um die Sichtbarkeit von männlichen Pflegekräften zu verbessern.

Der Bürgerrat hat sich auch mit dem Thema häusliche, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt befasst. Er fordert, dass Machtdynamiken zwischen den Geschlechtern, konsensuelle sexuelle Handlungen und häusliche, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt in einem überarbeiteten Lehrplan für alle Schulen behandelt werden. Vorgeschlagen wird auch die Ernennung eines Beauftragten für Opfer/Überlebende sexueller Gewalt vor, der als unabhängiger Anwalt und Sprachrohr für Opfer/Überlebende fungiert.

Mindestlohn erhöhen

Der Bürgerrat fordert weiterhin, dass der Mindestlohn bis 2025 auf ein existenzsicherndes Niveau angehoben wird. Durch entsprechende Gesetze soll das geschlechtsspezifische Lohngefälle bis 2025 auf 9 Prozent und bis 2030 auf 4 Prozent reduziert werden - mit dem Ziel, es bis 2035 zu beseitigen.

Ein vollständig individualisiertes Sozialversicherungssystem soll die Vielfalt der heutigen Lebensumstände widerspiegeln und eine gleichberechtigte Aufteilung von bezahlter Arbeit und Pflege fördern.

Social Media-Unternehmen zur Verantwortung ziehen

Technologie- und Social-Media-Unternehmen sollen bei Online-Inhalten mit sexuelle Belästigung, Mobbing, Stalking und der Darstellung sexuell gewalttätiger oder missbräuchlicher Inhalte zur Verantwortung gezogen werden.

Bei der Kinderbetreuung fordert die Versammlung ein öffentlich finanziertes, zugängliches und reguliertes Modell der Kinderbetreuung bis zum nächsten Jahrzehnt. Der Bürgerrat empfiehlt auch, dass der Staat seinen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP), der für Kinderbetreuung ausgegeben wird, bis spätestens 2030 von derzeit 0,37 Prozent des BIP auf mindestens 1 Prozent erhöht.

Bezahlter Elternurlaub

Bezahlter Elternurlaub sollte das erste Lebensjahr eines Kindes abdecken und nicht übertragbar sein, Alleinerziehenden die gleiche Gesamtdauer wie Paaren bieten und durch höhere Zahlungen Anreize für eine stärkere Inanspruchnahme schaffen, heißt es im Bürgergutachten des Bürgerrates.

Da keine der Empfehlungen der Citizens' Assembly ohne die Unterstützung der Regierung umgesetzt werden kann, soll eine gesetzliche Stelle für die Gleichstellung der Geschlechter eingerichtet und angemessen finanziert werden. Diese soll einem Ministerium unterstellt ist, das mit der regierungsübergreifenden Koordination beauftragt werden soll.

Ja zu Geschlechterquoten im Wahlrecht

Im Bürgerrat gab es auch eine intensive Debatte über Geschlechterquoten bei Wahlen. Drei Viertel der Mitglieder unterstützen eine entsprechende Änderung des Wahlrechts.

Die Bürgerrat-Mitglieder wollen baldige Veränderungen sehen, sagt Dr Catherine Day, Vorsitzende der Losversammlung. Das derzeitige Tempo der Veränderungen sei zu langsam. Viele Gremien seien nicht repräsentativ für die irische Gesellschaft, da dort nicht genug Frauen vertreten seien.

Bahnbrechende Empfehlungen“

Nach Meinung der Direktorin des National Women's Council of Ireland hat der Bürgerrat den irischen Frauen einen großen Dienst erwiesen und "bahnbrechende Empfehlungen" gemacht. Die Empfehlungen „senden ein starkes und klares Signal an die Regierung, dass die Gleichberechtigung der Frauen im Zentrum unserer Institutionen stehen muss", so Orla O'Connor.

Am 15. Dezember 2022 hatte der Parlamentsausschuss für Geschlechtergerechtigkeit seinen Bericht und seine Empfehlungen für eine Verfassungsänderung vorgestellt. Der Ausschuss vertritt darin die Auffassung, dass die 45 Empfehlungen des Bürgerrates als Blaupause für die Verwirklichung eines geschlechtergerechten Irlands zu betrachten sind. Er hat sich daher auf die Frage konzentriert, wie deren Umsetzung am besten gewährleistet werden kann.

Referenden zur Verfassungsänderung empfohlen

Der Ausschuss hatte insbesondere einen präzisen Wortlaut für die Änderung der Artikel 40.1 und 41 der irischen Verfassung erarbeitet und die Regierung aufgefordert, 2023 ein dazu erforderliches Referendum durchzuführen. Die vorgeschlagenen Änderungen des Artikels 40.1 würden den Wunsch des Bürgerrates nach einer verfassungsmäßigen Anerkennung des Grundsatzes der Gleichstellung der Geschlechter sowie der Grundsätze der Gleichheit und Nichtdiskriminierung widerspiegeln. Die vorgeschlagenen Änderungen des Artikels 41 würden die derzeitige sexistische Formulierung im Text streichen, die sich ausschließlich auf Frauen und Mütter bezieht, die ein "Leben" und "Pflichten" im Haushalt haben.

Durch die vorgeschlagenen Änderungen würde eine geschlechtsneutrale Sprache eingeführt, um sicherzustellen, dass die Rolle der Care-Arbeit vom Staat anerkannt, geschätzt und unterstützt wird. Die vorgeschlagenen Änderungen würden auch eine umfassendere Definition von "Familie" gewährleisten, die über die auf der Ehe basierende Familie hinausgeht. Änderungen der irischen Verfassung müssen immer per Referendum von den Bürgerinnen und Bürgern beschlossen werden.

Empfehlungen zu einer Reihe weiterer Maßnahmen

Neben den Verfassungsänderungen enthält der Bericht auch umfassende Empfehlungen zu einer Reihe weiterer Gleichstellungsmaßnahmen. Darunter fallen Vorschläge zu Kinderbetreuung, Pflege und sozialer Sicherheit, zu Maßnahmen gegen häusliche, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, zur Rolle der Bildung bei der Infragestellung geschlechtsspezifischer Normen und Stereotypen, zu den Auswirkungen von Gehältern und Arbeitsbedingungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern, zu der Frage, wie die Gleichstellung von Frauen und Männern in Führungspositionen, in der Politik und im öffentlichen Leben erreicht werden kann, und zu der Frage, wie der Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern durch Recht und Politik geschützt werden kann.

Mehr Informationen: