"Kreativ nach Lösungsansätzen suchen"

30. Juni 2021
David Hagemann

Seit 2019 gibt es in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien die weltweit erste ständige Losversammlung, den "Bürgerdialog". Bürgerinnen und Bürger werden hier nicht nur einmal oder hin und wieder zur Beratung aktueller politischer Fragen ausgelost, sondern regelmäßig per Losverfahren in die Politik der autonomen Region mit dem Status eines Bundeslandes einbezogen. Anna Stuers beantwortet als ständige Sekretärin des permanenten Bürgerdialogs Fragen zu Verfahren und Praxis der Losdemokratie in Ostbelgien.

Frage: Frau Stuers, seit 2019 wird die Losdemokratie mit dem Bürgerdialog Ostbelgien als ständiges Instrument zur Bürgerbeteiligung genutzt. Wie kam es dazu?

Anna Stuers: In den vergangenen Jahren hat das Vertrauen in die öffentliche Beschlussfassung offensichtlich gelitten. Der permanente Bürgerdialog in Ostbelgien soll etwas daran ändern: Auf der einen Seite soll die Beteiligung des Bürgers an der Politikgestaltung in der Deutschsprachigen Gemeinschaft ausgebaut und dauerhaft etabliert werden.

Durch die verstärkte Einbindung der Bürger soll auf der anderen Seite aber auch deren Verständnis für die politischen Entscheidungsprozesse gefördert werden. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass das Vertrauen der Bürger in die öffentliche Beschlussfassung gefestigt wird und somit letztendlich auch die demokratischen Institutionen gestärkt werden.

Einen ersten Schritt in diese Richtung hat das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft bereits im Herbst 2017 getan, als es - als eine Art Pilotprojekt - einen Bürgerdialog zum Thema „Kinderbetreuung” organisierte. Bestärkt durch die positiven Echos der Beteiligten entstand die Idee, aus dieser einmaligen Initiative etwas Beständigeres zu machen.

Im Frühjahr 2018 wurde die in der Organisation von Bürgerprozessen erfahrene Gruppierung „G1000” kontaktiert, um die Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Idee zu erörtern. Im Sommer 2018 trafen sich auf Einladung der „G1000” und der „Stiftung für zukünftige Generationen” namhafte belgische und internationale Experten, um nach Gesprächen mit Vertretern der Parlamentsfraktionen ein Modell der permanenten Bürgerbeteiligung auszuarbeiten - das sogenannte "Ostbelgien-Modell".

Auf Grundlage dieses Modells arbeitete das Parlament einen Dekretvorschlag aus und verabschiedete im Februar 2019 das „Dekret zur Einführung eines permanenten Bürgerdialogs in der Deutschsprachigen Gemeinschaft“. Bürgerbeteiligung in Ostbelgien hat somit eine eigene Gesetzesgrundlage.

Im September 2019 begann das Parlament mit der Umsetzung: Der erste Bürgerrat wurde eingesetzt und nahm seine Arbeit auf.

Frage: Was ist das Besondere am Bürgerdialog in Ostbelgien?

Stuers: Das Besondere am Bürgerdialog in Ostbelgien ist, dass er „permanent“ ist: Im Gegensatz zu vielen anderen Projekten weltweit, ist der Bürgerdialog in Ostbelgien keine punktuelle Veranstaltung. Bürgerbeteiligung ist seit 2019 in Ostbelgien institutionalisiert. Das äußerst sich durch eine eigene gesetzliche Grundlage, ein eigenes Budget und eigenes in der Parlamentsverwaltung angestelltes Personal. Neben den „Bürgerversammlungen“, die punktuell nach der deliberativen Methode tagen, gibt es ein permanentes Gremium – der sogenannte „Bürgerrat“: Er trifft sich etwa monatlich und hat neben den Vorbereitungen der Bürgerversammlungen die wichtige Aufgabe, die Umsetzung der Bürgerempfehlungen durch die Politik nachzuverfolgen.

Frage: Die ersten beiden Bürgerversammlungen haben sich mit den Themen Pflege und Inklusion befasst. Wie bewerten Sie die Qualität der Ergebnisse und wie ist der Stand der Umsetzung der Empfehlungen?

Stuers: Leider hat die Corona-Pandemie uns daran gehindert, unseren ursprünglichen Zeitplan einzuhalten. Deshalb konnten wir noch keinen Durchlauf abschließen und haben auch noch keine Erfahrungswerte, was die Umsetzung der Bürgerempfehlungen durch die Politik betrifft.

Die Idee der Bürgerversammlungen ist, dass Bürger kreativ nach Lösungsansätzen suchen können, während Politiker bestimmten Zwängen unterliegen (sie möchten wieder gewählt werden, sie müssen ihrer Parteipolitik treu bleiben). In diesem Sinne sind Bürgerempfehlungen ein interessanter Denkansatz. Das hat sich auch in unseren beiden ersten Durchläufen zu den Themen „Pflege“ und „Inklusive Bildung“ bestätigt: Die Bürger haben jeweils eine lange Liste an kreativen Empfehlungen ausgearbeitet, mit deren Umsetzung sich die Politiker zurzeit beschäftigen.

Voraussichtlich im Januar 2022 werden wir Rückblick halten, inwiefern die ersten Bürgerempfehlungen zum Thema „Pflege“ tatsächlich umgesetzt worden sind. Dann können wir hoffentlich auch erste Schlüsse ziehen.

Frage: Wie bewerten die Ausgelosten die Teilnahme am Bürgerdialog und wie stehen Parlament und Regierung dazu?

Stuers: Die gesetzliche Grundlage ist ja 2019 einstimmig verabschiedet worden. Deshalb steht die Politik dem Projekt positiv gegenüber. Das Parlament ist ja schließlich auch Initiator.

Die Teilnehmer sind bisher laut Umfragen äußerst zufrieden: Sie finden es interessant, sich in ein - oft anfangs völlig unbekanntes - Thema einzuarbeiten, mit Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen zusammenzutreffen und einen Einblick in die Politik zu erhalten. Viele haben sogar angegeben, dass der Bürgerdialog ihr Vertrauen in die Politik und in die demokratischen Institutionen (wieder) gestärkt hat. Das ist ein tolles erstes Ergebnis, weil ja genau das auch das Ziel des Bürgerdialogs ist. Dennoch muss man diese ersten Schlussfolgerungen mit Vorsicht genießen: Schließlich haben wir - wie bereits erwähnt - noch keinen Durchlauf abgeschlossen und eine Auswertung hinsichtlich der Umsetzung der Bürgerempfehlungen steht erst noch aus.

Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Stuers: Zurzeit läuft schon die dritte Bürgerversammlung an: Der Bürgerrat ist dabei, das Diskussionsthema auszusuchen und im Oktober beginnen dann voraussichtlich die ersten Sitzungen. Parallel dazu wird die Umsetzung der bereits formulierten Bürgerempfehlungen durch die Politik nachverfolgt. Der Bürgerrat fragt dazu regelmäßig bei Parlamentsausschüssen und Regierung nach dem Stand der Dinge.

Es ist uns wichtig, dass die Empfehlungen nicht einfach so im Sande verlaufen. Sonst hat die ganze Arbeit der Bürger ja kaum etwas gebracht. Deshalb ist auch in der gesetzlichen Grundlage festgehalten, dass die Politik Stellung zur möglichen Umsetzung beziehen muss. Sollte die ein oder andere Empfehlung nicht umgesetzt werden, muss die Politik zumindest begründen, warum nicht. Das ist ein wichtiger Aspekt unseres Projektes.

Frage: Was würden Sie aus Ihren Erfahrungen heraus für die Entwicklung der Losdemokratie in anderen Ländern raten?

Stuers: Ich sehe mich nicht in der Lage, andere zu beraten. Schließlich haben wir selbst noch kaum Erfahrung und ich kann nur aus unserem Kontext heraus sprechen. Mir liegt Bürgerbeteiligung insgesamt aber sehr am Herzen. Deshalb wünsche ich mir, dass Initiatoren von solchen Projekten Bürgerbeteiligung nicht nur als „Modeerscheinung“ betrachten, sondern Wert darauf legen, qualitativ hochwertige Konzepte zu entwickeln, damit Bürgerbeteiligung nicht nur stattfindet sondern auch gelingt.

Hintergrund: Die 1973 gegründete Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) ist neben der Französischen und der Flämischen Gemeinschaft eine der drei Gemeinschaften des Königreichs Belgien und somit ein Gliedstaat des belgischen Föderalstaates. Die Gemeinden der DG liegen im Osten der Provinz Lüttich in der Wallonischen Region. In der DG leben rund 78.000 Menschen.

Mehr Informationen: Bürgerdialog in Ostbelgien