Bürger-Ideen für die Energiewende
In Freiburg hat der erste kommunenübergreifende Bürgerrat Deutschlands am 20. September 2022 Empfehlungen zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien in der Region Freiburg vorgelegt. 91 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger hatten am „Klimabürger:innenrat Region Freiburg“ teilgenommen. Dabei hatten sie 48 Vorschläge zum Klimaschutz formuliert.
Für das Handlungsfeld Windkraft empfehlen die Bürgerinnen und Bürger so etwa die sofortige Nutzung aller im Windatlas Baden-Württemberg ausgewiesenen Flächen für den Bau von Windrädern. Über den Windatlas können Flächen gefunden werden, die aufgrund der dort herrschenden Windverhältnisse für den Bau von Windkraftanlagen geeignet sind.
Versiegelte Flächen für Solarenergie nutzen
Im Bereich Solar auf Freiflächen bekam eine Empfehlung des Klima-Bürgerrates die meiste Unterstützung, mit der die kommunale, regionale, Kreis- und Landesebene aufgefordert wird, jegliche versiegelte Freifläche umgehend auf eine Eignung für die Solarstromgewinnung zu überprüfen und alle möglichen Flächen zu nutzen.
Auch wünschen sich die Bürgerrat-Teilnehmer, dass Industrieabwärme mittels Fernwärme für nahegelegene Wohngebiete und andere Energieabnehmer genutzt wird. Zudem sollen bei zukünftigen Bauten in der Region Plus-Energie-Standards angestrebt werden. Auf dem Gebäude uns seinem Gelände wird dabei etwa durch die Nutzung der Energie der Sonne mehr Energie gewonnen, als von außen etwa in Form von Strom, Gas, Heizöl oder Holzbrennstoffen bezogen wird. Auch über Speichermöglichkeiten für erneuerbare Energien und Organisationsformen der Energiewende haben sich die Bürgerrat-Mitglieder Gedanken gemacht.
„Basisdemokratische Formate“
Ein geeigneter Wissenstransfer soll den Rahmen für den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Region bilden. Die Bürgerrat-Mitglieder empfehlen, dass die Gemeinden analoge und digitale Informations- und Diskussionskanäle schaffen. Der Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch mit dem Ziel 100 % erneuerbare Energien bis 2030 soll hierdurch ermöglicht werden. In diesem Zusammenhang empfehlen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Klima-Bürgerrates die “Etablierung von basisdemokratischen Formaten, um Meinungen und Empfehlungen einzuholen” und verweisen dabei auf das Beispiel ihres eigenen Bürgerrates.
Der Klima-Bürgerrat bestand aus Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt Freiburg sowie der 15 umliegenden Gemeinden Au, Bollschweil, Buchenbach, Elzach, Emmendingen, Freiburg, Gundelfingen, Horben, Kirchzarten, Merzhausen, Müllheim, Neuenburg, Oberried, Schallstadt, Stegen und Wittnau. Per Gemeinderatsbeschluss hatten sich die Kommunen aus den Landkreisen Breisgau-Hochschwarzwald und Emmendingen sowie die Stadt Freiburg im Herbst 2021 für die Beauftragung eines regionalen Klima-Bürgerrates entschieden. Die Beschlüsse gingen zurück auf die Überzeugungsarbeit der Initiative „Bürger:innenrat Region Freiburg“.
Abbild der Bevölkerung
Die Bürgerrat-Teilnehmer waren von Mai bis Juli 2022 zu fünf Sitzungen zusammengekommen. Für Durchführung und Organisation war die Allianz für WERTEorientierte Demokratie (AllWeDo) verantwortlich. 4.000 Einwohner der 16 beteiligten Kommunen waren zufällig über die Einwohnermelderegister der Gemeinden ausgelost und zur Bewerbung für eine Teilnahme am Bürgerrat eingeladen worden.
Auf Basis der daraufhin eingegangenen Bewerbungen hatte AllWeDo 91 Menschen zum Mitmachen eingeladen, die die Bevölkerung Baden-Württembergs nach den Merkmalen Alter, Geschlecht, Bildungs- und Migrationshintergrund möglichst gut abbilden sollten. Das gelang jedoch nicht bei allen Kriterien. So lag der Anteil von Menschen mit Hauptschul- oder ohne Schulabschluss nur bei 17,7 Prozent statt der angepeilten 39,6 Prozent. Menschen mit Migrationshintergrund machen 34,2 Prozent der Bevölkerung der Region aus, waren im Bürgerrat aber nur mit einem Anteil von 19 Prozent vertreten. Begründet werden diese Defizite mit einem Mangel an Geld und Personal.
Mehr Demokratie: Bessere Finanzierung notwendig
Nach Meinung von Sarah Händel, Landegeschäftsführerin des Vereins "Mehr Demokratie" in Baden-Württemberg, hätte eine bessere Finanzierung durch die Gemeinden eine stärkere aufsuchende Beteiligung ermöglichen können. Dabei werden Menschen, die sich nicht von sich aus für einen Bürgerrat bewerben, direkt zu Hause aufgesucht, um eventuelle Hürden zu überwinden und zur Teilnahme zu ermutigen. Damit werden insbesondere die Bürger erreicht, die auch anderen Beteiligungsverfahren und Wahlen fernbleiben. „Dass ein so innovativer Prozess der Beteiligung so wenig Öffentlichkeit erfahren hat, ist bedauerlich“, so Händel. Hier wären mehr Ressourcen für die interkommunale Öffentlichkeitsarbeit wichtig gewesen, um die breite Bevölkerung miteinzubeziehen und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die guten Ergebnisse am Ende auch umgesetzt werden.
Mit dem Bürgerrat sei es trotzdem gelungen, ganz neue Zielgruppen zu erreichen, betonte die konzeptionelle Leiterin Marina Leibfried. Bei einer Befragung hätten die Teilnehmer erklärt, zuvor nicht engagiert gewesen zu sein. Auch Stefan Falk aus Elzach und Carola Sauerland haben noch nie an Bürgerbeteiligungsprozessen teilgenommen: Die beiden waren zwei der insgesamt 91 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger.
Arbeit im Bürgerrat hat "aufgerüttelt"
Die Arbeit im Bürgerrat habe sie „aufgerüttelt“, sagte Carola Sauerland, und „einen Schalter umgelegt“: Sie könne nun die Augen nicht mehr verschließen und werde sich weiterhin für mehr Klimaschutz engagieren - auch um der kommenden Generation eine bessere Welt zu hinterlassen. Das war auch eine Motivation von Stefan Falk, der Vater von vier Kindern ist. Er lobte den demokratischen Prozess des Bürgerrats und sieht derartige Gremien keinesfalls als Konkurrenz zu den Gemeinderäten, sondern als Ergänzung.
Die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger wurden in 25 Vorträgen von Expertinnen und Experten in das Thema Energiewende eingeführt. Anschließend fanden in Kleingruppen moderierte Diskussionen über das Gehörte statt. Diskutiert wurde über die Themen „Solar an und auf Gebäuden“, „Solar auf Freiflächen“, „Windkraft“, „Energieeinsparung“ und „Weitere Erneuerbare Energien“, wie Wasserkraft, Biomasse und Erdwärme. Auch übergeordnete Querschnittsthemen wie Fachkräfte, Kommunikation und Organisationsformen der Energiewende, wie Bürgergenossenschaften, wurden beleuchtet.
Prozess durch Beirat begleitet
Ein breit besetzter Beirat hatte den Prozess begleitet und die Experten vorgeschlagen. Marina Leibfried ist überzeugt, dass dies entscheidend zur Prozessqualität beigetragen hat: “Viele Menschen haben mitgedacht, damit der Bürgerrat gut wird. Auch die Teilnehmenden konnten sich Experteninputs wünschen.”
In den folgenden Monaten haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Klima-Bürgerrates die Ergebnisse ihrer Beratungen in den Gemeinderatssitzungen aller 16 teilnehmenden Kommunen vorgestellt.
Treffen der Strategiegruppe
Mit der Vorstellung der Handlungsempfehlungen des Bürgerrates ist das Verfahren jedoch noch nicht abgeschlossen. Im November 2022 führte die Initiative Klimabürger:innenrat Region Freiburg das erste Klimagespräch am Standort Emmendingen durch. Mehr als 100 Menschen kamen dort zusammen, um über die Ergebnisse des Prozesses zu sprechen. Darunter Bürger, die aktiv am Projekt teilgenommen hatten, Politiker, Kommunalverwaltungen, aber auch viele Interessierte, die auf den Bürgerrat aufmerksam geworden waren.
Am 20. Dezember 2022 gab es ein Strategietreffen mit den beteiligten Kommunen, an dem fast alle Gemeinden teilnahmen, um darüber zu sprechen, wie die Region mit den 48 Empfehlungen des Gutachtens weiter verfahren wird. Was deutlich wurde: Die Kommunen setzen sich ambitionierte Ziele als Selbstverpflichtung und werden die Empfehlungen priorisieren, auf regionale Umsetzbarkeit prüfen, wie auch Schritte unternehmen, um zu klären, was es braucht, um höhere politische Ebenen und weitere Akteure einzubinden.
Bürgerrat-Teilnehmer wurden aktiv
Am 13. März 2023 folgte das zweite Strategietreffen, zu dem der Beirat des Klima-Bürgerrates, Expertinnen und Experten aus dem Bürgerrat-Verfahren, Engagierte aus der Initiative Klimabürger:innenrat Region Freiburg und dem Klima-Bürgerrat selbst, aber auch Vertreter weiterer Initiativen und der Kommunen vor Ort waren. Dieses Treffen hatte ebenfalls eine große Bedeutung, da unter Ladung zahlreicher für das Verfahren wichtiger Akteure weiter an den Empfehlungen gearbeitet arbeiten konnte, die nicht (allein) kommunal umsetzbar sind.
Ende 2022 kam an mehreren Stellen der Wunsch auf, selbst aktiv zu werden. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerrates wurden gemeinsam aktiv, u.a. zum Thema Solarenergie. Drei Initiativen arbeiten an eigenen Projekten.
Zudem fanden sogenannte Bürgercafés statt, in denen über die Empfehlungen ein Austausch zwischen Bürgerschaft und Gemeinderäten stattfand. Im Rahmen der Strategiegruppe und der Bürgercafés sollten Umsetzungsmöglichkeiten und Herausforderungen zunächst ausfindig gemacht und dann in der Region angegangen werden. 2023 gab es zudem weitere Klimagespräche - diesmal mit zufällig gelosten Teilnehmerinnen und Teilnehmern - in Freiburg und im Hexental (Merzhausen).
Vorschläge für städtischen Haushalt
Für den Doppelhaushalt 2023/24 der Stadt Freiburg konnten Vorschläge eingebracht werden. Insgesamt acht Empfehlungen, die dem Gutachten des Klima-Bürgerrates entlehnt sind, fanden sich im Beteiligungsportal wieder, mehrere davon im engeren Kreis der späteren Priorisierung. Eine der Empfehlungen erreichte hierbei sogar den ersten Platz: "Solar- und Windkraft ausbauen und Gewinne fair-teilen - durch eine städtische Investitionsgesellschaft mit Bürgerbeteiligung“. Zwei weitere finden sich ebenfalls unter den ersten 15 Vorschlägen.
2023 erschien aufgrund der mit dem Klima-Bürgerrat gemachten Erfahrungen die Publikation "Der Bürgerrat PLUS - ein Bürgerrat mit Umsetzungsbegleitung". Die Fragestellung: Wie können wir Bürgerräte (und Beteiligung allgemein) weiterdenken, damit es nicht bei den Empfehlungen stehen bleibt? Wie können wir die unterschiedlichen Säulen der Demokratie besser verzahnen? Wie können wir unsere demokratische Handlungsfähigkeit stärken?
Bürgerrat ausgezeichnet
2023 wurde der Klima-Bürgerrat für den Freiburger Klimaschutz / Umweltpreis 2023 als eines von 14 Projekten ausgewählt. Vorher hatte die Initiative Klimabürger:innenrat Region Freiburg bereits den RENN Preis im Projekt Nachhaltigkeit 2022 und danach auch den Statsanzeiger Award 2022 für ihr Engagement erhalten.
Am 28. November 2023 wurde der Klima-Bürgerrat mit der Auszeichnung "Gute Bürgerbeteiligung" geehrt. Ausgezeichnet werden damit kommunale Akteure (insbesondere Städte, Gemeinden und Kreise) für qualitativ hochwertige Beteiligungsverfahren. Die Auszeichnung erhalten herausragende Projekte, die als Beispiel für gute Bürgerbeteiligung dienen können.
Vierter kommunenübergreifender Klima-Bürgerrat
Der Klimabürger:innenrat Region Freiburg war international der vierte kommunenübergreifende Klima-Bürgerrat. Am 24. Mai 2022 hat der Regionalrat des aus neun Kommunen bestehenden französischen Gemeindeverbandes Est Ensemble zahlreiche Empfehlungen des dortigen Klima-Bürgerrates übernommen und beschlossen.
Der Bürgerrat hatte von September 2021 bis Januar 2022 getagt. 100 zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger aus der Region hatten sich an fünf Wochenenden getroffen, um konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels vorzuschlagen. Nur zwölf der 220 vom Bürgerrat eingebrachten Vorschläge wurden vom Regionalrat nicht angenommen.
Klima-Bürgerräte ähnlicher Art gab es außerdem in den englischen Bezirken Borough of Barrow-in-Furness und Warwick sowie in Nordengland, wo es um Klimawandel und soziales Wohnen ging. Großbritannien ist mit mehr als 40 lokalen Klima-Bürgerräten das Land mit den meisten Losversammlungen zu diesem Thema. Hinzu kommen Bürgerversammlungen zum Klimaschutz in Schottland und für ganz Großbritannien. Weltweit hat der Verein „Mehr Demokratie“ bisher mehr als 150 Klima-Bürgerräte gezählt.