„Ein unglaubliches Instrument“

27. März 2022

Während in Bürgerräten üblicherweise nur dafür zufällig ausgeloste Menschen sitzen, arbeiten in den Parlamenten der Region Brüssel Abgeordnete mit gelosten Bürgerinnen und Bürgern in eigenen Parlamentsausschüssen zusammen. Magali Plovie, Präsidentin des französischsprachigen Parlaments der Region Brüssel, erklärt, wie es dazu kam und beschreibt die ersten Erfahrungen damit.

Frage: 2019 haben die beiden Brüsseler Parlamente beschlossen, gemischte Ausschüsse einzuführen, die sich aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern und gewählten Abgeordneten zusammensetzen. Wie kam es dazu?

Magali Plovie: Ich war 2013 und 2014 für einige Monate Parlamentsabgeordnete. Diese erste Berührung mit dem Parlament hat bei mir zahlreiche Fragen zu unserem demokratischem System aufkommen lassen. Zur gleichen Zeit habe ich David van Reybroucks Buch "Gegen Wahlen" gelesen, das mich tief beeindruckt hat.

Da ich von Juli 2014 bis 2017 nicht mehr im Parlament war, habe ich beim Service de Lutte contre la Pauvreté (Abteilung für Armutsbekämpfung) gearbeitet, einem föderalen Dienst, der Berichte und Analysen zur Armut auf der Grundlage der Aussagen von Menschen herausgibt, die in großer Armut leben. Ich erwähne diesen beruflichen Abschnitt, weil die Erfahrungen, die ich mit armen Menschen gemacht habe, für die Entwicklung des Verfahrens der beratenden Ausschüsse von entscheidender Bedeutung waren, insbesondere im Hinblick auf die Zugänglichkeit der Politik für alle Menschen, auch für diejenigen, die von der Bürgerbeteiligung am weitesten entfernt sind.

Ergebnis eines Workshops

Zur gleichen Zeit hat die Ecolo-Partei (Grüne) ein umfassendes Projekt zur Verbesserung der Demokratie durchgeführt, an dem ich beteiligt war. Es wurde ein Tag organisiert, an dem mit der Zivilgesellschaft an der Formulierung von demokratischen Ideen und Projekten gearbeitet werden sollte. Eine der drei wichtigsten Empfehlungen dieser Workshops war die Einrichtung von gemischten Ausschüssen aus Bürgern und Abgeordneten; der Ansatz, der für die beratenden Ausschüsse gewählt wurde.

Als ich 2017 ins Brüsseler Parlament zurückgekehrt bin, habe ich einen Regelungsvorschlag eingereicht, um beratende Ausschüsse einzurichten, in denen Abgeordnete und zufällig ausgewählte Menschen zusammenkommen. Aus verschiedenen Gründen konnte dieser Vorschlag in dieser Legislaturperiode nicht verabschiedet werden, insbesondere weil die ursprünglich vorgesehene Machtteilung zwischen Abgeordneten und Bürgern gegen die Verfassung verstieß und auch weil nur wenige Abgeordnete bereit waren, den Schritt zur Einbeziehung von Bürgern in die Arbeit des Parlaments zu gehen.

Entscheidung 2019

2019 kam Ecolo an die Regierung und sah in der Koalitionsvereinbarung mehr Mitbestimmung vor. Ich wurde erneut in das Brüsseler Parlament gewählt und wurde auch Präsidentin des französischsprachigen Brüsseler Parlaments. Die Erneuerung der Demokratie ist eine meiner Prioritäten also habe ich mich mit einem Team umgeben, das über anerkanntes Fachwissen in dieser Frage verfügt. Ich habe sehr schnell einen überarbeiteten Regelungsvorschlag eingebracht, der darauf abzielte, die beratenden Ausschüsse in die Geschäftsordnung der beiden Parlamente aufzunehmen.

Diesmal ermöglichte die veränderte politische Lange die Annahme des Antrags. Die tiefgreifend erneuerten Parlamente waren in einer für Beteiligungsprozesse günstigeren Stimmung. Der Antrag wurde Ende 2019 beschlossen. Es hat ein Jahr gedauert, bis alles vorbereitet war und der erste beratende Ausschuss im Mai 2021 seine Arbeit aufnehmen konnte.

Frage: Wie werden die beratenden Ausschüsse gebildet und wie funktionieren sie? Was passiert mit den Entscheidungen, die dort getroffen werden?

Plovie: Jeder beratende Ausschusses beginnt mit einem Thema, das aus einem Bürgervorschlag hervorgehen kann, der von 1.000 Einwohnern der Stadt Brüssel über 16 Jahren unterstützt wird, oder durch einem Vorschlag von Brüsseler Abgeordneten.

Nach der Entscheidung des Parlaments, sich mit einem Thema zu befassen, findet eine erste Auslosung statt, die ohne Kriterien und auf der Grundlage der Liste der Einwohner von Brüssel über 16 Jahre erfolgt. 10.000 ausgeloste Personen erhalten ein Schreiben, in dem sie zur Teilnahme am beratenden Ausschuss eingeladen werden. Diese Personen müssen sich beim Parlament, über das Internet oder eine gebührenfreie Telefonnummer registrieren lassen, um an der zweiten Auslosung teilzunehmen. Für letztere werden bestimmte Kriterien vorgeschrieben: Geschlecht, sozioökonomisch, geografisch, und so weiter.

Ausschuss-Arbeit in drei Phasen

Der beratende Ausschuss besteht zu einem Viertel aus Abgeordneten, die aus dem für das gewählte Thema zuständigen Parlamentsausschuss kommen, und zu drei Vierteln aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern.

Der Ablauf ist in drei Phasen gegliedert. Die erste Phase ist informationsorientiert, mit Informationsmaterial, aber auch mit Expertenanhörungen. In der zweiten Phase geht es um die Beratung von Empfehlungen. Die Diskussionen darüber finden abwechselnd in Kleingruppen von acht Personen und in der gesamten Gruppe statt. Diese Gruppen werden von Moderatoren begleitet, deren Aufgabe es ist, allen die Möglichkeit zu geben, das Wort zu ergreifen, ohne zu dominieren, und mit Respekt für jeden Einzelnen.

Abgeordnete haben das letzte Wort

Da die beratenden Ausschüsse nach der Geschäftsordnung des Parlaments wie ein Parlamentsausschuss behandelt werden, stimmen die Bürgerinnen und Bürger vor den Abgeordneten ab und haben eine beratende Stimme. Grund der Unterscheidung ist eine Einschränkung durch die Verfassung, die vorschreibt, dass die Abgeordneten das letzte Wort haben müssen, da die Verfassung eine repräsentativen Demokratie vorsieht.

Wir haben versucht, diese Ungleichheit zwischen Abgeordneten und Bürgern durch verschiedene Begründungspflichten und die Verpflichtung der Bürger, vor der Abstimmung der Abgeordneten abzustimmen, so weit wie möglich zu begrenzen.

Die Abgeordneten des für das Thema zuständigen Ausschusses sorgen dafür, dass die Empfehlungen innerhalb von neun Monaten nach ihrer Annahme weiterbehandelt werden. Die Brüsseler Regierung hat sich ebenfalls zu einer solchen Weiterbehandlung verpflichtet. Nach neun Monaten werden die Bürgerinnen und Bürger, die am beratenden Ausschuss teilgenommen haben, zu einem Treffen eingeladen, bei dem die ergriffenen Folgemaßnahmen vorgestellt werden. Wenn Empfehlungen nicht weiterverfolgt wurden, muss dies begründet werden.

Frage: Welche Themen wurden bisher behandelt und was waren die Ergebnisse?

Plovie: Es gab bisher drei beratende Ausschüsse, die sich mit den Kriterien für die Einführung des Mobilfunkstandards 5G in der Region Brüssel-Hauptstadt, mit der Unterbringung von Obdachlosen in der Region Brüssel-Hauptstadt und damit befasst haben, wie Bürgerinnen und Bürger in die Bewältigung einer Krise einbezogen werden können.

Für diese drei beratenden Ausschüsse ist die Arbeitsphase der Nachbereitung durch die Abgeordneten bereits im Gange und die ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern werden in Kürze in das Parlament eingeladen, um die Ergebnisse vorzustellen.

Frage: Wie bewerten Sie aus Ihrer Sicht die bisherigen Erfahrungen? Was sagen die ausgelosten Bürger und die Abgeordneten über ihre Zusammenarbeit?

Plovie: Das erste Ziel der beratenden Ausschüsse war es, durch die Beratung und die Zusammenarbeit von Abgeordneten und Bürgern ehrgeizige Vorschläge zu erarbeiten, die bestimmte Spaltungen und das mit den Wahlen verbundene Denken in Legislaturperioden überwinden können. Nach den ersten Erfahrungen haben wir jedoch festgestellt, dass dieses Verfahren es auch ermöglicht, das Gespräch zwischen den gewählten Vertretern und den Bürgern wiederherzustellen, ein besseres Verständnis für die Entscheidungsfindung zu schaffen und Erfahrungen und Menschen besser zu berücksichtigen, die manchmal wenig gehört oder sogar unsichtbar gemacht werden. Und dies in einem Bereich, in dem das Misstrauen zwischen Politik und Bevölkerung besonders stark ausgeprägt ist.

Zufriedenheit bei Abgeordneten und Bürgern

Aus den Evaluationsberichten der ersten beratenden Ausschüsse geht hervor, dass fast 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Teilnahme ein positiveres Bild von den Abgeordneten und der Politik im Allgemeinen haben als vor ihrer Teilnahme. Dasselbe gilt für die Abgeordneten, die durch die gegenseitige Annäherung erkennen, dass die Bürger eine echte Hilfe bei der Entwicklung von Vorschlägen sein können.

Bei anderen Erfahrungen in Belgien oder auf internationaler Ebene, wo Bürgerräte ausschließlich aus ausgelosten Bürgern bestehen, kristallisiert sich in der Phase der Präsentation der Empfehlungen hingegen ein Gegensatz zwischen Bürgern und Abgeordneten heraus. Außerdem sehen die Abgeordneten die verschiedenen Empfehlungen als von außen kommend an und vertreten sie anschließend nicht, was die Verfahren schwächt, da die Weiterbearbeitung auf diese Weise kaum gewährleistet werden kann.

Frage: Würden Sie gemischte Ausschüsse auch für die Parlamente in Deutschland empfehlen?

Plovie: Ich hatte 2021 die Gelegenheit, bei einer gemeinsamen Veranstaltung von OECD und Bundestag die beratenden Ausschüsse vorzustellen und habe mich dafür ausgesprochen. Natürlich könnte man auf den ersten Blick bedauern, dass durch die Einbeziehung von Abgeordneten, die de facto besser mit der Funktionsweise der Institutionen vertraut sind, eine Herrschaftslogik integriert wird.

Wenn jedoch das Verhältnis von Abgeordneten zu Bürgern sehr gering ist (1 zu 4), wenn eine Moderation gewährleistet wird, die die Herrschaftslogik neutralisiert, und wenn die Abgeordneten im Vorfeld auf eine offene und konstruktive Haltung vorbereitet werden, erkennt man, dass es sich um einen einzigartigen Weg handelt, um wieder eine Verbindung herzustellen und den "Experten" die Möglichkeit zu geben, ihre Erfahrungen zu schildern.

Neugestaltung der Politik

Dies gilt nicht nur für die Formulierung von Empfehlungen für einen auf den jeweiligen beratenden Ausschuss begrenzten Zeitraum, sondern auch darüber hinaus durch eine Neugestaltung der Politik auf der Grundlage der Empfehlungen der beratenden Ausschüsse.

Beratende Ausschüsse bieten somit die Möglichkeit, auf eine Reihe von Einschränkungen "reiner" Bürgerräte zu reagieren, die letztlich allzu oft wenig Einfluss auf die späteren politischen Entscheidungen haben und - leider - die deliberative Demokratie aufgrund mangelnden Outputs unglaubwürdig machen.

Abgesehen davon, dass wir glauben, dass diese beratenden Ausschüsse zu ehrgeizigeren Vorschlägen führen werden als im traditionellen demokratischen Prozess, sind sie ein unglaubliches Instrument zur Versöhnung zwischen einer atemlosen repräsentativen Demokratie und einer unverzichtbaren partizipativen Demokratie, die jedoch noch zu weit vom Kern der Entscheidungen entfernt ist.

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