Big Bang der Demokratie

22. Februar 2022
Ville de Carpentras

In der südfranzösische Stadt Carpentras erlebt die Demokratie seit 2021 einen „Big Bang“. Dort gibt es seitdem nicht nur einen zufällig gelosten Bürgerrat, sondern auch Bürgeranträge, einen Bürgerhaushalt und Bürgerentscheide.

Die 35 Mitglieder des Bürgerrates werden für ein Jahr ausgelost. Zu Beginn ihrer Arbeit werden sie über die Arbeitsweise der Stadtverwaltung informiert. Im Laufe ihrer Amtszeit werden sie monatlich zu verschiedenen Anlässen wie Sitzungen des Stadtrates oder zur Begleitung des Bürgerhaushaltes zu Treffen eingeladen.

Aufgaben des Bürgerrates

Zu den Aufgaben des Bürgerrates gehört der Kontakt zu den gewählten Vertretern im Stadtrat. Die ausgelosten Teilnehmer erhalten Beschlussentwürfe zur Kenntnis, mit denen der Stadtrat sich befasst. Außerdem können sie vom Bürgermeister und seiner 1. Stellvertreterin bei Bedarf Rechenschaft verlangen.

Der Bürgerrat trägt außerdem zur Entwicklung und Bewertung der lokalen Bürgerbeteiligung bei. Er informiert zudem die Stadt über Anliegen und Vorschläge der Bürger und kann über Themen debattieren, die in den Zuständigkeitsbereich der Stadt fallen.

Kontrolle über Bürgerhaushalt

Bzgl. des Bürgerhaushaltes hat der Bürgerrat die Aufgabe, für einen reibungslosen Ablauf des Verfahrens und die Einhaltung seiner Regeln zu sorgen. Dabei prüft er die Zulässigkeit der im Rahmen des Bürgerhaushalts eingereichten Ideen. In Zusammenarbeit mit städtischen Dienststellen entscheidet der Bürgerrat, ob die ausgewählten Projekte zur Abstimmung gestellt werden. Der Bürgerrat kümmert sich auch um die Umsetzung der Bürgerhaushalt-Projekte und bewertet diese.

"Das ist eine tolle Idee", sagt die 69-jährige Marie Josée, die 2021 für den ersten Bürgerrat ausgelost wurde: "Das ist eine sehr gute Idee, um zu erfahren, was hinter den Mauern des Rathauses passiert". Die 18-jährige Océane hatte sich als jüngste Bürgerrat-Teilnehmerin zum Ziel gesetzt, "das Leben der Bürger von Carpentras zu verbessern".

Am Gemeindeleben teilnehmen“

Der älteste Teilnehmer des ersten Bürgerrates war 94 Jahre alt. Jacques Leclerc will die kommunalen Demokratie verbessern: "Ich mache keine Politik und will auch keine machen. Aber ich möchte am Gemeindeleben teilnehmen". Der ehemalige Soldat hatte bereits bestimmte Themen im Auge: "Sicherheit, Sauberkeit der Stadt, Haushalt.“

„Ich werde Argumente haben und sie vorbringen. Die meisten Menschen gehen bei den Wahlen wählen und danach heißt es: 'Wählt mich und lasst mich in Ruhe'. Das ist nicht mein Stil und ich will auch nicht, dass es der Stil" dieses Bürgerrates ist, so Leclerc.

Menschen wollen nicht mehr passiv bleiben“

Bürgermeister Serge Andrieu ermutigt die Bürger der Stadt zur Teilnahme am Bürgerrat. Für ihn „reicht es, Ideen zu haben. Das ist alles, was wir von ihnen verlangen. Was wir wollten, war, dass die Leute kommen und daran glauben. Die Menschen wollen nicht mehr passiv bleiben und warten. Gut so".

Neben dem Bürgerrat gibt es auch einen Bürgerhaushalt. Mit diesem können Einwohner den von ihnen favorisierten Projekten Geld zur Umsetzung zur Verfügung stellen. Pro Jahr stehen dafür 700.000 Euro bereit. Das entspricht 25 Euro pro Einwohner.

Bürgerhaushalt ab 16

Der Bürgerhaushalt steht allen Einwohnern von Carpentras über 16 Jahren sowie allen Steuerzahlern offen und ermöglicht es jedem, seine Kreativität zum Wohle der Allgemeinheit zu entfalten. Vor allem aber können die Teilnehmer darüber abstimmen, welche Projekte realisiert werden sollen.

In Bezug auf Entscheidungen des Stadtrates können Bürgerinnen und Bürger Änderungen an Beschlussentwürfen vorschlagen, die dem Stadtrat zur Entscheidung vorgelegt werden. Zwei Wochen vor jeder Stadtratssitzung wird eine Zusammenfassung der Vorlagen auf der Internetseite der Stadt veröffentlicht. Änderungsanträge können online eingereicht werden.

Änderungsanträge im Stadtrat

Die Änderungsvorschläge werden allen Bürgern online zur Abstimmung vorgelegt. Diese haben bis zu 48 Stunden vor der Sitzung Zeit, ihre Stimme abzugeben. Wenn zwei Prozent aller Wahlberechtigten (2022 waren das 380 Personen) den Vorschlag unterstützen, wird der Änderungsantrag dem Stadtrat vorgelegt und dort diskutiert. Er kann dort angenommen, abgelehnt oder an den zuständigen Ausschuss verwiesen werden.

"Es wird einen Austausch, eine Diskussion mit den Stadträten geben, sie werden die Möglichkeit haben, einen Beschluss zurückzuziehen, zu ändern, zu verbessern", erklärte Bürgermeister Andrieu bei der Ankündigung dieses neuen Verfahrens.

Gelbwesten-Forderung umgesetzt

Per Bürgerbegehren können Bürgerinnen und Bürger die Durchführung eines Bürgerentscheides über eine kommunalpolitische Frage erreichen. Unterzeichnen binnen neun Monaten zehn Prozent der Wahlberechtigten das Begehren, kommt es zur Abstimmung. Diese Form der direkten Demokratie war Teil der Forderungen der in Frankreich vor einigen Jahren sehr aktiven Gelbwesten-Bewegung.

„Mit diesem konkreten Instrument kann jeder Bürger die Macht ausüben, die ihm zusteht, die Handlungen des Bürgermeisters und der gewählten Vertreter kontrollieren und für das handeln, was er für unsere Stadt für vorrangig hält“, erklärt Bürgermeister Andrieu.

Bürgern Mittel und Werkzeuge an die Hand geben“

Bürgermeister Serge Andrieu ist auch die Existenz all dieser Demokratie-Instrumente zu verdanken. Seit 2018 im Amt, hatte er m Wahlkampf 2020 den „demokratischen Big Bang“ zu seinem zentralen Wahlkampfthema gemacht. „Es geht nicht nur darum, den Bürgern das Wort zu geben, das Ziel ist es, ihnen die Mittel und Werkzeuge an die Hand zu geben, um konkret zu handeln“, hatte Andrieu seinerzeit erklärt.

Mehr Informationen: Le Big Bang de la Démocratie Municipale