„Auf die Stimmen der Bürger hören“

02. Dezember 2022
European Parliament

Mehr als 500 zufällig geloste Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz zur Zukunft Europas waren am 2. Dezember 2022 zu einer Folgeveranstaltung in das Europaparlament in Brüssel eingeladen. Die Bürgerinnen und Bürger kamen aus allen Mitgliedstaaten, um zu erfahren, was mit ihren Vorschlägen aus den vier Bürgerforen, die während der Zukunftskonferenz stattgefunden haben, geschehen ist. Die Empfehlungen der Bürgerforen an die Europäische Union waren am Europatag im Mai 2022 übergeben worden.

Dubravka Šuica, Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission und Ko-Vorsitzende der Konferenz zur Zukunft Europas sowie Kommissarin für Demokratie und Demografie, die die Arbeit der EU-Kommission zur deliberativen Demokratie leitet, erklärt, was die Kommission seitdem unternommen hat.

Frage: Die Konferenz zur Zukunft Europas ist zu Ende gegangen. Bürger und Interessenvertreter haben die Folgeveranstaltung herbeigesehnt und wissen, dass die Europäische Kommission eine Antwort auf ihrer Empfehlungen geben wird. Was ist Ihre Antwort darauf? Was haben die Empfehlungen verändert?

Dubravka Šuica: Die Konferenz zur Zukunft Europas hat den Bürgern ein größeres Mitspracherecht in Bezug auf Europa gegeben. Es war ein erfolgreicher Versuch, die Bürger in den Mittelpunkt der EU-Politik zu stellen. Wir haben uns verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie dort bleiben, und werden weiterhin die Meinung von EU-Bürgerforen anhören. Damit werden wir bereits Mitte Dezember beginnen. Wir haben mit einer Antwort auf die Vorschläge der Bürger nicht gezögert. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um unsere Union zu verbessern.

Die Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger haben uns sehr geholfen. Beispielsweise wurden einige bereits geplante Initiativen im Lichte der Konferenz neu bewertet, um besser auf die Forderungen der Bürger eingehen zu können, wie etwa die Strategie "Neues, besseres Internet für Kinder".

Die Kommission hat schnell reagiert“

Die Kommission hat schnell reagiert. Einen Monat nach der Abschlussveranstaltung hat sie einen Bericht mit dem Titel "Visionen in konkrete Maßnahmen umsetzen" vorgelegt, in dem sie darlegt hat, was aus Sicht der Europäischen Kommission erforderlich wäre, um die Vorschläge der Konferenz mit Leben zu erfüllen. Im September hat Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union als Reaktion auf die Schlussfolgerungen der Konferenz die ersten neuen Initiativen der Kommission angekündigt.

Am 18. Oktober hat die Kommission ihr Arbeitsprogramm für 2023 beschlossen, das auch eine Reihe von Maßnahmen beinhaltet, die aus der Konferenz folgen. Die Initiativen decken Themen ab, die von der psychischen Gesundheit bis zum Tierschutz und von seltenen Rohstoffen bis zu Finanzdienstleistungen reichen.

Kommission verankert Beteiligungsverfahren“

Diese Initiativen knüpfen direkt oder indirekt an die Vorschläge der Konferenz an und tragen zu der Zukunft bei, die sich die Bürger und andere Teilnehmer wie regionale, lokale und nationale Mandatsträger gemeinsam vorgestellt haben. Dies gilt für vier von fünf der für 2023 angekündigten neuen Initiativen der Kommission.

Aufbauend auf dem Erfolg der Konferenz verankert die Kommission auch Beteiligungsverfahren in ihrer Politikgestaltung. Von nun an enthält unser Instrumentarium Bürgerforen als festen Bestandteil der Politikgestaltung im Vorfeld wichtiger Gesetzesinitiativen. Die ersten drei Bürgerforen der nächsten Generation werden sich mit den Themen Lebensmittelverschwendung, Bildungsmobilität und virtuelle Welten befassen.

Die Folgemaßnahmen der Kommission beschränken sich jedoch nicht nur auf die Ausarbeitung neuer Vorschläge. Die Konferenz hat auch dazu beigetragen, unsere demokratischen Institutionen zu erneuern. Wir danken unseren Bürgern dafür.

Frage: Können Sie konkrete Beispiele für Empfehlungen von Bürgern nennen, die Sie persönlich schätzen? Und warum?

Šuica: Da ich Lehrerin bin, war der beste Vorschlag, den uns die Konferenz gemacht hat, dass die Menschen gefordert haben, in Europa mehr für die Bildung zu tun. Viel zu wenige Menschen aller Altersgruppen wissen, wie wir arbeiten, was der Unterschied zwischen unseren Institutionen ist und was Europa konkret für sie tut, wie es sie unterstützt und ihnen Möglichkeiten in ihrem täglichen Leben bietet. Meiner Meinung nach ist die Forderung, die Bildung über die Europäische Union schon sehr früh in die Lehrpläne der Schulen unserer Mitgliedstaaten aufzunehmen, sogar schon im Kindergarten, eine ausgezeichnete und äußerst notwendige Empfehlung. Vor allem, wenn wir mehr Europa wollen und nicht weniger.

Frage: Wie schätzen Sie ein Jahr nach dem Start der Konferenz zur Zukunft Europas die Auswirkungen eines solchen beispiellosen Verfahrens auf die Entscheidungsfindung in der EU ein?

Šuica: Die Ursachen für einige der Herausforderungen, mit denen Demokratien konfrontiert sind - z. B. die Apathie der Wähler, die Umarmungsversuche des Populismus oder die Unzufriedenheit mit öffentlichen Institutionen oder Regierungen - sind nicht nur in Europa zu finden. Wir sehen weltweit Rückschläge für die Demokratie, für die Allgemeingültigkeit von Rechten. Wir befinden uns in einem Konflikt mit Autokratien, die genau die Werte missachten, auf denen demokratische Gesellschaften aufgebaut sind.

Unsere Gesellschaften befinden sich in einem tief greifenden Wandel: Der Klimawandel und die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien werden durch tief greifende demografische Veränderungen untermauert. Diese Veränderungen sind durch die Pandemie und den Krieg noch beschleunigt worden. Die Folgen dieses perfekten Sturms wären für die Bürger noch viel schlimmer gewesen, wenn die Europäische Union nicht gezeigt hätte, dass wir auf der Grundlage der Einheit und Solidarität der europäischen Bürger entschlossen handeln und gemeinsame Lösungen finden können.

Auf die Stimmen der Bürger hören“

Unsere repräsentative Demokratie funktioniert gut, aber sie ist nicht ohne Fehler. Ich sehe, wie die Menschen sich zurückgelassen fühlen und unglücklich sind. Ich habe das Gefühl, dass wir uns an einem entscheidenden Punkt befinden, sowohl in Europa als auch weltweit. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat dies noch mehr verdeutlicht. Deshalb müssen wir uns verstärkt darum bemühen, auf die Stimmen der Bürger zu hören, sie einzubinden und ihre Wünsche und unsere Versprechen zu erfüllen.

Die Bürger selbst tragen direkt und indirekt zur Verbesserung der Demokratie bei, unter anderem durch repräsentative, partizipative und deliberative Demokratie. Sie haben dazu beigetragen, unsere europäischen Institutionen auf den neuesten Stand zu bringen, und dank ihnen wird die deliberative Demokratie nun Teil der Art und Weise werden, wie wir in der EU Entscheidungen treffen. Dies ist ein Novum.

Frage: Die Europäische Kommission hat beschlossen, neue EU-Bürgerforen zu den Themen Bildungsmobilität, digitale Welten und Lebensmittelverschwendung einzusetzen. Warum halten Sie als Vizepräsidentin und Kommissarin für Demokratie und Demografie ein Forum zum Thema Lernmobilität für so wichtig?

Šuica: Dieses Forum wird sich mit vielen wichtigen Aspekten befassen, die den Bürgerinnen und Bürgern am Herzen liegen. Es geht um die Mobilität, die eine unserer Grundfreiheiten in der EU ist. Es geht um Lernen und Bildung, bei denen wir uns alle einig sind, dass sie mit den Bedürfnissen unserer Zeit in Einklang stehen müssen. Und es geht um die Anpassungsfähigkeit von Fertigkeiten, gerade jetzt, wo wir uns auf das Jahr 2023 vorbereiten, das das Europäische Jahr der Fertigkeiten sein wird. Es handelt sich also um ein sehr aktuelles Thema, das dem Gremium sicher viele Denkanstöße geben wird, die wiederum wertvolle Beiträge für die Politikgestaltung der Kommission liefern werden.

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Das Interview ist im Original auf der Internetseite von Missions Publiques erschienen.