„Unterschätzen Sie die Bürger nicht!“

19. Oktober 2022

2023 soll der erste bundesweite Bürgerrat stattfinden, der offiziell vom Bundestag angestoßen wird. Vor der Durchführung der ersten Losversammlung auf Bundesebene hatte der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ des Bundestages am 19. Oktober 2022 noch viele Fragen an zwei eingeladene Expertinnen.

Zum Vortrag und zur Beantwortung von Fragen hatte der Ausschuss Barbara Bosch und Prof. Dr. Brigitte Geißel eingeladen. Bosch ist Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, einem Bundesland mit im Vergleich viel Erfahrung in Sachen Losdemokratie. Brigitte Geißel leitet die Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Früher erfahren, was die Bürger bewegt“

Barbara Bosch brach als erste eine Lanze für Bürgerräte. „Mit dialogorientierter Bürgerbeteiligung erfahren Politik und Verwaltung viel früher, was die Bürger bewegt“, so die ehemalige Oberbürgermeisterin von Reutlingen. Es müsse aber klar sein, dass diese Beteiligung gewollt sei. Und die Politik müsse unvoreingenommen in den Prozess gehen."Die lauten Gruppen haben derzeit ein Übergewicht, die schweigende Mehrheit hat keine Stimme. Dialogische Prozesse geben genau diesen Menschen eine Stimme“, so Bosch weiter. Dialogbasierte Bürgerbeteiligung verzögere Entscheidungen auch nicht, sie könne diese vielmehr beschleunigen.

"Mit der Zufallsauswahl erreichen wir auch diejenigen, die sich nicht politisch engagieren", erläuterte die Staatsrätin einen Vorteil von Bürgerräten. Man habe damit durchweg positive Erfahrungen gemacht, auch die wissenschaftliche Evaluation bestätige dies ausdrücklich.

Bürger fühlen sich nicht gut vertreten“

Dem Bundestag schlug Bosch vor, sich etwa über dessen Geschäftsordnung eigene Regeln zum Umgang mit Bürgerrat-Empfehlungen zu geben. Wenn Politiker die Empfehlungen von Bürgerräten ablehnten, müssten sie dafür gute Gründe haben. Die Bürgerrat-Fragestellungen sollten möglichst konkret sein. So sollte etwa in einer Kommune nicht gefragt werden, wie eine Stadt klimaneutral werden kann, sondern wie der Autoverkehr in einer Stadt reduziert werden kann.

Laut Prof. Dr. Brigitte Geißel fühlen sich viele Bürgerinnen und Bürger nur durch die Möglichkeit zur Beteiligung an Wahlen nicht gut vertreten. „Wahlen scheinen nicht mehr auszureichen. Wir brauchen neue Formen der Bürgerbeteiligung“, so die Demokratieforscherin. Durch die Zufallsauswahl bei Bürgerräten könne ein Spiegelbild der Gesellschaft geschaffen werden.

Erfolgsbedingungen für Bürgerräte

Wichtig für ein wirksames Verfahren sei ein gutes Zusammenspiel zwischen Bürgerräten und Entscheidungsträgern. Weitere Erfolgsbedingungen: Ausreichende Ressourcen und Ergebnisoffenheit. „Bürgerbeteiligung zu schon getroffenen Entscheidungen funktioniert nicht“, so Geißel. Bürgerräte müssten in einem frühen Stadium der Entscheidungsfindung eingerichtet werden. Außerdem sei Transparenz von Anfang an wichtig.

Die Politikwissenschaftlerin regte auch an, darüber nachzudenken, ob nicht auch der Bevölkerung das Recht auf die Einberufung eines Bürgerrates gegeben werden sollte. Sie verwies dabei auf das österreichische Bundesland Vorarlberg, wo die Landesregierung nach der Einreichung von mindestens 1.000 Unterschriften einen Bürgerrat zum mit den Unterschriften geforderten Thema durchführen muss.

Fragen der Abgeordneten

Aus den Vorträgen ergaben sich für die Ausschuss-Mitglieder eine Reihe von Fragen: So wollte der CDU-Abgeordnete Johannes Steiniger wissen, wie ein Bürgerrat mit 100 Mitgliedern die Demokratie-Unzufriedenheit in einer Bevölkerung von 82 Millionen Menschen reduzieren kann. Auch befürchtet er ein Schwinden der Bereitschaft zum politischen Engagement etwa in Stadträten.

"Die Wirkung von Bürgerräten ist da, wenn man entsprechend mit den Ergebnissen umgeht", erklärte Barbara Bosch in ihrer Antwort. Öffentliche Beratungen im Bundestag über Bürgerrat-Empfehlungen seien deshalb wichtig. Dialogbasierte Beteiligung führe zudem nicht zu weniger, sondern zu mehr Bürgerengagement in der Kommunalpolitik. Bürgerräte hälfen Kommunalpolitikern, ihre Entscheidungen zu verorten.

Frühzeitig mit Bürgerbeteiligung beginnen“

Auch zu Befürchtungen bzgl. der Verzögerung von Entscheidungen durch Bürgerbeteiligung hatte die Staatsrätin eine Antwort parat: „Man gewinnt, wenn man frühzeitig und transparent mit der Bürgerbeteiligung beginnt, dann gibt es keine Verzögerung."

Für die FDP fragte der Abgeordnete Martin Gassner-Herz nach dem Sinn von Rekrutierungsquoten bei Bürgerräten, die nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort und Migrationshintergrund so zusammengestellt werden, dass sie ein Abbild der Bevölkerung darstellen. Ist das dann noch eine Zufallsauswahl, wollte Gassner-Herz wissen. Bosch erklärte die Funktion der Abbildung der gesellschaftlichen Milieus durch dieses Verfahren.

Bundestag kein Spiegel der Gesellschaft“

"Der Bundestag ist kein Spiegel der Gesellschaft. Wir haben fast keine Abgeordneten mehr ohne Hochschulabschluss“, merkte Professor Geißel dazu kritisch an. Durch das geschichtete Losverfahren solle verhindert werden, dass sich auch in Bürgerräten wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ finden, die sich sowieso bei jeder Gelegenheit beteiligen. Wie Bosch bestätigte sie die Erfahrung, dass Bürger durch die Teilnahme an Bürgerräten politisch mobilisiert würden und die Bereitschaft zu dauerhaftem Engagement wachse. Politiker müssten auch nicht befürchten, durch Bürgerräte entmachtet zu werden. Diese hätten eine rein beratende Funktion.

Der CSU-Abgeordnete Ralph Edelhäußer sieht einen Vorteil von Bürgerräten darin, auch die für die Politik zu gewinnen, die bei Wahlen nicht zum Zuge kämen, da die Wähler oft nur die bekannteren Namen wählten.

Rosinenpickerei

Der SPD-Abgeordnete Erik von Malottki wollte wissen, was passiert, wenn die Empfehlungen von Bürgerräten nicht umgesetzt werden? „Bürgerräte geben immer eine Reihe von Empfehlungen ab“, erklärte die Demokratie-Expertin Geißel. Bei der Umsetzung betreibe die Politik manchmal Rosinenpickerei. Folge die Politik Bürgerrat-Empfehlungen nicht, müssten die Argumente dafür überzeugend sein.

Die Linken-Abgeordnete Ina Latendorf fragte nach der Ausgewogenheit und Neutralität der Informationen, die Bürgerrat-Teilnehmer für ihre Beratungen und Entscheidungen bekommen. „Es muss immer der Eindruck entstehen, dass es keine Manipulation gibt“, beantwortete Geißel die Frage. Transparenz sei deshalb wichtig.

Beteiligung von Jugendlichen

Ariane Fäscher ist als Abgeordnete der SPD die Beteiligung auch von Jugendlichen wichtig. Deshalb fragte sie nach entsprechenden Möglichkeiten. Barbara Bosch berichtete, dass in Baden-Württemberg mit der Online-Bürgerbeteiligung während der Corona-Pandemie gute Erfahrungen gemacht worden seien war. Damit sei es auch möglich gewesen, noch einmal andere Menschen als sonst zu erreichen. Junge Menschen seien etwa sehr versiert in Beteiligungsverfahren per Chat.

Die Grünen-Abgeordnete Emilia Fester wollte wissen, wie lange Bürgerräte tagen. Die genannten Sitzungszeiträume von z.B. drei Stunden täglich über mehrere Wochen erschienen ihr sehr kurz. In drei Stunden könne viel abgearbeitet werden, klärte Barbara Bosch auf. "Unterschätzen Sie die Bürger nicht!"

Ausschlusskriterien für Bürgerrat-Themen

Nach Ausschlusskriterien für Bürgerrat-Themen gefragt erklärte Bosch, dass sie solche Themen nicht für geeignet hält, für die es auf der jeweiligen Ebene keine Zuständigkeit gibt. Außerdem seien Losversammlungen zu unkonkreten Fragestellungen nicht sinnvoll. In Baden-Württemberg plane die Landesregierung aber, in Zukunft Bürgerräte vor allen wichtigen Gesetzesvorhaben durchzuführen.

Das Fachgespräch im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ war bereits das zweite zu Bürgerräten. Bereits am 6. Oktober 2020 hatte der Ausschuss verschiedene Experten dazu gehört. Auch damals hatten alle eingeladenen Fachleute die Nutzung von Bürgerräten befürwortet.

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