Hallo Bundestag

01. März 2023
Raphael Janzer

Wer kennt ihre/seine Abgeordneten im Bundestag? Wie oft treten wir in echten Kontakt mit der Politik? Wie bekommen Abgeordnete ein gutes Bild davon, was Menschen in ihrem Wahlkreis beschäftigt? Und wie kann die Politik die Meinungen vieler unterschiedlicher Menschen sinnvoll in ihre Entscheidungen einbinden? Diese Fragen stehen im Zentrum des Projektes „Hallo Bundestag“.

2023 bringt der Verein „Es geht LOS“ quer durch die Republik zufällig ausgeloste Menschen aus Bundestagswahlkreisen zusammen, um einen Tag lang miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Ergebnisse ihrer Diskussionen über bundespolitische Fragen werden mit den jeweiligen Wahlkreis-Abgeordneten besprochen. So sollen die Teilnehmer die Möglichkeit erhalten, Politik aktiv mitzugestalten.

Unterschiedliche Bedürfnisse und Sichtweisen

„Unterschiedliche Lebenserfahrungen führen zu unterschiedlichen Bedürfnissen und Sichtweisen. Unser Ziel ist es, diese miteinander ins Gespräch zu bringen“, heißt es auf der Internetseite des Demokratie-Projekts. Auf diese Weise soll erprobt werden, wie die Stimmen unterschiedlicher Menschen in der Politik mehr Gehör finden können.

Zum so genannten Wahlkreistag erhalten die Teilnehmer Informationsmaterial, das durch wissenschaftliche Institute geprüft wurde. Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren werden zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen, um mehr über das Projekt zu erfahren und einander kennenlernen zu können. Beim Wahlkreistag stellt eine professionelle Moderation sicher, dass alle zu Wort kommen und sich wohlfühlen. Vormittags tauschen sich die Ausgelosten in Kleingruppen über das jeweilige Thema aus und erarbeiten eine Stellungnahme an die Politik dazu. Nachmittags kommen die Abgeordneten dazu und es wird gemeinsam über das Ergebnis des Austauschs der Ausgelosten gesprochen.

Alle Wahlkreistag-Teilnehmer erhalten eine Aufwandsentschädigung von 100 Euro. Verpflegung wird von den Organisatoren gestellt.

Aufsuchendes Losverfahren

Weil sich auf eine Einladung zu einem Bürgerrat im Schnitt nur 5 - 10 Prozent der Angeschriebenen zurückmelden, wurde zur Bildung der Wahlkreistage das sogenannte aufsuchende Losverfahren angewendet. Bei Menschen, die auf die schriftliche Einladung nicht antworten, wird noch einmal persönlich nachgefragt.

Es geht Los will damit erfahren, was Ausgeloste daran hindert, am Wahlkreistag teilzunehmen, und was sie brauchen, um teilnehmen zu können. „Außerdem stellt sich immer wieder heraus, dass Personen die Briefe nicht zugestellt bekommen oder sie beim ersten Lesen nicht ernst nehmen, nicht verstehen oder sich aus einem anderen Grund nicht näher mit der Einladung befassen. Daher hinterlassen wir bei denen, die wir nicht antreffen, immer einen Brief mit einer Erinnerung“, erklärt der Verein den Hintergrund.

Viele Menschen haben die Zeit nicht“

„Eine Hürde ist einfach, dass viele Menschen die Zeit nicht haben. Ein anderes Thema ist fehlende Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen. Selbst wenn Hilfsangebote dafür im Brief stehen, scheuen die Menschen oft davor zurück“, schildert Linus Strothmann von Es geht LOS seine Erfahrungen.

„Bei einem direkten Gespräch kann ich den Menschen oft vermitteln, wie wichtig uns ist, dass genau sie kommen. Das gilt auch für die große Gruppe der Leute, die nicht davon ausgehen, dass sie etwas wichtiges beitragen können. Die haben in ihrem Leben einfach nicht die Erfahrung gemacht, dass sich jemand für sie und ihre Meinung interessiert. Dann sage ich oft, dass wenn viele so denken, eine ganze Perspektive auf die Themen verloren geht. Das ist der Punkt wo Menschen oft umdenken und sagen: Ok, dann komme ich vielleicht doch!“

Abbildung der Wahlkreis-Vielfalt

Für das Projekt „Hallo Bundestag“ wurden die Wahlkreise laut Es geht LOS so ausgewählt, dass sie im Hinblick auf unterschiedliche Kriterien die Vielfalt der 299 Bundestagswahlkreise abbilden und gleichzeitig Vergleiche erlauben. Um verallgemeinerbare Schlüsse für die Verstetigung von Wahlkreisräten ziehen zu können, war es Es geht LOS so etwa wichtig, strukturschwache sowie strukturstarke Wahlkreise im Projekt dabei zu haben. Außerdem wurde auf eine angemessene Abbildung der Parteipräferenzen der Teilnehmer, auf eine ausgeglichene Repräsentation der Geschlechter sowie auf regionale Unterschiede geachtet.

Die Wahlkreise

  • Flensburg-Schleswig
  • Hagen - Ennepe-Ruhr-Kreis I
  • Erfurt - Weimar - Weimarer Land II
  • Roth
  • Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg - Prenzlauer Berg Ost
  • Berlin-Steglitz – Zehlendorf

In den zwei Berliner Wahlkreisen hatte „Es geht LOS“ bereits 2021 Wahlkreistage durchgeführt. Die Teilnehmer seien begeistert gewesen und viele daran interessiert, weiterzumachen. Daher gibt es in diesen zwei Wahlkreisen eine Neuauflage des Verfahrens.

Erfrischendes Erlebnis

Kooperationspartner des Projekts waren seinerzeit die Bundestagsabgeordneten Canan Bayram (Grüne) und Thomas Heilmann (CDU). „Ich habe (...) erlebt, wie erfrischend es ist, mit Menschen zu sprechen, die nicht politisch aktiv sind. Ohne das aufsuchende Verfahren wäre das nicht passiert“, schilderte Heilmann seine Erfahrung. Mit dem Losprojekt konnten auch Nichtwähler erreicht werden. Einer von ihnen war Till G. „Ich bin froh, dass ich mitgemacht habe. Das ist genau das Volksnahe, was in Deutschland noch fehlt“, so der laut Selbstbeschreibung „unpolitischste Mensch im ganzen Kiez“.

„Es ist klar, dass wir mit sechs Wahlkreisen nicht alle Kriterien und Merkmale der 299 Wahlkreise in Deutschland abbilden können. Dennoch sind wir sicher: Wenn es in diesen sechs funktioniert, wird es auch in den restlichen 293 Wahlkreisen funktionieren“, heißt es auf der Internetseite von Es geht LOS.

Evaluation

Mit dem Projekt will der Verein auch sehen, inwieweit Menschen, die per Zufall in einen Wahlkreistag gelost wurden, danach zusammen als Gruppe in einem Wahlkreisrat weiterarbeiten wollen und können. Dieser auf eine längerfriste Zusammenarbeit angelegte Wahlkreisrat soll Abgeordneten als beratender Beirat dienen.

Um herauszufinden, welche Wirkung das Projekt auf die Teilnehmer hat, werden Vorher-/Nachher-Befragungen der Ausgelosten, Interviews mit Abgeordneten sowie teilnehmende Beobachtungen durch die e-fact dialog evaluation consulting eG durchgeführt.

Begleitende Forschung

Zusätzlich zu dieser Evaluation werden Teilaspekte des Projekts durch begleitende Forschung untersucht. So untersucht die Forschungsgruppe des Lehrbereichs Politisches Verhalten im Vergleich am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin den Einfluss unterschiedlicher Anreize zur Teilnahme an den Wahlkreistagen.

Das Projekt Hallo Bundestag wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung, der ZEIT-Stiftung und von den Open Society Foundations. Die bundespolitische Anbindung wird gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Politiker schätzen Wählerwünsche falsch ein

Vielleicht lindert das Projekt „Hallo Bundestag“ ja das Problem der Falschinterpretation der von der Bevölkerung gewünschten Ausrichtung politischer Entscheidungen. Laut der im Januar 2023 an der Universität Chicago veröffentlichten internationalen Studie "Inakkurate Politiker: Die Einschätzungen der öffentlichen Meinung durch gewählte Vertreter in vier Ländern" können Politiker solche Präferenzen nur sehr ungenau einschätzen. Sie machen dabei große Fehler und schätzen sogar regelmäßig falsch ein, was die Mehrheit der Wähler will. Dabei schätzen sie nicht nur die Präferenzen der Gesamtbevölkerung falsch ein, sondern auch die ihrer eigenen Wählerschaft.

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