Bürgerräte als Vorbild für Medienkontrolle
Mitarbeiter von ARD, ZDF und Deutschlandradio haben am 3. April 2024 ein Manifest für eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks veröffentlicht. Darin schlagen sie u.a. vor, dessen Kontrollgremien mit gelosten Bürgerinnen und Bürgern zu besetzen.
„Den Beitragszahlern gehört der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ihre mehrheitliche Einbindung in den Kontrollgremien ist daher selbstverständlich“, heißt es im Manifest. Die repräsentative Zusammensetzung der Kontrollgremien könne beispielsweise nach dem Vorbild der Besetzung von Bürgerräten erfolgen. Direkte Wahl, Rotationsprinzip oder Losverfahren seien Möglichkeiten, um die Gesellschaft repräsentativ abzubilden.
Grundsätze des Programmauftrags in Gefahr
Generell sehen die Mitarbeiter die Grundsätze und den Programmauftrag in Gefahr. Sie loben das Prinzip eines beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks als wesentliche Säule unserer Demokratie und Kultur, fordern jedoch „einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sein Publikum ernst nimmt, der Debatten zulässt und ein breites Meinungsspektrum abbildet, ohne zu diffamieren“.
ARD, ZDF und Deutschlandradio müssten „sich wieder stärker auf ihre im Medienstaatsvertrag festgelegten Werte und Grundsätze besinnen und nach ihnen handeln“. Transparenz und größtmögliche Bürgerbeteiligung sollten dabei im Zentrum stehen. Nur so könne „der öffentlich-rechtliche Rundfunk wieder an Akzeptanz gewinnen und seiner Bestimmung im demokratischen Diskurs gerecht werden.
Teilhabe der Beitragszahlenden
Die Unterzeichner fordern die „Rückkehr zu Programminhalten, die den im Medienstaatsvertrag festgelegten Grundsätzen wie Meinungsvielfalt, Pluralität und Ausgewogenheit entsprechen“; die Teilhabe der Beitragszahlenden bei medienpolitischen, finanziellen und personellen Entscheidungen“ sowie „ein Beteiligungsverfahren, durch das alle relevanten Verbände und Initiativen, die sich für Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Medien einsetzen, eingebunden werden“.
Erstunterzeichner sind feste und freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie schreiben: „Aus Angst vor beruflichen Konsequenzen hinterlegten viele ihre Unterschrift anonym. Dies spricht für sich. Unter den 100 veröffentlichten Erstunterzeichnern fanden wir Unterstützung von Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen.“ Zu den Unterzeichnern gehören u.a. Jürgen Fliege, Lisa Fitz, Christine Prayon, Gabriele Gysi, Henry Hübchen, Luc Jochimsen und Markus Stockhausen.
Kontrolle durch Rundfunkräte
Alle ARD-Sender und das ZDF werden durch einen Fernsehrat kontrolliert. Dessen Mitgliedsorganisationen werden durch den jeweiligen Rundfunkstaatsvertrag festgelegt. Die Mitglieder der Rundfunkräte werden je nach Sender für vier, fünf oder sechs Jahre von den im Rundfunkstaatsvertrag genannten Vereinigungen entsendet.
Die Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften, Umwelt-, Frauen- und Jugendverbänden etc. sollen darüber wachen, dass Meinungsvielfalt gesichert, der Sendeauftrag erfüllt wird und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in den Programmen auftauchen. Mitglieder sind auch Vertreter der Länder im jeweiligen Sendegebiet, beim ZDF auch Vertreter des Bundes.
Die Rundfunk- und Fernsehrat-Mitglieder entscheiden über Programmvorhaben, die teurer sind als 2,5 Millionen Euro. Sie bestimmen über wichtige Personalien wie den Intendanten oder die Intendantin. Sie stimmen über den Wirtschaftsplan ab. Und sie prüfen kontinuierlich, ob der Sender den Auftrag erfüllt, den die Bundesländer als zuständige Instanzen für die Medienpolitik ihm erteilt haben.
Mangel an Vielfalt
In einer im August 2022 veröffentlichten Studie des Netzwerks Neue Deutsche Medienmacher*innen hat der Journalist und Politikwissenschaftler Fabian Goldmann alle 542 Mitglieder der Rundfunkräte von ARD, Deutschlandradio, Deutsche Welle und ZDF untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die die Räte ihrem Anspruch, die Vielfalt der Gesellschaft zu repräsentieren, nicht gerecht würden. Auch seien benachteiligte Gruppen nicht ausreichend anzutreffen. Goldmann kommt zum Fazit, dass eine gerechtere Repräsentation am fehlenden politischen Willen scheitere. Zur Verbesserung schlägt er unter anderem rotierende Sitze, Losverfahren und regelmäßige Neubewerbungen für einige Plätze vor.
Helge Lindh, medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, fordert, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich nun angesichts des RBB-Skandals hohe Standards in Sachen Compliance (Rechtstreue) und Transparenz setzen müsse, um solche Skandale in der Zukunft zu vermeiden. Außerdem wünscht er sich, dass der Bundestag einen Bürgerrat mit der Reform von ARD und ZDF beauftragt. Auch eine Enquete-Kommission mit externen Experten könne er sich vorstellen.
Rundfunk- und Fernsehräte per Los beschicken
Der Kommunikationswissenschaftler Leonard Novy regt an, darüber nachzudenken, "ob die Gremien wie Rundfunkräte nicht per Losverfahren besetzt werden sollten." Gleiches hat ein eine Allianz aus 31 Verbänden und zivilgesellschaftlichen Initiativen, darunter die Deutsche Akademie für Fernsehen und der Bund der Steuerzahler, im Mai 2023 in einem offenen Brief an die Rundfunkkommission vorgeschlagen. Eine erweiterte Bürgerbeteiligung soll dafür sorgen, dass das Publikum an der Kommunikation über Inhalte und Organisation des Angebots Anteil nehmen kann. "Denkbar ist etwa die periodische Einberufung von Bürgerräten bei der Programmplanung und -evaluierung", so das Bündnis.
Schon 2019 hatte das ZDF-Fernsehratsmitglied Prof. Dr. Leonhard Dobusch vorgeschlagen, „zumindest ein Drittel der Mitglieder von Rundfunk- und Fernsehräten per Los zu beschicken“. Im Zeitalter digitaler Plattformen gebe es mehr denn je Bedarf nach der Herstellung von Öffentlichkeit, die nicht wie auf Facebook und YouTube primär von kommerziellen Profitinteressen geprägt sei.
„Parteipolitische Verankerung stark ausgeprägt“
In seiner Zeit als Mitglied des ZDF-Fernsehrates von 2016 - 2020 hat der Wirtschaftswissenschaftler nach eigenen Angaben aber auch miterlebt, dass die parteipolitische Verankerung unter vielen Mitgliedern jenseits der offiziell staatsnahen Mitglieder durchaus stark ausgeprägt sei. „Vor allem, wenn es um Personalentscheidungen wie die Wahl der Intendanz oder von Verwaltungsräten geht, spielt diese 'Schattenstaatsbank' bisweilen eine eher unrühmliche Rolle und verhilft einer parteipolitischen Linie statt der kompetenteren Person zur Mehrheit“, kritisiert Dobusch.
Der Direktwahl der Mitglieder der Aufsichtsgremien von ARD und ZDF erteilt Dobusch eine Absage: „Der dann zu erwartende Wahlkampf zwischen verschiedenen Listen würde letztlich zu mehr statt weniger Parteipolitik führen. Denn wie sollte bei einer Wahl von Listen deren Bildung entlang von politischen Weltanschauungen verhindert werden? Im schlimmsten Fall würden die jeweiligen Wahlsieger so in die Lage versetzt, öffentlich-rechtliche Medien entsprechend ihrer parteipolitischen Vorstellungen umzubauen.“
Verbände nicht repräsentativ für Mitglieder
Der Journalist und Bürgerrat-Experte Timo Rieg kritisiert die Dominanz organisierter Interessen in Rundfunkräten und Fernsehrat: „Verbände haben gute Chancen auf Beteiligung. Wer allerdings keine organisierte Lobby hat, ist raus.“ Zudem seien Vertreter derjenigen Verbände, die zum Zuge kämen, keineswegs repräsentativ für ihre Mitglieder. „Schaut man sich die Zusammensetzungen an, dominieren Akademiker, dominieren überdurchschnittlich gut Verdienende. Gerechtfertigt wird dies mit benötigter Expertise: Man müsse sein Themenfeld sehr gut kennen und dies kommunizieren können“, erläutert Rieg die derzeitige Situation.
Hierdurch bekäme man aber „Versammlungen von Experten und gewieften Interessenvertretern“. Sie seien unverzichtbar beim Beratungs-Input. Aber sie seien nicht „der Souverän“, nicht „die Allgemeinheit“. Sie seien nicht „repräsentativ für die Gesellschaft“, wie es etwa die Medienkommission NRW von sich behaupte. „Wo 'die Gesellschaft' ein Mitspracherecht haben oder sich selbst organisieren soll, da schaffen 40 bis 60 Lobbyisten mehr Verzerrung als Repräsentativität“, meint Rieg.
Stichprobe der Bevölkerung
„Wo 'die Gesellschaft' gefragt ist, brauchen wir wie bei jeder Meinungsumfrage etwa 1.000 Personen, und diese müssen per Zufall ausgeguckt werden. Dann haben wir eine Stichprobe der Bevölkerung, in der sowohl alle heute privilegierten Gruppen in ihrem realen Verhältnis vertreten sind als auch all jene, die bisher unberücksichtigt bleiben“, schlägt der Bürgerrat-Experte vor.
Die Ausgelosten sollen jeweils in Kleingruppen statt in einem „Riesenplenum“ beraten. Dadurch komme jeder zu Wort und es gebe keine Fensterreden. Was zu klären sei, werde über einen vielstufigen Prozess schrittweise in wechselnden Kleingruppen erörtert. „Am Ende steht nicht nur, was die Mehrheit der Bevölkerung zu einer Sache denkt, sondern aufgrund der Methode meist ein Votum auf sehr breiter Basis“, erläutert Rieg den Sinn seines Vorschlags.
„Die Ergebnisse werden sich unterscheiden“
Die Ausgelosten hätten gar kein anderes Interesse, als eine für möglichst viele passende Entscheidung zu erarbeiten. „Danach nämlich, das ist elementar, endet ihr Mandat. Es gibt keine Verlängerung“, erklärt der Journalist. Rieg ermutigt zum Ausprobieren: „Völlig unschädlich kann man neben bestehenden Strukturen mal ausgeloste Bürger dasselbe beraten lassen. Die Ergebnisse werden sich unterscheiden, andernfalls bräuchte es den Aufwand nicht. Ob sie besser oder schlechter sind, möge dann 'die Gesellschaft' entscheiden.“