„Ein erfolgreiches Demokratie-Experiment“
Anfang 2022 hatte die französische Stadt Rouen ihren ersten Bürgerrat einberufen. Inhaltlich ging es um die Gesundheits-, Klimaschutz- und Industriepolitik der Stadt. 30 zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger formulierten rund 100 Vorschläge. Ein Teil der Bürgerrat-Teilnehmer wird die Umsetzung der Empfehlungen nun in einem langfristig angelegten Bürgergremium verfolgen.
Die Sanierung von Güterverkehr-Bahnstrecken, Rückhaltebecken oberhalb und unterhalb von Rouen, um die Überflutung von Fabriken und Wohngebieten zu verhindern, den Energieverbrauch der städtischen Gebäude veröffentlichen, der breiten Öffentlichkeit Besichtigungen von Industriestandorten anbieten, um deren Funktionsweise besser kennenzulernen, mehr Erwachsene in Erste-Hilfe-Maßnahmen ausbilden... So lauten einige Antworten der Bürger von Rouen auf die ihnen gestellte Frage: "Welche Maßnahmen können/müssen die Stadt Rouen und ihre Einwohner ergreifen, um sich an die drei größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen: Klimawandel, Gesundheitskrisen und industrielle Risiken? "
Themen von zentraler Bedeutung
Am 26. September 2019 brannte die südwestlich von Rouen angesiedelte Lubrizol-Fabrik: 10.000 Tonnen Chemikalien gingen in Rauch auf. Sechs Monate später sind alle Franzosen von der Corona-Pandemie betroffen. Nicolas Mayer-Rossignol, Bürgermeister von Rouen, sagte: "Die Einrichtung eines Bürgerrates war die Umsetzung eines Beschlusses, den wir erfüllt haben. Die drei ausgewählten Themen sind sie für die Einwohner von Rouen von zentraler Bedeutung: Das Klimarisiko ist für eine Hafenstadt wie die unsere eine große Herausforderung. Das Gesundheitsrisiko betrifft uns alle. Und die industrielle Sicherheit ist mit den Besonderheiten unserer Industrie-Infrastruktur verbunden: Der Brand bei Lubrizol hat sich besonders eingeprägt."
Bei der Auswahl der Bürgerrat-Teilnehmer ließ sich die Stadt Rouen von Experten begleiten. 350 Einwohner von Rouen wurden telefonisch kontaktiert. Von denen, die positiv auf die Einladung reagierten, wurden 36 nach ihrem sozioökonomischen Profil, ihrem Stadtviertel und ihrem Alter ausgewählt, wobei man sich um Parität bemühte. Schließlich nahmen 30 Einwohner zwischen 17 und 78 Jahren teil wobei 44 Prozent der Teilnehmer Frauen waren. Alle erhielten für ihre Teilnahme eine Aufwandsentschädigung. Im Gegenzug verpflichteten sich die Ausgelosten zur Teilnahme an allen drei Bürgerrat-Wochenenden.
Sitzungen an drei Wochenenden
Die Bürgerrat-Teilnehmer haben sich von Januar bis März 2022 drei Mal getroffen. Am ersten Wochenende fand eine Versammlung statt, auf der Expertinnen und Experten die Teilnehmer mit Informationen zu den einzelnen Themen versorgten. Das zweite Wochenende fand im Format eines runden Tisches statt und das dritte diente der Formulierung der Empfehlungen. Insgesamt hörten die Bürgerrat-Mitglieder 20 Fachleute, darunter 14 aus der Region, die auf Initiative der Abteilung für lokale Demokratie eingeladen worden waren. Am Tag nach dem letzten Wochenende übergaben die Bürger ihre Empfehlungen den Mitgliedern des Stadtrates.
„Sie haben mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, und dieser erste Schritt ist bereits ein erfolgreiches Demokratie-Experiment", so der Bürgermeister. Sie haben ihre Arbeit auch konstruktiv durchgeführt, nicht nur durch Forderungen, sondern auch durch das Vorschlagen von Lösungen." Bedauern äußerte der Bürgermeister darüber, dass die Teilnehmer sich ein zusätzliches Wochenende gewünscht hätten, um noch weiter an ihrem Bürgergutachten zu arbeiten.
Mehr als 100 Vorschläge
Die 25 Seiten des Bürgergutachtens enthalten mehr als 100 Vorschläge. „Die Empfehlungen der Bürger haben uns im Großen und Ganzen in unseren Grundzügen bestätigt, z. B. in Bezug auf die Renaturierung oder die sanfte Mobilität", stellte der Bürgermeister fest. Bei mehreren Themen haben die Bürger angegeben, dass sie mehr Handlungsbedarf sehen, bei der Fahrradpolitik, bei der Einbeziehung der Bürger in die Transparenz der Industrie" Die meisten Vorschläge betrafen das Thema Anpassung an den Klimawandel.
"Diese Art von Vorgehen ist ein gutes Barometer für unsere Politik, die Bürger spielen auch eine Rolle als Weiche, die es ermöglicht, den Zug wieder auf das richtige Gleis zu setzen", betont der Bürgermeister. „Es ist für sie auch eine Gelegenheit, die Herausforderungen und die Funktionsweise der repräsentativen Demokratie besser zu verstehen, es ist eine echte Weiterbildungszeit. Man darf jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass alle Vorschläge unverändert übernommen werden, das wäre unredlich. Man prüft sie gerade mit dem Filter der Zwänge des öffentlichen Handelns". In ihrer Antwort auf das Bürgergutachten macht die Stadtverwaltung deutlich, welche Vorschläge sie aufnimmt und welche nicht, und erklärt, warum sie bestimmte Vorschläge nicht akzeptiert.
„Ein guter demokratischer Weg“
Dieser erste Bürgerrat ist nun abgeschlossen. Die beteiligten Bürger werden die Fortschritte ihrer Vorschläge im Rahmen einer ganz neuen "Bürgerversammlung" der Stadt verfolgen können. Dieses dauerhafte Gremium wird zur Hälfte aus ausgelosten Bürgern und zur Hälfte aus Freiwilligen bestehen. Bereits jetzt haben 14 Teilnehmer des Bürgerrates ihre Bereitschaft erklärt, Teil dieses Gremiums zu werden. Sie werden dabei darauf achten, dass ihre Meinung respektiert wird, aber auch, um sich mit jedem Wandelthema zu befassen, von den gewählten Ratsmitgliedern um Hilfe gebeten zu werden oder ihre Meinung zu jeder lokalen Initiative zu äußern, die auf einer städtischen Plattform eingereicht wird. "Sie sind jetzt aufgeklärte Bürger. Ich bin überzeugt, dass mit dieser Art von Initiativen ein guter demokratischer Weg gemeinsam beschritten werden kann“, so Bürgermeister Mayer-Rossignol.
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