„Bürgerräte sind eine Antwort auf den Populismus“

03. September 2021
Universität Luzern

Im Rahmen eines Projekts mit dem Namen „Demoscan“ beschäftigt sich der Politikwissenschaftler Nenad Stojanović von der Universität Genf seit 2018 mit zufällig gelosten Bürgerräten. Nach einem Demoscan-Pilotprojekt in der Gemeinde Sitten im Herbst 2019 hat sich am 4./5. und 18./19. September 2021 im Kanton Genf ein weitere Losversammlung aus 20 ausgelosten Personen mit den Pensionen der Staatsräte befasst. Die Grünliberale Partei hatte hierzu eine Volksinitiative eingebracht. Weitere Projekte sind in den Städten Winterthur und Aarau geplant.

Das zweite Demoscan-Pilotprojekt, das von Forschern der Universität Genf und der Staatskanzlei des Kantons Genf angestoßen wurde, stieß bei der Genfer Bevölkerung auf großes Interesse. Von 3.000 Personen, die zunächst nach dem Zufallsprinzip aus dem kantonalen Stimmregister ausgelost wurden, hatten 319 Interessierte auf das Einladungsschreiben geantwortet. Zwanzig von ihnen waren im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung am 4. Juni 2021 durch ein geschichtetes Losverfahren ausgewählt worden, um eine Stellungnahme zu einer Abstimmungsvorlage zu verfassen, über die am 28. November 2021 abgestimmt wurde. Durch das geschichtete Losverfahren waren die Bürgerrat-Teilnehmenden nach verschiedenen Kategorien wie Alter, Bildung, Geschlecht etc. ein Abbild der Bevölkerung.

Vorbild Oregon

Solche im Vorfeld von Volksabstimmungen eingesetzten Bürgerräte orientiert sich an einem Verfahren, das es im US-Bundesstaat Oregon von 2008 - 2016 unter dem Namen "Citizens' Initiative Review" gab. Das Verfahren ist transparent, seine Neutralität wird durch die Unparteilichkeit der Moderatorinnen und Moderatoren gewährleistet.

Aufgabe der zufällig gelosten Bürgerinnen und Bürger ist es, sich kritisch mit den Argumenten von Befürwortern und Gegnern einer Abstimmungsvorlage zu einem Volksentscheid auseinanderzusetzen. Der Bürgerrat verfasst dann einen kurzen Bericht, der allen Stimmberechtigten zugeschickt wird, um ihnen zu helfen, sich eine Meinung über das Thema der betreffenden Abstimmung zu bilden.

Bürgerräte bereichern bestehende demokratische Institutionen“

„Bürgerräte können nicht die Lösung für alle Probleme sein“, sagt Prof. Stojanović in einem Interview mit der Zeitung „Le Temps“. „Aber sie können die bestehenden demokratischen Institutionen ergänzen und bereichern und so den gewählten Vertretern helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, die die Mehrheit der Wähler besser überzeugen können“, meint der Politikwissenschaftler. Statt viel Zeit und Ressourcen für Konsultationsverfahren mit Parteien und Lobbys aufzuwenden, die ohnehin in der Lage seien, die Ausarbeitung von Gesetzen im Parlament zu beeinflussen, sollten lieber Bürgerräte einberufen werden, um damit rechtzeitig herausfinden, was die Bürgerinnen und Bürger über ein Thema denken.

„Geloste Bürgerräte können ein Mittel sein, um bestimmten Gefahren des Populismus entgegenzuwirken“, glaubt Stojanović. Die Eliten fürchteten und bekämpften Bürgerräte, weil sie aus „durchschnittlichen“ Bürgern bestünden, die sich dadurch von den Eliten unterschieden. „Sie bieten eine Antwort auf den Populismus, denn die Mitglieder eines Bürgerrates haben allein durch die Tatsache, dass sie per Los ermittelt wurden, eine Legitimität, die Populisten nicht so leicht angreifen können“, erläutert der Politologe. Am Ende des Prozesses basierten die Empfehlungen eines Bürgerrates auf Fakten, die oft gar nicht in die von Populisten gewünschte Richtung gingen.

Abgeordnete denken manchmal kurzfristig“

Bürgerräte würden nicht für vier Jahre gewählt. Ihre Mitglieder wüssten, dass sie nur für einen relativ kurzen Zeitraum ausgelost wurden. „Auf der anderen Seite wollen Abgeordnete wiedergewählt werden, was sie manchmal dazu bringt, kurzfristig zu denken, weil sie Angst haben, aus dem Parlament geworfen zu werden, wenn sie unpopuläre Entscheidungen treffen“, erklärt Stojanović den Unterschied zwischen Losversammlungen und Parlamenten.

Bei Themen wie der Klimakrise seien Bürgerräte besser in der Lage, die Interessen der künftigen Generationen zu berücksichtigen. Sie seien „ein repräsentativerer Mikrokosmos der Gesellschaft als das Parlament, in dem mehrere Bevölkerungsgruppen unterrepräsentiert sind: Frauen, Ausländer, junge Menschen und weniger gut ausgebildete Menschen“.

Frauen wollen flexiblere Art der Politikgestaltung

Die Menschen seien auch eher motiviert, an einem Bürgerrat teilzunehmen, als einer politischen Partei beizutreten. „Nehmen wir den Fall der Frauen. Wir wissen, dass sie in der Politik unterrepräsentiert sind, wie etwa in den kantonalen Parlamenten, wo sie nur 25 Prozent der gewählten Mitglieder ausmachen. Obwohl viele Parteien versuchen, die Parität auf ihren Wahllisten herzustellen, fällt es ihnen schwer, dies zu erreichen. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass der Prozentsatz der Frauen, die auf die erste Ziehung (im Losverfahren - die Red.) positiv reagieren, bei etwa 54 Prozent liegt. Dies zeigt, dass sie sich eher zu einer 'flexibleren' Art der Politikgestaltung hingezogen fühlen. Vielleicht, weil man in einem Bürgerrat versucht, einvernehmliche Vereinbarungen zu treffen, während die 'Parteipolitik' im Allgemeinen viel konfrontativer und polarisierender ist“, vermutet Stojanović.

Mit seiner Idee der Verbindung von Bürgerräten und Volksentscheiden ist Prof. Stojanović jedenfalls nicht alleine. Der Begleitausschuss des Kongresses der lokalen und regionalen Behörden des Europarates hat bereits am 11. Februar 2021 einen Bericht angenommen, in dem empfohlen wird, die Durchführung kommunaler Bürgerentscheide mit zufällig gelosten Bürgerräten zu begleiten.

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