Demokratie-Odyssee: Von Athen nach Europa

17. November 2023
Joe Mathews

Nach dem Scheitern der Europäischen Bürgerinitiative zum Verbot der Käfighaltung von Nutztieren wirbt Sarah Händel als Bundesvorstandsmitglied des Vereins „Mehr Demokratie“ für einen ständigen Bürgerrat in der EU.

Es hätte eine länderübergreifende demokratische Erfolgsgeschichte werden können. Eine Geschichte, die uns zeigt, was erreicht werden kann, wenn europäische Zivilgesellschaften zusammenarbeiten, um Verantwortung für ein wichtiges Thema übernehmen. Die Rede ist von „End the Cage Age“ (Das Käfig-Zeitalter beenden).

„End the Cage Age“ ist eine europäische Bürgerinitiative, die 2020 gestartet ist. Das Ziel: die Käfighaltung von 300 Millionen Nutztieren in der EU bis 2027 zu beenden, um mehr Tierwohl in der Lebensmittelproduktion zu erreichen. Mehr als 130 Organisationen hatten sich zusammengetan, um die hohe Hürde der Sammlung von einer Million Unterschriften aus mindestens sieben EU-Ländern zu überspringen. Die Kampagne war ein großer Erfolg: 1,4 Millionen Unterschriften aus allen 27 EU-Mitgliedsstaaten wurden gesammelt und bei der EU-Kommission eingereicht.

Eine überraschende Antwort

Ist die offizielle Hürde geschafft, ist die Kommission verpflichtet, das Anliegen zu behandeln und eine Antwort zu geben. Und die Antwort war überraschend, denn sie lautete: „Ja“. Das erste Mal überhaupt seit der Etablierung der Europäischen Bürgerinitiative im Jahr 2012 hatte die EU-Kommission beschlossen, einen Anstoß aus der Bevölkerung vollständig aufzunehmen.

In ihrer schriftlichen Antwort erklärte die Kommission, dass sie Gesetzentwürfe erarbeiten und bis Ende 2023 einbringen wird. Sie ging damit eine Verpflichtung zum Handeln ein. Ein bahnbrechender Erfolg, den auch das Europäische Parlament mit einer großen Mehrheit von 558 Ja-Stimmen für „End the Cage Age“ mitangeschoben hatte. Und tatsächlich wurde geliefert.

Umfassende Gesetzentwürfe

Eine heimliche Veröffentlichung von Anfang des Jahres zeigt, wie umfassend die Gesetzentwürfe für besseres Tierwohl ausfallen. Sie gingen weit über das Ende der Käfighaltung hinaus und trafen zusätzliche Regelungen in weiteren Bereichen, wie Verstümmelung, Schlachtung und lange Transportwege. Die Entwürfe stellen nach der Organisation »Compassionate Farming« die weltweit weitestgehenden Reformen für Tierwohl dar.

Doch dann kam hinter den Kulissen die Wende. Was sich in einigen alarmierenden Medienberichten schon angekündigt hatte, wurde zur Gewissheit, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der EU im September 2023 das Vorhaben mit keinem Wort mehr erwähnte.

Rettungaktion gescheitert

Ein spontaner Zusammenschluss aus über 70 europäischen Nichtregierungsorganisationen und Organisatoren anderer Europäischer Bürgerinitiativen (EBI) versuchte noch, mit einem offenen Brief die Kommission dazu zu bringen, ihre Verpflichtung gegenüber den 1,4 Millionen Unterzeichnern der EU-Bürgerinitiative „End the Cage Age“ aufrechtzuerhalten. Doch als am 17. Oktober 2023 dann das Arbeitsprogramm der EU-Kommission veröffentlicht wurde, waren die großen Pläne reduziert auf ambitionslose kleine Anpassungen ausschließlich beim Tiertransport.

Dank Recherchen der britischen Zeitung „The Guardian“ und eines von den Lighthouse Reports angeführten Bündnisses kann nachvollzogen werden, wie außergewöhnlich aggressiv die Fleischlobby sich gegen die geplanten Veränderungen aufgelehnt hat. Eine neu gegründete Lobbygruppe hatte die Kräfte in Brüssel gebündelt und eine Negativkampagne gestartet. Sie agierte an den entscheidenden Stellen auf allen Ebenen innerhalb der Kommission, abzielend auf die zuständigen leitenden Beamten und Mitarbeiter. Dazu kamen neue, öffentlichkeitswirksame Aktionen im Stile eines Aktivistennetzwerkes.

Methoden wie bei der Öl-Lobby

Auch der Bericht der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA), die ebenfalls ein Ende der Käfighaltung empfiehlt, wurde delegitimierend angegriffen und als grob irreführend dargestellt. Nach einer Professorin aus Miami bedient sich die Fleischlobby zunehmend gleicher Methoden wie die Öl-Lobby, um nötige Veränderungen abzuwehren.

Am Ende hatten die Lobbygruppen mit ihren Taktiken Erfolg. Für das Versprechen einer Beteiligung an der europäischen Demokratie ist der ganze Fall ein Trauerspiel und eine Lehrstunde der eigenen Unzulänglichkeit. 1,4 Millionen Bürgerunterschriften, eine öffentliche Zusage der EU-Kommission, eine umfassende Unterstützung des EU-Parlamentes, eine Vielzahl an Meinungsumfragen mit stabiler über 80-prozentiger Unterstützung der europäischen Bevölkerung für höhere Tierwohlstandards - all das hat den europäischen Institutionen nicht ausgereicht, um sich gegen eine starke Lobby durchzusetzen.

Höherer Stellenwert für Bürgerbeteiligung

Wie stehen nach einer solchen Niederlage die Chancen für die unzähligen Anpassungen, die durch den Green Deal auf EU-Ebene den Rahmen dafür schaffen sollen, dass unsere Gesellschaften klimanachhaltiger werden? Damit unsere Demokratien, die europäische aber auch alle anderen, eine bessere Chance haben notwendige Änderungen wirklich anzugehen, muss die Bürgerbeteiligung eine viel größere Rolle spielen. Steigt der Stellenwert der Bürgerbeteiligung und der durch sie erarbeiteten Positionen, steigt auch die Kraft der demokratischen Institutionen, sich gegen den Druck starker Lobbygruppen zu wehren.

Es braucht ein Ökosystem einer vielfältigen, gut an die existierenden Institutionen angebundenen Bürgerbeteiligung, die eine neue Legitimation und einen Transparenz- und Rechtfertigungsdruck erschaffen kann. Das kann denjenigen, die Gestaltungsmacht haben die Kraft geben, wichtige Anliegen durchzutragen, auch wenn ein Lobbysturm wütet.

Die Demokratie-Odyssee

Aktuell kann die Kommission trotz ihrer Versprechungen einfach ein Vorhaben wieder fallen lassen. Dabei fühlt sie sich noch nicht einmal genötigt, dieses Vorgehen den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären oder sich zu rechtfertigen. Weil es eine nur schlecht entwickelte gemeinsame europäische Öffentlichkeit gibt, folgt auf ein solches Verhalten kein kollektiver öffentlicher Aufschrei - die meisten Menschen in Europa erfahren überhaupt nichts davon.

Aber wie kann so ein Ökosystem der Beteiligung auf EU-Ebene aussehen? Daran arbeitet Mehr Demokratie gerade im Zusammenschluss mit vielen anderen europäischen Demokratie-Organisationen, Demokratie-Forschern und Demokratie-Förderern unter dem ungewöhnlichen Titel „The Democratic Odyssey“.

Es braucht den Mut, aufzubrechen

Es ist tatsächlich eine Odyssee, auf die wir uns begeben, weil es eine Reise sein wird, von der niemand das Ende kennt. Eine Reise, die auf viele Hindernisse treffen und viele Diskussionen und Aufruhr hervorrufen wird und will. Und trotzdem haben wir beschlossen, dass es den Mut braucht, aufzubrechen, um neue Ideen, Strukturen und Formate konkret auszuprobieren. Die Odyssee will die Vorstellung von einem Ökosystem demokratischer Beteiligung in der EU greifbarer machen, und zwar zusammen mit all denjenigen, denen die Entwicklung der Demokratie am Herzen liegt.

Die demokratische Odyssee hat am 26. September 2023 in Athen begonnen. Am Geburtsort der Demokratie selbst, auf dem Hügel neben der Akropolis, haben sich nach über 2.400 Jahren wieder Bürgerinnen und Bürger versammelt. Und wie im antiken Athen haben sie auf Augenhöhe miteinander gesprochen. In unserem Fall darüber, was die Demokratie der EU heute braucht, um den Menschen zu dienen. Ziel ist es, eine Vision davon zu entwickeln, wie wir in der EU einen ständigen Bürgerrat etablieren und diesen mit wahrhaftiger Legitimation und Wirkungskraft ausstatten.

Ein vielfach erprobtes Instrument

Bürgerräte sind ein vielfach erprobtes Instrument, das zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger für mehrere Tage zusammenführt. Nach Wissensvermittlung durch verschiedenen Expertinnen und Experten diskutieren sie in Kleingruppen auf Augenhöhe und erstellen am Ende ein gemeinsames Bürgergutachten zu dem behandelten Thema. So können im Modus der Zusammenarbeit politische Lösungen für polarisierende Herausforderungen entstehen.

Die Vorschläge integrieren vielfältige Perspektiven und sind nicht von Einzelinteressen oder Machtpolitik geprägt. Der ständige Bürgerrat ist ein Anknüpfungspunkt für das angesprochene, viel größere demokratische Ökosystem. Der ständige Bürgerrat steht dabei für das permanente Anreichern der repräsentativen Demokratie um eine direktere Stimme der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Eine Stimme die im Kräftegemenge der europäischen Demokratie vom Außenrand unbedingt mit ins Zentrum rücken muss.

Viele offene Fragen

Das Prinzip eines ständigen Bürgerrates ist also Ausgangspunkt einer größeren Vision, aber es sind hunderte von Fragen offen. Wer darf die Themen für den sich immer wieder aus neu ausgelosten Menschen zusammengesetzten Bürgerrat auswählen? Wie kann die Europäische Bürgerinitiative klug mit dem Bürgerrat verknüpft werden? Wie sorgen wir dafür, dass die Ergebnisse des Bürgerrates angemessenes politisches Gewicht bekommen?

Wird es irgendwann digitale Volksabstimmungen zu Ergebnissen des Bürgerrates oder zu anderen Bürgeranliegen geben? Wer entscheidet dann über die genaue Fragestellung oder die zur Abstimmung stehenden Vorschläge? Wie schaffen wir einen inklusiven digitalen Raum, in dem wir einen europäischen Debatten- und Beteiligungsraum über alle Sprachbarrieren hinweg aufbauen können? Welche neuen Formen der digitalen Bürgerbeteiligung sind niederschwellig zugänglich und welche Infrastruktur braucht es dafür?

Der Weg ist das Ziel

Die demokratische Odyssee soll nicht in der Theorie verhaaren. Durch sie sollen Wissenschaftler und Praktiker zusammenkommen, um konkrete Zukunftsbilder der europäischen Demokratie fühlbar und erlebbar zu machen. Wir wollen die Zukunft und den Weg dahin zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickeln. Deswegen organisieren wir 2024 einen eigenen transnationalen europäischen Bürgerrat. Dieser soll als konkrete Lern-Schablone dienen und in seiner Konzeption die verschiedenen demokratischen Ebenen in der EU mitdenken, bis hinunter zu den Kommunen.

Ein Konzept dafür, wie genau dieser europäische Bürgerrat gestaltet wird, entsteht gerade in einem Verfahren, das so offen wie möglich gehalten werden soll. Ein sogenanntes „Constituency Network“ ist ins Leben gerufen worden. Es steht allen Organisationen offen, die sich einbringen möchten. Darüber hinaus wird es Möglichkeiten geben, sich über die von Mehr Demokratie mitgestaltete Seminarreihe „Power to the People“ über das Odyssee-Projekt näher zu informieren und sich auch als Einzelperson zu beteiligen. Die Veranstaltungen dazu sind gerade in Planung.

Die Kraft der Vielen

Die europäische Demokratie zu erneuern, sie zu vertiefen, sie wehrhaft zu machen gegen ihre Vereinnahmung von Einzelgruppeninteressen, ist wahrhaftig eine Odyssee. Gegen die Macht der Einzelgruppen wollen wir die Kraft der Vielen setzen - ob wir es schaffen, dafür die geeigneten Rahmenbedingungen und kreative Formate zu erdenken, wird unsere gemeinsame Ideenkraft und viel Experimentierraum brauchen. Der Erfolg der Demokratie ist heute mehr denn je eine Frage ihrer konkreten Ausgestaltung.

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