Ein Buch und seine Folgen

Ein Buch zu lesen kann den weiteren Lebensweg bestimmen. Nachdem Claudia Chwalisz das Buch „Gegen Wahlen“ des belgischen Historikers David van Reybrouck gelesen hatte, war sie von zufällig gelosten Bürgerräten so begeistert, dass sie sich nun beruflich dem Thema widmet.

Bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeitet die studierte Politikwissenschaftlerin nun bereits seit einigen Jahren an diesem Thema. Bei der Herbstkonferenz zur deliberativen Demokratie am 18./19. November 2021 im belgischen Eupen stellte Chwalisz den Teilnehmern ihr Expertenwissen zur Verfügung. David van Reybrouck war ebenfalls zugegen und befragte die gebürtige Kanadierin, die nun in Paris lebt, zu Ergebnissen ihrer Forschung.

OECD-Studie zu Bürgerräten

Den rund 30 Teilnehmern der von der belgischen Organisation G1000 organisierten Konferenz im altehrwürdigen Kloster Heidberg präsentierte Chwalisz Ergebnisse einer von der OECD unter ihrer Leitung erarbeiteten Studie zu Bürgerräten. So fand die OECD die meisten Fälle von zufällig gelosten Bürgerversammlungen in Deutschland und Australien. Deutschland steht u.a. deshalb an der Spitze der Tabelle, weil Prof. Peter Dienel die bereits im antiken Athen praktizierte Losdemokratie in den 1970ern Jahren wiederbelebt und unter dem Namen „Planungszelle“ praktische Anwendungsfälle geschaffen hatte.

Die häufigsten Themen von Bürgerräten waren dabei Stadtplanung, Gesundheit, Umwelt und Infrastruktur. Mit Verweis auf eine Bürgerrat-Liste auf der Seite Buergerrat.de verwies van Reybrouck aber auch darauf, dass in den letzten Jahren die Zahl der Klima-Bürgerräte „explodiert“. Laut Chwalisz ist Irland das Land mit den meisten nationalen Bürgerräten. Weil deren Anwendung aber gesetzlich in keiner Weise geregelt sei, könne die Anwendung dieses Demokratie-Instruments dort aber jederzeit von einer neuen Regierung gestoppt werden.

Repräsentative Teilnehmer treffen informierte Entscheidungen

Bürgerräte sind für Chwalisz deshalb wichtig, weil dort für die Bevölkerung repräsentative Teilnehmergruppen informierte Entscheidungen treffen und dabei eine gemeinsame Basis finden. Nicht alle Bevölkerungsgruppen seien ständig dort vertreten, doch gebe es in Bürgerräten eine hohe Vielfalt von Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen und Perspektiven.

Wie aber begeistert man zufällig geloste Menschen für die Teilnahme an Bürgerräten? „Die Menschen dorthin zu bringen ist die große Herausforderung“, sagt Chwalisz. So sei die Form der Einladung ein wichtiges Element. Sie sollte wie die Einladung zu einer Hochzeit aussehen. Eine Teilnehmerin erklärte, dass sogar die Farbe des Papiers, auf dem die Einladung gedruckt ist, eine Wirkung haben könne. Einig war man sich, dass sich alle Teilnehmer eines Bürgerrates wohl und tatsächlich beteiligt fühlen sollten.

Wie Bürgerrat-Teilnehmer auslosen?

Diskutiert wurde auch über die Art des Losverfahrens. Linus Strothmann aus Werder an der Havel warb dafür, sich intensiv um die Teilnahme möglichst vieler der für einen Bürgerrat ausgelosten Menschen zu bemühen. Dies könne z.B. durch persönliche Besuche geschehen. Dieses aufsuchende Losverfahren hat Strothmann als Beauftragter für Einwohnerbeteiligung der Stadt Werder selbst erfolgreich angewandt.

Bisher wird für viele Bürgerräte eine hohe Zahl an Einladungen verschickt. Dies geschieht, um aus den Reihen der Ausgelosten genügend Bewerbungen zu bekommen, um das geschichtete Losverfahren anwenden zu können. Dabei wird aus den Bewerbungen für einen Bürgerrat die letztliche Teilnehmergruppe so zusammengestellt, dass sie nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort und Migrationshintergrund ein Abbild der Bevölkerung ist.

Aufsuchendes Losverfahren

Da die Rücklaufquote auf Bürgerrat-Einladungen mit im Schnitt rund fünf Prozent aber relativ gering und insbesondere die Teilnahmemotivation von Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen ein Problem ist, ist das Schaffen eines Abbildes der Bevölkerung in einem Bürgerrat nicht einfach. Strothmann sieht zudem ein Problem darin, Bürgerräte nach bestimmten Kriterien zu sortieren, andere aber unberücksichtigt zu lassen. „Wir bewerten bestimmte Gruppen als wichtig und übersehen dabei andere“, kritisierte Strothmann. Mit dem aufsuchenden Losverfahren könne man dieses Problem vermeiden.

Der für Mehr Demokratie arbeitende Bürgerrat-Campaigner Thorsten Sterk forderte, Diversität nicht nur in Bürgerräten selbst, sondern auch in deren Organisationsteams herzustellen. Wenn alle Ausgelosten sich hier repräsentiert sähen, wachse die Teilnahmebereitschaft etwa von People of Colour. Sterk kritisierte in diesem Zusammenhang, dass die Redner der Veranstaltung alle ebenso weiß seien wie deren Teilnehmer. Dies stehe im Widerspruch zu der in Bürgerräten angestrebten Vielfalt auch hinsichtlich Hautfarbe und Kultur.

Praxis-Beispiele

Bei der Demokratie-Konferenz ging es auch um die praktische Anwendung der Losdemokratie. Linus Strothmann berichtete so etwa über die „Zufallsauswahl Baumblütenfest“ in Werder/Havel, einem Verfahren, mit dessen Hilfe ein neues modernes Konzept für das wichtigste Stadtfest in der brandenburgischen Kommune entwickelt wurde. Dabei seien Ideen entstanden, die im Stadtrat keine Mehrheit gefunden hätten. So etwa ein Mindestpreis für Obstwein, damit dieser auf dem Fest im Vergleich mit Fahrgeschäften nicht länger das für Jugendliche erschwinglichste Vergnügungsangebot ist. Außerdem sollen die lokalen Obstwein-Hersteller so besser vor Billig-Anbietern von außerhalb geschützt werden.

Lise Deshautel berichtete als Mitglied des Organisationsteams des französischen Klima-Bürgerrates über dessen Verfahren und Ergebnisse. In diesem Bürgerrat hatten 2020 150 zufällig geloste Französinnen und Franzosen 149 Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise empfohlen. Viele der Empfehlungen versandeten allerdings in den Ministerien und im Parlament. Bereits bei der Entgegennahme der Empfehlungen durch Präsident Emmanuel Macron hatte sich dieser drei „Joker“ ausbedungen, also Empfehlungen, die er nicht zu akzeptieren bereit war.

Volksabstimmungen über Bürgerrat-Empfehlungen

Macron hatte den Klima-Bürgerrat nach Protesten der Gelbwesten-Bewegung an einer neuen CO2-Steuer selbst ins Leben gerufen. Dabei hatte er auch versprochen, die Bürgerrat-Empfehlungen „ohne Filter“ an das Parlament weiterzuleiten oder alle Franzosen in einem Referendum darüber abstimmen zu lassen. Zu einem Referendum über die Verankerung des Klimaschutzes in der französischen Verfassung kam es aber nicht, da Parlament und Senat sich nicht auf eine Formulierung für die Verfassungsänderung einigen konnten.

David van Reybrouck stellte vor diesem Hintergrund seinen Vorschlag von so genannten „Preferenden“ zur Diskussion. In Volksabstimmungen sollen die Bürgerinnen und Bürger darüber abstimmen können, wie sehr sie die Empfehlungen von Bürgerräten unterstützen. Damit sollen die Empfehlungen mehr Gewicht erhalten.

Ständiger Bürgerdialog in Ostbelgien

Aus Brüssel berichtete Jonathan Moskovic über die im dortigen Regionalparlament existierenden gemischten Ausschüsse. Die Ausschüsse sind zu einem Viertel mit gewählten Politikern und zu drei Vierteln mit zufällig gelosten Bürgern besetzt. Zusammen entwickeln die Ausschuss-Mitglieder Abstimmungsvorlagen, über die das Parlament binnen drei Monaten entscheiden muss.

Weil der Veranstaltungsort Eupen auch die Heimat von einem der weltweit drei ständigen Bürgerräte ist, berichtete Karl-Heinz Lambertz als Präsident des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien über Entstehung und Praxis des dortigen Bürgerdialogs. Seit 2019 fanden hier zwei zufällig geloste Bürgerversammlungen zu den Themen Pflege und Inklusion statt. Eine weitere Bürgerversammlung zum Thema „Wohnen für Alle“ läuft derzeit. Lambertz berichtete, dass sich die Ergebnisse des Bürgerrates zum Thema Pflege derzeit in der Umsetzung befänden. „Nicht jede Empfehlung wird umgesetzt, ein Wille zum Kompromiss ist notwendig“, erläuterte der Parlamentspräsident. 2022 würden die bisherigen Erfahrungen in einem Evaluationsseminar aufgearbeitet.

Positive Erfahrung

Mechtilde Neuens bewertete ihre Teilnahme an der ersten Bürgerversammlung als sehr positiv. Sie habe zu Beginn niemals erwartet, dass die Gruppe gemeinsam zu konstruktiven Ergebnissen kommen könnte, doch diese Haltung habe sich mit jedem weiteren Sitzungstag mehr geändert.

Zwischen den Vorträgen und Plenumsdiskussionen diskutierten die Konferenzteilnehmer auch über aus ihrer Sicht bei Bürgerräten zu behebende Probleme. So wurde über den Einfluss der Expertinnen und Experten debattiert, die die Teilnehmer von Losversammlungen mit Wissen zum jeweiligen Thema ausstatten. Empfohlen wurde hier u.a., die Expertenauswahl auch durch die Bürgerrat-Teilnehmer selbst vornehmen zu lassen. Auch könnten Bürgerrat-Mitglieder damit beauftragt werden, Informationen etwa im Internet selber zu recherchieren und diese den anderen Teilnehmern zu präsentieren.

Strategien zur Etablierung von Bürgerräten

In „Speed Dating“-Runden mit Kleingruppen, die sich alle sieben Minuten neu zusammensetzten, wurden erfolgversprechende Strategien zur Etablierung von Bürgerräten diskutiert. Thorsten Sterk von Mehr Demokratie empfahl hier, Parlamentsabgeordnete möglichst aller Fraktionen aktiv in laufende Bürgerräte einzubinden. Dies sei so etwa bei den von Mehr Demokratie organisierten Bürgerräten Demokratie und „Deutschlands Rolle in der Welt“ geschehen. Der seinerzeitige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble habe beide Bürgerräte unterstützt und ihnen damit Gewicht verliehen.

Mehr Informationen: G1000-Herbstkonferenz zur deliberativen Demokratie