Empfehlungen für "krisenfeste Gesellschaft"
In Baden-Württemberg haben Vertreter des Bürgerforums „Krisenfeste Gesellschaft“ und der Kinder- und Jugendbeteiligungsformate zum Thema am 26. Mai 2023 ihre Ergebnisse vorgestellt. Die Abschlussberichte wurden an die Enquete-Kommission des Landtags zum gleichen Thema überreicht.
Vier Delegierte des Bürgerforums sprachen vor den Mitgliedern der Kommission über die zwischen Oktober 2022 und Januar 2023 im Bürgerforum entwickelten Leitsätze und Empfehlungen für die Handlungsfelder Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gesundheit, Wirtschaft und Krisenvorsorge. Insbesondere forderten die für das Bürgerforum ausgewählten Teilnehmer in ihrem Bürgergutachten klare und deutliche Kommunikation von seiten der Politik gerade in Krisen, eine attraktivere Gestaltung von Gesundheitsberufen und mehr Geld für Bildung.
Günstige Kita-Plätze für Pflegepersonal
Zur Förderung der Arbeit im Gesundheitssystem sollen die Bedingungen auch außerhalb des Gesundheitssystems verbessert werden, z.B. durch günstige Kita-Plätze für Pflegepersonal und weitere Betreuungsangebote, welche auf die Schicht- und Wochenend-Arbeitszeiten abgestimmt sind.
Das Bürgerforum empfiehlt auch, die häusliche Pflege unbürokratischer und attraktiver zu gestalten, indem das Pflegegeld deutlich erhöht wird (mindestens wie einen Mini-Job bezahlen) und es einen automatischen Inflationsausgleich gibt. Care-Arbeit werde überwiegend von Frauen geleistet. Insofern würde durch diese Regelung ein Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit geleistet.
Gesundheitswesen stärker regulieren
Um die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen zu verringern, empfiehlt das Bürgerforum, dieses stärker zu regulieren. Hierzu könnte ein angemessener Teil der Gewinne aus der Pharmaindustrie, privaten Krankenversicherungen und Pflegeeinrichtungen zurück in das Gesundheitssystem fließen sowie der Anteil privater Einrichtungen gedeckelt werden.
Der Landesregierung empfehlen die gelosten Bürger, sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, alle privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen langfristig in einer einzigen Versicherung für alle Bürgerinnen und Bürger zusammenzuführen, um die Kosteneffizienz zu steigern und Synergieeffekte zu erzielen.
Krisenvorsorge verbessern
Im Handlungsfeld Krisenvorsorge soll sichergestellt werden, dass bestehende Warnsysteme und deren Bedeutung der breiten Bevölkerung bekannt sind. Die Zuständigkeiten unterschiedlicher Akteure auf verschiedenen Ebenen (Kommunal-, Landes- und Bundesebene) sollten dabei klar festgelegt und bekannt sein. Das Land Baden-Württemberg sollte entsprechende mehrsprachige Informationsmaterialien produzieren, welche Bürgerinnen und Bürger bei der Anmeldung in den Bürgerbüros automatisch erhalten. Funknetzunabhängige Warnsysteme, wie z. B. Sirenen, sollten zudem weiter ausgebaut werden.
Das Land Baden-Württemberg soll Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass kommunale Behörden, öffentliche Institutionen (Schulen usw.) und Arbeitgeber die Bevölkerung durch regelmäßige praktische Übungen auf den Krisen- und Katastrophenfall vorbereiten.
Menschengemachte Krisen eindämmen
Kontrovers verlief im Bürgerforum die Abstimmung zur Empfehlung "Krisenvorsorge durch Alternativen zum wachstumsbasierten Wirtschaften". "Viele der Krisen, die uns beschäftigen, sind menschengemacht und gehen u.a. auf einen unverhältnismäßigen Ressourcenverbrauch zurück", heißt es im Bürgergutachten. Bisher sei es aber nicht gelungen, ausreichende intelligente Alternativen zum wachstumsbasierten Wirtschaften zu schaffen und umzusetzen. Die Gesellschaft müsse sich so weiterentwickeln, dass alle nachhaltig handeln und leben könnten. Dies könne auch bedeuten, aus gesellschaftlicher Solidarität auf Dinge zu verzichten.
"Um aktiv auf die Verhinderung von Krisen einzuwirken, muss das Land Baden-Württemberg die Schaffung von Wissen zur Nachhaltigkeit auf verschiedenen Ebenen fördern und darauf aufbauend Investitionen tätigen", fordert das Bürgerforum. Außerdem müsse das Land Anstrengungen unternehmen, Lobbyismus, der hohen Ressourcenverbrauch zur Folge hat, einzudämmen. Während die meisten anderen Empfehlungen eine breite Zustimmung bekamen, votierten für diesen Vorschlag nur 25 der 42 Forumsteilnehmer. Neun Teilnehmer stimmten dagegen, acht enthielten sich.
Nachhaltige Bebauung
Eine weitere Nachhaltigkeitsempfehlung: Neue Bauprojekte und der Wiederaufbau nach Katastrophen müssen existierende und sich verändernde Bedingungen (z.B. Umwelt, Finanzierbarkeit, Baurecht) sowie damit im Zusammenhang stehende Risiken stärker berücksichtigen. Präventiv muss auf eine nachhaltigere Bebauung geachtet werden, z.B. keine Versiegelung von Flächen, Freiflächen und eine sinnvolle Planung von Infrastruktur.
Um Preissteigerungen und Inflation zu begegnen, die vor allem Haushalte mit einem geringen Einkommen treffen, empfiehlt das Bürgerforum, einen Hilfsfonds für besondere Härtefälle einzurichten. Weil kinderreiche Familien und Einelternfamilien in besonderer Weise von Armut bedroht seien, bräuchten sie besonderen Schutz und, sofern sie nur über ein niedriges Einkommen verfügten, auch zusätzliche finanzielle Unterstützung.
Regenerative Energien fördern
Weil bürokratische Prozesse den Ausbau regenerativer Energien und damit die Krisenbewältigung behinderten, sollen Beantragungen vereinfacht und Bearbeitungsfristen verkürzt werden. Dies soll sowohl für Privatpersonen als auch Firmen gelten.
Staatliche Hilfe soll auf die konzentriert werden, die sie tatsächlich bräuchten, " vor allem Personen mit einem niedrigen Gehalt oder auch Menschen, die unbezahlte Pflege und Kindererziehung leisten". Ausbildungsgebühren an Fachschulen sollen abgeschafft werden, die digitale Ausstattung von Ausbildungsstätten dringend verbessert werden.
Fachkräftemangel bekämpfen
Auch den Fachkräftemangel hat das Bürgerforum im Blick. Um diesem vor allem im Handwerk zu begegnen, empfehlen die Ausgelosten, das Handwerk aufzuwerten, indem z.B. angestellte Handwerkerinnen und Handwerker besser entlohnt werden und diejenigen, die körperlich schwer arbeiten, einen Bonus bei der Rente bekommen. Außerdem sollten Ausbildungs- und Handwerksberufe bereits in der Schule bekannt gemacht und Bildungscoaches eingesetzt werden, die diese Berufe und Karriereoptionen als Alternative zum Studium im Blick haben.
Migrantinnen und Migranten mit im Heimatland gewonnen beruflichen Qualifikationen soll der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden. Asylsuchende sollen arbeiten können. Außerdem sollte die Abschiebung von gut integrierten Ausländerinnen und Ausländern gestoppt werden.
Übergewinne begrenzen
Damit einzelne Unternehmen sich nicht in Krisen unangemessen bereichern können, sollen vorsorglich Mechanismen entwickelt werden, mit denen sogenannte Übergewinne in Krisenzeiten begrenzt werden können. Dafür soll sich das Bundesland Baden-Württemberg auf Bundesebene einsetzen.
Nach Meinung des Bürgerforums muss das Verständnis für die grundlegende Funktionsweise der Demokratie gestärkt werden. "Schon ab dem Kleinkindalter, spätestens gezielt in der Schule, müssen Diskussions- und Konfliktfähigkeit als Kernkompetenzen unterrichtet werden. Auch für Erwachsene müssen Methoden entwickelt und Wege gefunden werden, demokratische Kompetenzen weiter auszubilden", fordern die Forumsteilnehmer. Dabei sei es wichtig, in einer facettenreichen Gesellschaft von Unterschieden zu lernen, bestehende Ängste abzubauen und sich auf Verbindendes, anstatt Spaltendes zu konzentrieren.
Abwehr von Propaganda
Auf Bundesebene soll sich der Landtag von Baden-Württemberg für eine stärkere Abwehr gegen manipulative Propaganda in sozialen Medien sowie mehr Quellenprüfung einsetzen. Dabei müssten insbesondere auch die Plattformen selbst in die Pflicht genommen werden
Um die Krisenresilienz zu erhöhen, sollen der Gemeinschaftssinn und das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern stärker in der Gesellschaft verankert werden. Anschließend stellten Kinder und Jugendliche die Ergebnisse der Kinderbeteiligung und des Jugendforums „Krisenfeste Jugendbeteiligung“ vor, das parallel zum Bürgerforum im Januar 2023 seine Arbeit aufgenommen hatte.
Die Enquete-Kommission "Krisenfeste Gesellschaft" hatte zu den Empfehlungen des Bürgerforums und des Jugendforums Fragen gestellt. Anwesende Teilnehmer des Bürgerforums äußerten sich dabei auch zu ihren Erfahrungen mit und Eindrücken von der Losversammlung.
Auf Zuhören wert gelegt
Bürgerforum-Mitglied Johanna Fehrenbach hat die Diskussionen in der gelosten Versammlung als sehr angenehm empfunden: „Ich hatte das Gefühl, dass wirklich darauf Wert gelegt wurde, zuzuhören, und dass Platz für persönliche Erfahrungen war. Das fand ich sehr schön, auch, wie persönlich sich die Leute teilweise mit eingebunden haben, wie emotional das dann auch oft wurde und wie offen die Atmosphäre war.“
Teilnehmer Detlef Meier hat im Bürgerforum „einiges gelernt“: „Es sind alle, wirklich alle, willens gewesen, nicht mehr mit Ellenbogen zu arbeiten. Es waren alle auch von Anfang an direkt bereit, trotz der vielen Themen, trotz vieler Streitgespräche (…) wirklich zusammenzuarbeiten.“
Magnus Weber lobte als Forumsmitglied den „sehr konstruktiven Austausch, der respektvoll mit jeder Art von familiärer oder sozialer Bedingung umgegangen ist“. „Wir haben über manche Standpunkte kontrovers diskutiert. Am Ende hat sich doch gezeigt, dass mancher, ausgehend von sich und seinem eigenen Umfeld, einen ganz anderen Blick auf die Dinge hat als jetzt vielleicht ein Fabrikant oder ein Bessergeschulter oder ein Arzt. Es war sehr interessant, dass wir nachher trotzdem eine Lösung, einen Kompromiss oder einen Handlungsvorschlag finden konnten, der von allen angenommen wurde“, so Weber.
Bürgerforum von Oktober 2022 bis Januar 2023
Die Teilnehmer des Forums hatten sich zwischen Oktober 2022 und Januar 2023 an insgesamt sechs Samstagen getroffen. Parallel dazu hatten sich auch Kinder und Jugendliche aus ganz Baden-Württemberg damit beschäftigen, wie Staat und Gesellschaft zukunftssicher gemacht werden können. Delegierte einer Jugendkonferenz zum Thema „Krisenfeste Gesellschaft“ hatten an zwei Sitzungen des Bürgerforums teilgenommen und hierbei die Meinung der jungen Menschen vertreten.
Das Bürgerforum ging auf eine Initiative von Landtagspräsidentin Muhterem Aras und dem Enquete-Vorsitzenden Alexander Salomon (beide Grüne) zurück.
Das Forum sollte Meinungen und Stimmungen aus der Bevölkerung zusammentragen und sichtbar machen. Die Bürgerinnen und Bürger haben dabei die Arbeit der Enquetekommission „Krisenfeste Gesellschaft“ begleitet, in der Abgeordnete des Landtags sowie Vertreter aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft ebenfalls der Frage nachgehen, wie Staat und Gesellschaft in Baden-Württemberg zukunftssicher gemacht werden können.
Forderungen an die Politik
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums hatten gemeinsam darüber diskutiert, welcher Schritte es bedarf, um Staat und Gesellschaft auf sich künftig möglicherweise entwickelnde Gefahrenlagen vorzubereiten. Was erwarten die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Staat? Hierzu werden schließlich konkrete Forderungen an die Politik und insbesondere an die Mitglieder der Enquetekommission gerichtet.
Die Forumsteilnehmer hatten sich mit Fragen aus den folgenden Themenbereichen beschäftigt:
- Gesundheitsversorgung
- staatliche Krisenvorsorge (Früherkennung und Bekämpfung von Krisen unter Einbeziehung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft)
- Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
- Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft und Nutzung ihrer Potentiale zur Krisenvorsorge und Krisenbewältigung
Dabei hatten die Bürgerinnen und Bürger selbst entschieden, welche Bereiche ihnen wichtig sind und wie sie ihre Prioritäten setzen.
3.500 Menschen zufällig ausgelost
Für die Losversammlung wurden 3.500 zufällig ausgelost Frauen und Männer vom Landtag angeschrieben. Aus den 220 Rückmeldungen wurden 60 Personen nach Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund und Bildungsabschluss ausgewählt.