Irischer Bürgerrat für Artenschutz

05. April 2023
Citizens' Assembly of Ireland

In Irland hat ein Bürgerrat am 5. April 2023 seine Empfehlungen zum Schutz der biologischen Vielfalt vorgestellt. Der Bericht der Losversammlungen enthält 159 Vorschläge. Die Bürgerrat-Teilnehmer wünschen sich dabei auch ein Referendum über die Verankerung des Artenschutzes in der Verfassung.

Im Mittelpunkt der Empfehlungen steht die Forderung, dass der Staat sofortige, entschlossene und dringende Maßnahmen gegen den Verlust und für die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt ergreift und eine Führungsrolle beim Schutz der biologischen Vielfalt Irlands für künftige Generationen übernimmt.

Enttäuschung über Versäumnisse des Staates

Darüber hinaus bringt der Bericht die Enttäuschung des Bürgerrates darüber zum Ausdruck, dass der Staat es versäumt hat, die bestehenden Gesetze und Politiken angemessen zu finanzieren, umzusetzen und durchzusetzen. Der Bericht stellt fest, dass sich dies ändern muss und dass ausreichende Mittel und höhere Ausgaben für die Durchsetzung und Umsetzung der nationalen Gesetzgebung und der EU-Gesetze und -Richtlinien zur biologischen Vielfalt bereitgestellt werden sollten. Die Regierung habe eine Krise der biologischen Vielfalt ausgerufen, es gebe aber kaum Anzeichen dafür, dass dies ernst genommen wird.

Der Bürgerrat schlägt auch eine Reihe von Verfassungsänderungen vor, die den Menschen ein Recht auf eine saubere, gesunde und sichere Umwelt geben sollen. Darüber hinaus empfehlen die Bürgerrat-Mitglieder, dem Naturschutz Verfassungsrang zu geben.

Landwirte als Hüter des Bodens

Andere Bürgerrat-Empfehlungen beziehen sich auf Maßnahmen in Bereichen wie Landwirtschaft, Süßwasser, Meeres- und Küstenumwelt, Torfgebiete, Forstwirtschaft/Waldgebiete/Hecken, geschützte Gebiete und Arten, invasive Arten sowie städtische und bebaute Umwelt. Die Rolle der Landwirte als Hüter des Bodens, die über ein umfassendes Wissen und Verständnis der Umwelt verfügen, wird ausdrücklich anerkannt. Die Landwirtschaft muss bei der Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt unterstützt werden.

Die Vorsitzende der Citizens' Assembly on Biodiversity Loss, Dr. Aoibhinn Ní Shúilleabháin, kommentierte den Abschlussbericht mit den Worten, dass es nun an den Mitgliedern des Oireachtas liege, den Bericht zu lesen, die Empfehlungen zu berücksichtigen und danach zu handeln. Sie betonte, dass angesichts des Ausmaßes der Krise, mit der man konfrontiert sei, Dringlichkeit geboten sei.

"Aufruf zum Handeln"

"Die Empfehlungen des Bürgerrates sind ein Aufruf zum Handeln. Sie fordern uns alle auf, unsere derzeitigen Verfahren in der gesamten Gesellschaft, in der Industrie, der Landwirtschaft, den Sozialunternehmen, den lokalen Behörden, den nationalen Behörden und den Ministerien neu zu bewerten. Künftige Generationen sind darauf angewiesen, dass wir jetzt handeln. Einige Interessen- und Lobbygruppen mögen sich den Versuchen widersetzen, den Verlust der biologischen Vielfalt zu bekämpfen, aber es ist dringend notwendig, dass unsere Entscheidungsträger, insbesondere unsere Politiker, dabei unterstützt werden, mutige Entscheidungen zum Schutz, zu, Erhalt und zur Wiederherstellung der natürlichen Umwelt im Interesse aller Menschen, der jetzigen und der zukünftigen, auf der Insel Irland zu treffen", so die Naturwiseenschaftlerin.

Anca Cerbu, eine der 99 Bürgerinnen und Bürger, die am Bürgerrat teilgenommen haben, erklärte, dass die Empfehlungen die ausführlichen Debatten widerspiegelten, die stattgefunden haben. "Es reicht nicht aus, darüber zu reden und zu schreiben, wir müssen handeln. Die biologische Vielfalt braucht uns alle, um für sie einzutreten", sagte sie.

Bürgerrat will Referendum

Bereits am 27. November 2022 hatte sich der Bürgerrat für ein Referendum über die Verankerung des Artenschutzes in der Verfassung des Landes ausgesprochen. 83 Prozent der Bürgerrat-Teilnehmer stimmten für diesen Vorschlag an die Regierung.

Der Vorschlag zur Änderung der Verfassung zum Schutz der biologischen Vielfalt soll materielle und verfahrensrechtliche Umweltrechte sowohl für die Menschen als auch für die Natur enthalten. Die Menschen erhielten durch eine solche Änderung z.B. ein verfassungsmäßiges Recht auf eine saubere, gesunde und sichere Umwelt, ein Recht auf ein stabiles und gesundes Klima. Auch die Rechte künftiger Generationen würden so geschützt.

Eine Verfassungsänderung soll auch das Recht auf Zugang zu Umweltinformationen, auf Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltbezogenen Entscheidungen und auf Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten begründen.

Natur als Träger von Rechtsansprüchen

Die vorgeschlagene Verfassungsänderung soll außerdem die Natur als Träger von Rechtsansprüchen anerkennen, vergleichbar mit Unternehmen oder Menschen. Dazu könnte das Recht der Natur gehören, zu existieren, zu gedeihen und sich zu erhalten, sowie das Recht auf Wiederherstellung, wenn sie geschädigt wird. Außerdem hätte die Natur das Recht, nicht verschmutzt, geschädigt oder entwürdigt zu werden.

Zu den Verfahrensrechten, die der Natur zugestanden würden, würde auch das Recht der Natur gehören, bei Verwaltungsentscheidungen, Rechtsstreitigkeiten und anderen Situationen, in denen die Rechte der Natur beeinträchtigt werden oder beeinträchtigt werden könnten, als Partei aufzutreten.

Bürgerrat tagte seit April 2022

Die Losversammlung zur Biodiversität hatte seit dem 9. April 2022 getagt. Am gleichen Tag hatte auch ein Bürgerrat zur Bürgermeister-Direktwahl in der irischen Haupstadt Dublin seine Arbeit aufgenommen. Ministerpräsident Micheál Martin hatte sich zu Beginn der Sitzungen per Videobotschaft an die Bürgerrat-Teilnehmer gewandt. "Diese beiden neuen Bürgerräte werden den Bürgern, die normalerweise nicht die Möglichkeit haben, sich an der Entwicklung der Politik oder an Gesetzesvorschlägen zu beteiligen, die Möglichkeit geben, einen sehr realen und direkten Beitrag zur Reaktion des Staates auf den Verlust an Biodiversität und zur Struktur der Kommunalverwaltung in Dublin zu leisten", sagte Martin.

Ein Verlust an Biodiversität bedeutet, dass eine wachsende Zahl von Tieren und Pflanzen immer schneller ausstirbt, was durch Faktoren wie Übernutzung, Verlust von Lebensräumen und die Klimakrise verursacht wird. Der Bürgerrat zur biologischen Vielfalt hat sich mit den Bedrohungen durch den Verlust dieser Vielfalt und mit der Frage befasst, wie man ihn rückgängig machen kann. Inhaltlich ging es um die Hauptursachen und die Auswirkungen des Verlusts der Biodiversität. Thema waren dabei auch Möglichkeiten des Zusammenwirkens zwischen Maßnahmen zur Bewahrung der biologischen Vielfalt und anderen bedeutenden Themen, darunter die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, Klimaschutz-Maßnahmen, nachhaltige Entwicklung, Landwirtschaft und Tourismus.

Beratungen abgeschlossen

Am 22. Januar 2023 hatte der Bürgerrat seine Beratungen über 100 ausstehende Empfehlungen zu einer Reihe von Themen abgeschlossen. Der Bürgerrat hat der Regierung hierbei erklärt, dass die Rolle des staatlichen Forstunternehmens Coillte und die Bewirtschaftung der Wälder des Landes seiner Auffassung nach einer umfassenden Überprüfung unterzogen werden müssen. Diese Initiative erfolgte im Zuge der Kontroverse über die Pläne von Coillte, einem privaten britischen Investmentfonds den Kauf von irischen Wäldern und für Bäume vorgesehenen Flächen im Wert von 200 Millionen Euro zu ermöglichen.

Nach einer langen Debatte einigten sich die Mitglieder des Bürgerrates auf einen Empfehlungsentwurf, der vorsieht, dass der Staat die Ziele und Tätigkeiten von Coillte und die wichtigsten Rechtsvorschriften für die Forstwirtschaft, das Forstgesetz von 1988, überprüfen soll. Sie einigten sich auch auf den Wortlaut einer anderen vorgeschlagenen Empfehlung, nämlich "Staatseigene Wälder sollten als strategisches, langfristiges nationales Gut zum Nutzen des Gemeinwohls anerkannt und verwaltet werden."

Weitreichende Empfehlungen

Empfehlungen, über die bereits Ende 2022 abgestimmt worden war, sind weitreichend. Sie umfassen u.a. die Verbesserung der Bemühungen zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung, die Reduzierung des Einsatzes von Pestiziden um 50 Prozent, die Durchsetzung aller bestehenden Umweltgesetze, die Aufstockung der Mittel für den National Park and Wildlife Service, die Förderung der vegetarischen Ernährung und die Einsetzung eines ständigen Parlamentsausschusses, der die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Biodiversitätskrise überwachen soll.

Am 29. Januar 2023 hatten die Bürgerrat-Teilnehmer unter Ausschluss der Öffentlichkeit über diese und die anderen vorgeschlagenen Empfehlungen abgestimmt. Eine parallel organisierter Kinder- und Jugend-Bürgerrat hatte bereits am 25. Oktober 2022 seine Empfehlungen für den Schutz der biologischen Vielfalt beschlossen.

Parlamentsausschuss empfiehlt Referendum

Der Gemeinsame Ausschuss für Umwelt und Klimaschutz des irischen Parlaments hat der Regierung am 14. Dezember 2023 empfohlen, ein Referendum über den Schutz der biologischen Vielfalt durchzuführen.  Damit würden der Natur Rechte zuerkannt, die mit denen des Menschen vergleichbar sind.  Die Empfehlung ist eine Reaktion auf das Bürgergutachten des Bürgerrates zur Biodiversität. Darüber hinaus empfiehlt der Ausschuss, alle Empfehlungen des Bürgerrates zu prüfen und deren Umsetzung durch die Regierung in Betracht zu ziehen.

Die Bewegung für die Rechte der Natur ist in den letzten Jahren gewachsen. Sie setzt sich dafür ein, dass Elemente der Natur wie Bäume, Berge und Flüsse als Wesenheiten anerkannt werden, die das Recht haben, zu existieren und zu gedeihen, wiederhergestellt, regeneriert und geachtet zu werden.  Sie erkennt auch das Recht jeder Person oder Organisation an, diese Rechte im Namen der Natur zu verteidigen, zu schützen und durchzusetzen. So hat beispielsweise Neuseeland dem Whanganui-Fluss eine Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Länder in Südamerika haben ähnliche Erklärungen abgegeben.

Jeder erwachsene Einwohner war teilnahmeberechtigt

Jede erwachsene Person mit Wohnsitz im Land konnte Mitglied des Bürgerrates werden. Dazu gehörten auch Personen, die keine irischen Staatsbürger sind, und andere, die nicht im Wählerverzeichnis eingetragen waren. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass die Mitglieder ein möglichst breites Spektrum der irischen Gesellschaft repräsentieren.

Zur Gewinnung von Mitgliedern für den Bürgerrat hatten 20.000 Haushalte im ganzen Land eine postalische Einladung erhalten, um dort einen Erwachsenen aus diesem Haushalt zu benennen, der sich als Bürgerrat-Teilnehmer bewerben sollte. Jeder Bezirk hatte eine bestimmte Anzahl von Einladungen erhalten, die im Verhältnis zu seiner Gesamtbevölkerung stand. Die Haushalte wurden nach dem Zufallsprinzip aus der Haushaltsdatenbank GeoDirectory ausgewählt, die die umfassendste verfügbare Haushaltsdatenbank ist. Aus den eingegangenen Bewerbungen wurde die Losversammlung so zusammengestellt, dass sie nach Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort ein Abbild der Bevölkerung war.

Klima- und Biodiversitäts-Notstand ausgerufen

Die irische Regierung hatte 2019 in Sachen Klima und biologische Vielfalt den Notstand ausgerufen und die Durchführung des Bürgerrates beschlossen, dessen Einberufung aber fast drei Jahre gedauert hat. Für die beiden Bürgerräte zur Biodiversität und zur Bürgermeister-Direktwahl in Dublin waren 37.000 Einladungen an Personen in zufällig ausgewählten Haushalten verschickt worden. 3.700 eingeladene Menschen hatten ihr Interesse an einer Teilnahme bekundet. Aus diesen waren die Mitglieder der Bürgerräte nach dem Zufallsprinzip ausgelost worden. Der Bürgerrat zur biologischen Vielfalt besteht aus 99 Teilnehmern.

Bei der Ankündigung der Bürgerräte hatte ein Sprecher der Regierung erklärt, dass dies "eine gute Gelegenheit darstellt, ein Verfahren zu entwerfen und umzusetzen, das die Durchführung einer größeren Anzahl von Bürgerräten ermöglichen kann".

Bürgerräte seit 2016, vier Referenden

Seit 2016 haben sich Bürgerräte in Irland mit den Themen Abtreibung, alternde Gesellschaft, zeitlich festgelegte Legislaturperioden für das Parlament, Regeln für Volksentscheide, Klima und Geschlechtergerechtigkeit befasst. Zuvor gab es von 2013 bis 2014 einen zu zwei Dritteln mit ausgelosten Bürgern besetzten Verfassungskonvent, auf dem über die gleichgeschlechtliche Ehe, Gotteslästerung, das Wahlrecht, ein Mindestalter für Präsidentschaftskandidaten, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die Rolle von Frauen in der Politik beraten wurde.

Empfehlungen der Bürgerräte zu Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und die Streichung des Paragraphen zur Gotteslästerung aus der Verfassung fanden in obligatorisch vorgeschriebenen Verfassungsreferenden eine Mehrheit. Die vom Verfassungskonvent vorgeschlagene Senkung des Mindestwahlalters für Präsidentschaftskandidaten von 35 auf 21 Jahre wurde von den Abstimmenden hingegen abgelehnt.

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