Bürgerräte: "Einfach loslegen"
Wie geht man mit Bedenken gewählter Bezirkspolitiker:innen gegenüber zufällig gelosten Bürgerräten um? „Einfach loslegen“, sagte Angelika Schöttler, Bürgermeisterin des Berliner Stadtbezirks Tempelhof-Schöneberg in einer Sachverständigen-Anhörung des Berliner Abgeordnetenhauses am 30. November 2020. Die Fraktionen des Landesparlaments hatten verschiedene Expert:innen eingeladen, um mehr über die Losversammlungen zu erfahren, über die seit geraumer Zeit schon alle sprechen.
Von Erfahrungen mit gleich sieben Bürgerräten in ihrem Stadtbezirk konnte Schöttler dabei berichten. Diese wurden Ende 2019/Anfang 2020 in den einzelnen Stadtteilen von Tempelhof-Schöneberg durchgeführt. Thema war die zukünftige Entwicklung der Stadtteile und die Vorstellungen und Ideen der Bürger:innen dazu.
„Wir gehen anders durch unseren Kiez“
„Bürgerräte sind ein interessantes Format für die, die bisher nicht in Beteiligungsverfahren eingebunden waren“, erklärte die Bürgermeisterin den Sinn von Losversammlungen. Vielfach würden Menschen durch die Teilnahme an gelosten Bürger:innenversammlungen politisch erstmals aktiviert. „Wir gehen anders durch unseren Kiez“, zitiert Schöttler Teilnehmende der Bürgerräte im Bezirk. Die Aktivierungswirkung sei enorm. Die Bürgerräte hätten nebenbei auch Kommunikationsdefizite zwischen Verwaltung und Bürger:innen aufgezeigt. Viele Einwohner:innen wüssten nichts von Angeboten des Bezirks gleich um die Ecke.
Bei den ersten Bürgerräten habe man den dafür notwendigen Aufwand an Arbeit und Zeit unterschätzt, berichtete die Bürgermeisterin. Der Bezirk habe deshalb inzwischen eine Stabsstelle für Beteiligung eingerichtet, die auch für Bürgerräte zuständig sei. Insgesamt zeigte sich Schöttler aber sehr zufrieden mit den Ergebnissen der gelaufenen Bürgerräte. Sie plant deshalb bereits neue Verfahren.
„Neue Orte für gelebte Demokratie“
„Mit Bürgerräten kann man repräsentative Meinungsbilder erzeugen“, sagte Dr. Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung in der Anhörung. Sie seien neue Orte für gelebte Demokratie. Ein Vorteil sei, dass in Bürgerräten eine größere Akzeptanz von Corona-Maßnahmen herzustellen sei als in Umfragen, weil in gelosten Versammlungen durch Information und eine respektvolle Diskussion auf Augenhöhe eine andere Ausgangsbasis zur Bewertung der Maßnahmen geschaffen werde. Transparenz und Mitentscheidungsmöglichkeiten der Teilnehmenden seien dabei aber wichtig. Es lohne sich allerdings nicht, die Zufallsauswahl zu perfektionieren. „Es geht darum, eine Vielfalt von Perspektiven und Standpunkten zu produzieren“, so Vehrkamp.
Bürgerräte sind ein Instrument zur Einbeziehung von Menschen auch außerhalb der Teilnehmenden-Gruppe, weil eine breite Öffentlichkeit über deren Themen diskutiere, erläuterte Antoine Vergne von der Organisation „Missions Publiques“ einen Vorzug von Losversammlungen. Missions Publiques begleitet in Frankreich Bürgerräte und untersucht deren Verfahren und Wirkungen. So war die Organisation auch beim nationalen Klima-Bürgerrat dabei, der im Sommer 2020 weitreichende Klimaschutz-Maßnahmen empfohlen hatte. „Die Akzeptanz von Bürgerräten ist in der Bevölkerung sehr hoch“wusste Vergne aus seiner Arbeit zu berichten. Auch die Aktivierungswirkung sei groß. „80 - 90 Prozent der Teilnehmenden machen danach weiter“, erläuterte Vergne.
Gesetzliche Regelung
Ähnliches wusste Oliver Wiedmann von Mehr Demokratie über die Teilnehmenden des Bürgerrates Demokratie zu berichten, der auf Initiative seines Vereins 2019 in Leipzig stattgefunden hatte. Viele Teilnehmende seien danach Lobbyist:innen in eigener Sache geworden. Sie hätten Gesprächstermine mit Abgeordneten vereinbart, um diese von ihren 22 Demokratie-Empfehlungen zu überzeugen und allgemein über Bürgerräte zu informieren. Bei einer gesetzlichen Regelung von Bürgerräten müsse u.a. festgelegt werden, was mit Bürgerrat-Ergebnissen passiere. Als Eckpunkte nannte er ein Anhörungsrecht im Parlament und die Festlegung von Fristen zur Behandlung von Bürgerrat-Empfehlungen. Wie in Baden-Württemberg solle eine Stabsstelle für Bürgerbeteiligung den Rahmen für geloste Bürger:innenversammlungen organisieren.
Auf die Frage, wie Menschen für Bürgerräte zu gewinnen seien, die nur schwer für Beteiligungsverfahren zu erreichen seien, empfahl Wiedmann das persönliche Aufsuchen der Ausgelosten Zuhause und das Zahlen von Aufwandsentschädigungen. Bürgerräte könne man zudem mit Volksentscheiden verbinden, indem Losversammlungen dann für die Stimmberechtigten die Informationen zum Abstimmungsthema aufbereiteten.
„Ungehörte Stimmen lauter hören“
Staatssekretärin Sawsan Chebli zeigte sich am Ende von der Anhörung begeistert. "Der Fokus muss sein, die ungehörten Stimmen lauter zu hören“ fasste sie ihre Lernerfahrung daraus zusammen.
Mehr Informationen: Aufzeichnung der Bürgerrat-Anhörung auf YouTube