„Von Bürgern für Bürger denken“

In der brandenburgischen Stadt Herzberg (Elster) werden sich zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger am 28. Mai 2022 mit dem Thema „zukunftsfähige Mobilität“ befassen. Als erste Kommune in Deutschland hat die Stadt dazu das Verfahren in einer Satzung verankert. Stephanie Kuntze beantwortet als städtische Fachbereichsleiterin für Zentrale Steuerung & Services sowie Familie & Bildung einige Fragen dazu.

Frage: Frau Kuntze, im Mai beginnt in der Stadt Herzberg ein Bürgerrat mit dem Titel "Radeln in die Zukunft#Villa". Worum geht es dabei?

Stephanie Kuntze: Im Zuge der Landesinitiative „Meine Stadt der Zukunft“ des Landes Brandenburg und dem Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung wollen wir gemeinsam mit unseren Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Herzberg (Elster), vertretend durch unsere gelosten „Stadtmacher“, die Zukunft unserer Stadt betrachten.

Unter dem Motto „Radeln in die Zukunft#Villa“, setzen wir uns vor allem mit dem Thema der zukunftsfähigen Mobilität in Herzberg auseinander und erarbeiten ein Empfehlungs- und Positionskonzept für ein sicheres und attraktives Fuß- und Radwegenetz, welches der Verwaltung und Politik öffentlichkeitswirksam präsentiert und übergeben wird.

Die Verwaltung hat sodann die Aufgabe, zusammen mit einem Stadtplanungsunternehmen, ein Planungskonzept für das Rad- und Fußwegenetz mithilfe von Fördermaßnahmen des Landes zu erarbeiten und die erforderlichen Maßnahmen zusammen mit unseren Stadtmachern zu priorisieren, um gezielt zeitnah in eine Umsetzung überzugehen. Damit dieser Spielraum der Ideenfindung der Stadtmacher einen realistischen Rahmen erhält - denn wir wollen nichts versprechen, was wir nicht umsetzen können - begleitet uns von Anfang an ein fachkundiges und erfahrenes Stadtplanungsunternehmen.

Von Bürgern für Bürger denken

Wir wollen zusammen mit unseren Stadtmachern in Erfahrung bringen, wie es ist, von Anfang an in Planungsprozesse miteinbezogen zu werden, mit einem „weißen“ Papier anzufangen und zuerst mit der Sicht von Bürgern für Bürger zu denken. Die Marxsche Villa und der Botanische Garten im Herzen unserer Stadt bieten hierfür den perfekten Ort, an dem die Wünsche, Ideen und Zukunftsgedanken der Bewohner aus der Innenstadt und den Ortsteilen gezielt zusammenkommen.

Auf dieser Reise begleitet uns das Netzwerk Zukunftsorte als Kooperationspartner. Der Verein aus Brandenburg unterstützt Wohn- und Arbeitsprojekte auf dem Land und schafft analoge Orte der Kultur und Bildung, der Begegnung und des Austauschs - sogenannte „dritte Orte“. Damit dieses Projekt gelingt, braucht es unbedingt eine aktive Beteiligung, die Ideen und Lust hervorbringt, die Neugier weckt und das Bewusstsein für eine klimabewusste Stadt fördert.

Verschiedene Menschen zusammenbringen

Unsere Stadtmacher kennen die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Stadt und der Ortsteile besser als jeder andere. Deshalb freuen wir uns, wenn wir viele erreichen, die Lust haben, das Projekt aktiv für erstmals einen Tag zu begleiten.

Letztendlich geht es bei den “Stadtmachern” darum, verschiedene Menschen und ihre Erfahrungen zusammenzubringen. Der Zufall stellt diese Vielfalt sicher. Jung und Alt kommen zusammen, um gemeinsam Lösungen für politische und gesellschaftliche Themen zu erarbeiten und diese vorzustellen. Die Stärke liegt in der vielfältigen Zusammensetzung, so dass Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden und Lösungen aus vielfältigen Erfahrungswerten und Lebensumstände entstehen können.

Frage: Warum hat die Stadt Herzberg sich entschlossen, das Thema mit einem Bürgerrat zu behandeln?

Kuntze: Es besteht schon länger der Anreiz, dass wir unsere Beteiligungsprozesse erweitern und bürgernäher gestalten müssen, um ein besseres und vielseitigeres Feedback unserer Bürgerinnen und Bürger zu erhalten. Wir stehen täglich vor der Herausforderung, wie und in welcher Form wir sie bestmöglich erreichen, informieren, mitnehmen und animieren können, und dass wir auch die Wertschätzung vermitteln können, dass ihre Meinung wichtig ist. Um dies herauszufinden, möchten wir neue Beteiligungsverfahren und -formate ausprobieren.

Durch die Initiative „Es geht LOS“ sind wir auf das Verfahren des aufsuchenden Losverfahrens gestoßen und waren begeistert. Das mussten wir unbedingt als Form der Beteiligung in unsere Stadtentwicklung integrieren und auf verschiedenste Bereiche ausweiten. Die Stadt Werder an der Havel oder die Stadt Falkensee haben dies vorgemacht und erfolgreich umgesetzt. Wenn man sich tiefer mit dem Prozess beschäftigt, ist es ersichtlich, dass dies eigentlich kein neues Verfahren ist, sondern leider in Vergessenheit geraten.

Die Bundesrepublik nutzt die Form der Bürgerräte schon länger, z.B. als Planungszelle für die Erstellung von Bürgergutachten. Aktuell ist dieses Verfahren des Bürgerrats jetzt wieder im Kommen, verschiedene Länder und Kommunen nutzen dieses Verfahren als das Zukunftsmodell. Uns ist es wichtig, dass es keine Modeerscheinung ist, sondern ein hilfreiches Mittel zur gezielten Bürgerbeteiligung darstellt. Es soll somit erstmals im Zuge des Projektes „Radeln in die Zukunft#Villa“ eingeführt und probiert werden.

Frage: Seit kurzem gibt es zu Bürgerräten eine Regelung in der Einwohnerbeteiligungssatzung der Stadt. Wie kam es dazu?

Kuntze: Es war uns von Anfang an wichtig, dass wir keinen neuen Beteiligungsprozess etablieren möchten, dieser nur im Zuge des Projektes „Radeln in die Zukunft#Villa“ durchgeführt wird. Er soll erprobt, etabliert und optimiert werden. Diese Verfahrensweise in das örtliche Recht zu übertragen, war für uns die beste Variante, die Politik, die Verwaltung und die Bürger darauf aufmerksam und neugierig zu machen. Zudem ist es immer von Vorteil, gemeinsam mit der Kommunalpolitik neue Prozesse zu etablieren, um eine bessere Außenwirkung und Akzeptanz zu erzeugen.

Gleichzeitig haben wir so eine rechtliche Grundlage für das Losverfahren geschaffen, und die Bürger über das Verfahren aufzuklären, was mit ihren personenbezogenen Daten passiert und warum sie erhoben werden, um den datenschutzrechtlichen Ansprüchen auch gerecht zu werden. Wir schlagen sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Das war für uns in der strategischen Überlegung sehr wichtig und auch als Grundlage maßgeblich.

So wurde die Einwohnerbeteiligungssatzung der Stadt Herzberg um einen neuen Paragraphen 6 um das aufsuchende Losverfahren zur Bürgerbeteiligung ergänzt.

Das wir jetzt die erste bekannte Kommune sind, die dieses Verfahren in das örtliche Recht verstetigt hat, war uns nicht bewusst. Echt cool!

Frage: Beim kommenden Bürgerrat wird das aufsuchende Losverfahren genutzt. Wie funktioniert das und was versprechen Sie sich davon?

Kuntze: Die Funktionsweise und der Ablauf sind detailliert in unserer Einwohnerbeteiligungssatzung beschrieben. Als Grundsatz wird festgelegt, wer beteiligt werden soll. Diese Auswahl kann projekt- oder themenbezogen erfolgen: alle Einwohnerinnen und Einwohner, nur Jugendliche oder Senioren und/oder in einer festgelegten Altersspanne. Denkbar ist zudem die Auswahl der Anwohner einer Straße, eines Stadt-, Gemeinde- oder Ortsteils.

Aus der Grundgesamtheit wird eine Stichprobe aus dem Melderegister der Stadtverwaltung gezogen. Die Größe sollte sich daran orientieren, wie viele Personen beteiligt werden. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen einem Drittel und einem Fünftel der Ausgewählten tatsächlich teilnehmen werden. Grundsätzlich werden so viele Menschen ausgewählt, wie notwendig. Bei Bedarf, wird nachgelost.

Die ersten ausgelosten Personen werden persönlich angeschrieben. Das Anschreiben wird vom Hauptverwaltungsbeamten oder von den Vorsitzenden der politischen Gremien unterzeichnet. Das Anschreiben verdeutlicht, worum es geht und warum es wichtig ist, dass genau die angeschriebene Person teilnimmt. Zudem wird um Rückmeldung gebeten sowie Hilfe bei Hinderungsgründen angeboten. Gleichzeitig wird in dem Schreiben darauf hingewiesen, dass die Einwilligung für den persönlichen Kontakt der Person - hier das aufsuchende Verfahren - wünschenswert und zudem erforderlich ist.

Persönliche Kontaktaufnahme mit Bürgern

Da davon auszugehen ist, dass sich generell nur wenige der Angeschriebenen zurückmelden, wird der entscheidende Schritt des aufsuchenden Losverfahrens angewandt: die persönliche Kontaktaufnahme mit den Bürgerinnen und Bürgern zu Hause. Falls die Person nicht anzutreffen ist, wird die Möglichkeit mit einem weiteren Schreiben genutzt, einen Austausch per Telefon oder Email zu erhalten.

Um das Verfahren weiterentwickeln zu können, wird bedacht, diejenigen, die nicht kommen können, zu fragen, was sie brauchen, um teilnehmen zu können. Denkbar wären hier verschiedene Faktoren, wie etwa der Zeitraum der Veranstaltung. Wenn dies der Fall ist, kann ein anderes Format für die Teilnahme angeboten werden, zum Beispiel in Form einer kurzen Umfrage. So fließt auch diese Meinung in das Gesamtbild mit ein. Dieser Schritt verfolgt also zweierlei Ziele: 1. die Aufnahme von Feedback, die das Verfahren besser macht 2. die Aufnahme von inhaltlichem Feedback zum Gegenstand des Beteiligungsverfahrens.

Nach dem aufsuchenden Verfahren bzw. dem persönlichen Kontakt wird gegebenenfalls nachgelost, um den Teilnehmerkreis zu erweitern. Das Verfahren beginnt sozusagen erneut und kann beliebig fortgeführt werden, bis die gewünschte Teilnehmerzahl erreicht ist.

Bürgerräte werden evaluiert

Um das Verfahren stetig zu verbessern, ist eine Evaluation durchzuführen. Am Ende der Veranstaltung etwa in Form eines Fragebogens. Auf diesem können demographische Merkmale, aber auch Feedback zum Verfahren, zur Veranstaltung selbst oder auch zur Kontaktaufnahme dargelegt werden. Zudem sind Feedback-Runden am Ende der Veranstaltung sinnvoll, diese sollten eine anonymisierte Form aber nicht ersetzen.

Die Ergebnisse bzw. Empfehlungen des Bürgerrats sollen durch mediale Begleitaktivitäten weitere Teile der Öffentlichkeit erreichen und gegebenenfalls auch aktiv einbeziehen. beispielsweise durch Online-Eingabemöglichkeiten für die interessierte Bevölkerung in Form der digitalen Beteiligungsplattform.

Eine neue Form der Beteiligung

Durch die Teilnahme der „Stadtmacher“ leisten sie einen aktiven Beitrag zur Demokratieentwicklung und können ihre persönlichen Wünsche und Ideen für unsere Stadt direkt und nachhaltig einbringen. Die Rahmenbedingungen sind geschaffen für eine neue Form der Beteiligung. Die Prozesse der Planung werden vielleicht nicht schneller passieren können, aber was uns wichtig ist, sie werden bürgernah sein und das von Anfang an. Die Zukunftsgestaltung geschieht so mit den Bürgerinnen und Bürgern und das zielorientiert, bedarfsgerecht und innovativ.

Mehr Informationen: