„Ein vielversprechendes Modell“
Der geschäftsführende Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums (WEF), Prof. Klaus Schwab, will dem Klimawandel und anderen globalen Herausforderungen mit Bürgerräten begegnen.
Im Jahr 2020 feiert die Welt den 75. Jahrestag der liberalen Weltordnung, schreibt Schwab in einem am 29. Dezember 2019 veröffentlichten Beitrag für den Irish Examiner. Die meisten Menschen seien sich einig, dass dieser Rahmen - bestehend aus den Vereinten Nationen, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und anderen multilateralen Institutionen - reformiert werden müsse, um den Herausforderungen des Klimawandels, der zunehmenden Ungleichheit und des sich verlangsamenden Wirtschaftswachstums zu begegnen. Reformen auf globaler Ebene seien aber nicht nicht möglich, wenn nicht zunächst besser zusammenhaltende und nachhaltigere Gesellschaften aufgebaut würden.
Vorbild Irland
„Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, sind Bürgerräte, wie sie Irland und andere Länder eingeführt haben“, so Schwab. Beispiele wie der Brexit, die Blockade der Welthandelsorganisation WTO durch US-Präsident Trump und der Rückzug Chiles aus der Ausrichtung der Weltklimakonferenz „deuten darauf hin, dass unsere Fähigkeit, kollektive Antworten auf große Herausforderungen zu geben, bedroht ist. Aber die Reform einer einzigen multilateralen Institution wird das Problem nicht lösen, wenn ihre Mitgliedsstaaten - und die Gemeinschaften, die sie vertreten - weiterhin entlang politischer, sozialer und wirtschaftlicher Linien gespalten bleiben“, glaubt der Chef des Weltwirtschaftsforums. Die Spaltungen unter den Wählern in vielen Ländern der Welt mache es den politischen Führern immer schwerer, Reformen durchzuführen. Die Wähler seien zunehmend polarisiert. Politiker, die versuchten, Kompromisse zu schließen, würden oft an den Wahlurnen bestraft.
„Irland bietet ein vielversprechendes Modell, um dieser Zwickmühle zu entkommen“, erklärt Schwab. „Jahrzehntelang war das Thema Abtreibung für die irischen Politiker politisches Kryptonit. Doch dann versuchte Irland ein gesellschaftspolitisches Experiment, das für unser Zeitalter der Spaltung geeignet ist: Es berief einen Bürgerrat ein, um ein Abtreibungsgesetz zu erarbeiten, das eine breite Basis von Wählern unterstützen könnte. Die irische Citizens‘ Assembly hatte 99 Bürger nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die nach Alter, Geschlecht, soziale Klasse, regionaler Verteilung etc. ein Abbild der Gesellschaft darstellten. „Damit erreichte sie eine viel größere Meinungsvielfalt, als man sie im etablierten politischen System vorfindet“, erläutert Schwab.
Einigkeit und Respekt
Er schildert auch weitere Einzelheiten: „Der Bürgerrat folgte Regeln, die die Einigkeit fördern sollten. Alle Teilnehmenden hatten die gleiche Gelegenheit zu sprechen und alle Beratungen waren öffentlich. Von Anfang an verpflichteten sich die Teilnehmenden auch, die Standpunkte der anderen zu respektieren und mit denjenigen an einem Tisch zu sitzen, mit denen sie unterschiedlicher Meinung waren. Die Öffentlichkeit verfolgte die Beratungen der Versammlung aufmerksam, wodurch ein einzigartiges Gefühl der politischen Beteiligung auf breiter Basis entstand. Die Menschen bemühten sich sehr um das Thema, das diskutiert wurde, aber sie lernten auch die Ansichten derer auf der anderen Seite des Tisches oder des Fernsehens zu schätzen. Schließlich formulierte die Versammlung Empfehlungen, darunter die Legalisierung der Abtreibung, die dann in Form eines Referendums der Öffentlichkeit vorgelegt wurden. Viele Vorschläge der Citizens’ Assembly sind jetzt Gesetz.“
„Wenn wir politische Spaltungen in anderen Teilen der Welt überwinden wollen, sollten wir uns für dieses Modell des Bürgerrates einsetzen“, schlägt Schwab vor. Beratende Bürgerversammlungen - deren Hauptaufgabe es sei, eine Einigung zu erzielen, statt wiedergewählt zu werden - könnten politische Gegensätze umgehen und pragmatische Lösungen für bestimmte Fragen finden. „Sie können demokratisch gewählte Gesetzgebungen nicht ersetzen, aber sie sollten sie bei Bedarf ergänzen“, meint der Wirtschaftswissenschaftler. Er verweist dabei auch auf ähnliche Bürgerräte in Frankreich, Antwerpen und Danzig. „Wenn sich unsere Gesellschaften erst einmal mehr auf zumindest einige Kompromisse geeint haben, wird es leichter sein, eine Dynamik zur Lösung internationaler Probleme zu schaffen“, glaubt der WEF-Vorsitzende.
Wunsch für 2020
„Dies ist also mein Wunsch für das Jahr 2020: Dass wir nationale und lokale Spaltungen durch Bürgerräte überwinden und den gleichen Stakeholder-Ansatz in unsere internationalen Institutionen einbringen. Wir müssen schnell handeln, wenn wir die großen Herausforderungen unserer Zeit lösen wollen, vom Klimawandel und zunehmender Ungleichheit bis hin zu verlangsamtem Wachstum und neuen Machtkonzentrationen, die allesamt das Wohlergehen der Bürger überall bedrohen“, schließt Schwab.