Klima-Bürgerrat Brüssel: Gesichter und Geschichten
Wie können wir in der Stadt leben und uns den klimatischen Herausforderungen des Jahres 2050 stellen? Dies war das Thema der ersten Runde des ständigen Klima-Bürgerrates der Region Brüssel, die von Februar bis Ende April 2023 stattfand.
100 zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger haben gemeinsam beraten und Empfehlungen erarbeitet, die der Regierung am 9. Juni 2023 offiziell vorgelegt werden. Bald wird eine zweite Beratungsrunde mit neuen Teilnehmern zu einem anderen klimarelevanten Thema beginnen.
Wer sind diese Menschen aus Brüssel? Was ist ihre Lebensgeschichte, warum haben sie die Herausforderung angenommen und was erwarten sie von diesem Beteiligungsverfahren? Ein Interview von Missions Publiques mit Ornella, Stefaan, Katerina und Marteen.
"Ich bin neugierig, wie und ob dieses System funktionieren kann"
Marteen ist 31 Jahre alt und lebt seit sechs Jahren in Saint-Gilles. Der aus Brügge stammende Bürgerrat-Teilnehmer ist darstellender Künstler. Performer, Schauspieler, Theaterregisseur... er ist ein "Alleskönner", wie er sich selbst gerne bezeichnet: "Ich mache nie zweimal dasselbe".
Wie wurde er für den Bürgerrat gewonnen? Einer der Briefe, die an 10.000 Einwohner aus Brüssel geschickt worden waren, landete im Briefkasten seines Hauses. In dem Haus gibt es drei Wohnungen. Seine Nachbarn waren nicht sonderlich interessiert und gaben die Einladung an ihn weiter... und nun ist er seit fünf Arbeitssitzungen hier. "Seit Jahren wird gesagt, dass Bürgerbeteiligung die Demokratie retten wird. Ich bin also neugierig, wie und ob dieses System funktionieren kann.“
Neugierde und ein gewisser Anspruch
Neugierde ist eine Konstante bei Maarten. Eine Charaktereigenschaft, die mit einem gewissen Anspruch einhergeht. Er ist bereit, sich an dem Verfahren zu beteiligen, aber "man muss das Gefühl haben, dass man eine weitere Dimension hinzufügen kann". Es geht also nicht darum, die Arbeit passiv zu verfolgen. Auslösender Impuls für ihn: das Anschauen von Al Gores Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit" im Alter von 15 Jahren in der Schule und das Gefühl, dass sich seither nicht viel geändert hat.
Maarten erlebt die kulturelle Vielfalt - ein Grund des Stolzes für alle Beteiligten - jeden Tag: "Wenn man in dieser Stadt lebt und sich nicht abschottet, hat man leichten Zugang zu dieser kulturellen Vielfalt. Genau aus diesem Grund hat er seine "Provinz" verlassen. Brügge bot ihm nicht die gewünschte Universitätsausbildung. Er versuchte sein Glück in Brüssel, scheiterte (zu jung, um auf eine Regieschule zu gehen), ging für fünf Jahre nach Antwerpen und kehrte in die belgische Hauptstadt zurück, "der beste Ort für die darstellenden Künste, das kulturelle Mekka der Welt!“
Er denkt ein wenig nach, um den negativen Aspekt der Stadt zu beschreiben. "Brüssel gibt einem nicht die Illusion, dass es das Böse auf der Welt nicht gibt. Aber im Gegensatz zu anderen Städten versteckt diese Stadt ihr Elend und ihre Ungleichheit nicht. Es sei zwar "gut", sich der Realität zu stellen, aber "jeden Tag muss man irgendwann sein Herz in Stein verwandeln".
Arbeitet im Baugewerbe: Ornella
Ornella lebt seit zwei Jahren im industrie-geprägten Vorort Schaerbeek. Mit 25 Jahren ist sie bereits vier Mal in verschiedene Viertel der Hauptstadt Brüssel umgezogen: Jette, Woluwe, Ixelles, Anderlecht... sehr oft, weil die Mietpreise gestiegen sind. Jetzt lebt Ornella glücklich in einer Wohngemeinschaft in der Stadt.
Zurzeit macht Ornella eine Ausbildung zur Sanitär- und Heizungstechnikerin. Die Arbeit im Baugewerbe ist eine bewusste Entscheidung: "Es ist keine Berufung, aber ich wollte das Handwerk achten und weitergeben". Sie hatte in Montreal Literatur studiert, bevor sie nach ihrer Rückkehr nach Belgien als auf Comics spezialisierte Buchhändlerin gearbeitet hat. Dort entdeckte sie während partizipativer Arbeitsgruppen die Welt des Bauwesens. Dort traf sie Menschen in Baugewerbe-Ausbildung, die sie dazu brachten, ihr eigenes Unternehmen zu gründen.
Begegnungen fördern
So änderte Ornella ihren Ausbildungsweg und gründete ein Netzwerk für Frauen, trans- und nicht-binäre Menschen, die in allen Bereichen des Baugewerbes arbeiten (Heizungsbauer, Zimmerleute, Elektriker...). Ziel dieses Netzwerks ist es, Begegnungen zu fördern und die Isolation dieser Menschen zu durchbrechen, von denen es in diesem Bereich nur wenige gibt: "sich gegenseitig Kraft geben".
Ein andere Ziel ist es, unter Gleichaltrigen zu arbeiten und etwas weiterzugeben. Das Netzwerk investiert daher in Orte, die Reparaturen nötig haben (neue elektrische Leitungen, Baumaterialien usw.), und informiert die Öffentlichkeit, während sie dem Ort, der sie kostenlos aufnimmt, einen Dienst erweist.
Interesse an Verbindung von Bauwesen und Umweltfragen
"Ich habe das Gefühl, dass ich die Frage "Wie soll man leben?" mit Worten erforscht habe, als ich Literatur studiert habe, und heute mit meinen Händen (...) und die Verbindung von Bauwesen und Umweltfragen interessiert mich."
Ist das der Grund, warum Ornella der Teilnahme am Bürgerrat zugestimmt hat? Zum Teil. Die Entscheidung wurde gemeinschaftlich mit ihren Mitbewohnern getroffen, denn in Belgien wird pro Wohnung eine Einladung zur Teilnahme an einem Bürgerrat verschickt.
„Ich fühle mich den Politikern nicht nahe“
Ornella interessierte sich für das Thema, aber nicht so sehr für die Methode: "So etwas ist nicht mein Ding, ich fühle mich den Politikern nicht nahe und so verstehe ich Engagement nicht. Ich bin nicht hier, um ein Urteil zu fällen. Ich bleibe hier, um zu beobachten, und werde mir danach meine eigene Meinung bilden".
Was Ornella an Brüssel schätzt: das Leben in der Nachbarschaft. Die Mobilität, die ständigen Bauarbeiten, die ihren täglichen Arbeitsweg verlängern, gefallen ihr weniger gut. Ihr Traum? Ich weiß nicht, ob er in der Stadt liegt". Sicher ist jedoch, dass es ein "Leben in einer Gruppe und die Weitergabe von Wissen" sein wird.
Zufriedener Frührentner: Stefaan
Stefaan ist ein zufriedener Frührentner. Mit 61 Jahren hat er nach einer beruflichen Laufbahn, die mit 17 Jahren begann, endlich Zeit für sich (und seinen Garten). Seine Kinder aus erster Ehe und die seiner zweiten Frau sind inzwischen erwachsen. Seine Frau hingegen arbeitet als Putzfrau, obwohl sie in ihrem Herkunftsland Georgien zwei Universitätsabschlüsse in Journalismus erworben hat.
Stefaan, ein Arbeiter und später Vertreter in der Automobil-Branche, stammt aus Merchtem, einem kleinen Dorf auf dem flämischen Land. Er ist nach der Scheidung seiner Eltern vor fast 50 Jahren nach Brüssel gezogen. Nachdem er in verschiedenen Gemeinden wie Schaerbeek, Brüssel-Hauptstadt und Laeken gewohnt hatte, kaufte er 1999 ein Haus in Jette. Er schätzt das Grün, die Nähe des Waldes und "den herzlichen Kontakt zu den Nachbarn".
„Eine Möglichkeit, zu einer besseren Welt beizutragen“
Obwohl Stefaan nur auf die Reserveliste für den Klima-Bürgerrat gesetzt wurde, hat er keine Sekunde gezögert, "ja" zu sagen, denn er sieht darin "eine Möglichkeit, zu einer besseren Welt beizutragen. Es mag eine Utopie sein, aber darum geht es.“
Direkt, mit subtilem Humor, sparsam im Umgang mit Worten... Stefaan ist bei jeder Sitzung dabei. Er interessiert sich für alles: Kein Thema ist ihm wichtiger als ein anderes. "Man muss jeden Tag lernen, Wissen ist Macht", sagt der Autodidakt, der als Jugendlicher oft die Schule geschwänzt hat. Ein paar "Fehler" hier und da und ein großer Wissensdurst kennzeichnen seinen Weg.
Stärkeres Bewusstsein für biologische Vielfalt
Stefaan, der bis zum Ende dabei blieb, war auch einer der Bürger, die nach dem Zufallsprinzip - auf freiwilliger Basis - für das Unterstützungskomitee ausgelost wurden. Diese Gruppe, die sich aus Verwaltungsmitarbeitern mit Fachkenntnissen in den Bereichen Bürgerbeteiligung, Integration, Klima und Wohnungsbau zusammensetzt, überwacht den reibungslosen Ablauf des Bürgerrates, sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf die Durchführung.
Das Unterstützungkomitee half bei der Analyse der ersten Empfehlungen des Bürgerrates. Und auch wenn er von seinem Umfeld ein wenig geneckt wird, empfiehlt Stefaan jedem, sich an solchen Verfahren zu beteiligen: "Wir gehen daraus mit einem stärkeren Bewusstsein für die Probleme der biologischen Vielfalt hervor", wie er meint. Sein Bedauern? Wie bei vielen anderen auch, die Tatsache, dass die nordafrikanischen und türkischen Minderheiten bei diesem ersten Durchgang nicht dabei sind, "da es schwierig ist, sich Lösungen ohne sie vorzustellen". Eine Herausforderung für den nächsten Bürgerrat.
Unverbesserliche Optimistin: Katerina
Katerina hatte sich nie vorstellen können, ihr Leben anderswo als in Griechenland zu verbringen; Belgien sollte eine vorübergehende Zwischenstation sein, während die junge Studentin ihren Doktortitel in Chemie abschloss. 2006 ließ sie sich schließlich der Liebe wegen in Brüssel nieder. "Meine Lebensentscheidungen haben immer meine Berufswahl bestimmt... und nicht umgekehrt", sagt sie lächelnd. Mit 47 Jahren lebt Katerina mit ihren beiden Töchtern in Jette.
Die unverbesserliche Optimistin hat ihre Karriere völlig umgekrempelt. Ihre Schwangerschaften haben sie von der Welt der Forschung ferngehalten. Aber sie hat sich neu erfunden und arbeitet jetzt in der Presseabteilung des Europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrates (EWSA) und verfolgt für diese Institution Themen wie Lebensmittelverschwendung, nachhaltige Entwicklung, künstliche Intelligenz, ökologische Lebensmittel usw.
Vom Klima-Bürgerrat begeistert
Katerina ist vom Beteiligungsansatz des Klima-Bürgerrates begeistert. Es war jedoch ihre zehnjährige Tochter, die aufgeregt den Brief geöffnet hatte, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie ausgewählt worden war. "Mama, das ist es wert" ... und füllte an ihrer Stelle das Anmeldeformular auf der Online-Plattform aus!
Ihre beiden Töchter sind nun sehr stolz auf ihre Mutter und verfolgen den Fortgang der Arbeit. "Ich empfehle diese Art von Ansatz zu 100 % (...) im EWSA haben wir die Konferenz zur Zukunft Europas verfolgt und ich habe bemerkt, dass die Bürgerinnen und Bürger wenig Zeit hatten, um auf extrem breite Themen zu reagieren.“
Ein großer Schritt für die Gesellschaft
Am Bürgerrat schätzt sie, dass sie Zeit hat, in kleinen Gruppen zu diskutieren. Selbst wenn "die Regierung nichts unternimmt, ist die Möglichkeit, 100 Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenzubringen, die sich engagieren, um über ihre Empfehlungen nachzudenken und sie auszuarbeiten, bereits ein großer Schritt, um unsere Gesellschaft voranzubringen.“
Zu lernen, einander zuzuhören, Meinungsverschiedenheiten zu erörtern, aber "immer mit Respekt", das sind die Zutaten, die Katerina an den Vorbildcharakter dieser Art von Verfahren glauben lassen. Sie war zuerst von der "politischen Reife" der Teilnehmer überrascht. Überrascht hat sie auch das Interesse der Bürger für ihre Stadt und das Engagement der älteren Menschen. Das Einzige, was sie zum jetzigen Zeitpunkt bedauert, ist die fehlende Repräsentation verschleierter Frauen, die ein Teil von Brüssel sind.
Ein Wunsch für die Zukunft
Für Katerina wird der Klima-Bürgerrat erfolgreich sein, wenn alle Empfehlungen soziale Gerechtigkeit beinhalten. Ihr Wunsch für die Zukunft? "Dass Kinder keine Angst haben und sie die Last unserer Verantwortung nicht auf ihren Schultern tragen. Es liegt an uns Erwachsenen, es besser zu machen.“
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Der Artikel ist im Original bei Missions Publiques erschienen