Die deliberative Welle reiten

10. Juni 2020

Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen führt zu einer besseren Politik, stärkt die Demokratie und kann Vertrauen schaffen. Dies ist das Fazit des am 10. Juni 2020 veröffentlichten Berichtes "Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions" der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Der Bericht konzentriert sich insbesondere auf Deliberationsverfahren in Bürgerräten, die nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort und Migrationshintergrund ein Abbild der Bevölkerung darstellen. Diese Losversammlungen sind Teil eines umfassenderen Bestrebens von Parlamenten und Regierungen, Bürger:innen mehr zu beteiligen und offener für die Ideen informierter Bürger und für „Schwarmintelligenz“ zu werden. Es ist die erste empirische Vergleichsstudie, die analysiert, wie deliberative Prozesse für die politische Entscheidungsfindung in der ganzen Welt genutzt werden.

Rund 300 Verfahren weltweit

Auf der Grundlage von Daten aus 289 Fallstudien (davon 282 aus OECD-Staaten), die von 1986 bis Oktober 2019 gesammelt wurden, und in Zusammenarbeit mit einer internationalen Beratergruppe hat die OECD zwölf verschiedene Modelle deliberativer Prozesse identifiziert, geprüft, was ein "erfolgreicher" Prozess mit sich bringt, Grundsätze guter Praxis entwickelt und drei Wege zur Institutionalisierung von Deliberationsverfahren untersucht.

Institutionen auf der ganzen Welt und auf allen Regierungsebenen haben rund 300 Bürgerräte, Planungszellen und andere Gremien genutzt, um die Bürger in die Lösung komplexer politischer Probleme einzubeziehen.

Entwicklung seit den 1980er Jahren

Die "deliberative Welle" hat sich seit den 1980er Jahren aufgebaut und seit 2010 an Dynamik gewonnen. Schätzungen der OECD gehen davon aus, dass nach Oktober 2019 weitere 30 - 40 Verfahren im Gange oder angekündigt sind. In jüngster Zeit wird dabei zunehmend von Einzelprojekten zur dauerhaften Institutionen übergegangen.

Dies geschieht, indem neue deliberative Gremien wie der Bürgerrat in Ostbelgien geschaffen werden - 24 Bürger, die durch ein zufälliges Losverfahren ausgewählt wurden, um die politische Tagesordnung zu beeinflussen. Es gibt 14 Beispiele - aus Österreich, Belgien, Kanada, Japan, Polen, Spanien und den USA - in denen Deliberationsverfahren in die Abläufe der politischen Entscheidungsfindung und in Regierungshandeln eingebettet wurden, um sie zu einem Kernbestandteil der Art und Weise zu machen, wie politische Entscheidungen getroffen werden.

Die häufigsten Themen

Stadtplanung (43 Beispiele), Gesundheit (32), Umwelt (29), strategische Planung (26) und Infrastruktur (26) sind die wichtigsten Politikbereiche, für die Regierungen Deliberationsprozesse in Auftrag gegeben haben.

Diese Themen sind vor dem Hintergrund der Corona-Krise von besonderer Bedeutung, da Regierungen sich bemühen, ihre Ambitionen für ein grünes Wirtschaften mit den Erfordernissen zur Wiederankurbelung ihrer Wirtschaft in Einklang zu bringen und strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Auch wenn es sich hierbei um technische Fragen handelt, sind sie doch von Werten bestimmt und beinhalten viele Kompromisse.

Größere Legitimität durch Deliberation

Da die Regierungen mit zunehmendem Druck in Bezug auf Ausstiegsstrategien, Übergangsmaßnahmen und langfristige Fragen über unsere zukünftigen Gesellschaften und Volkswirtschaften konfrontiert sind, könnten Deliberationsprozesse wie Bürgerräte ihnen helfen, diese schwierigen Entscheidungen mit größerer Legitimität zu treffen.

Die Fülle der Belege, die Expertinnen und Experten in dem Bericht gesammelt haben, zeigen, dass die mehrtägige Einberufung eines Abbildes der Gesellschaft mit dem Zweck des Lernens, Beratens und Entwickelns gemeinsamer kompetenter Empfehlungen ein wirksames Mittel zur Überwindung von Polarisierung und zur Konsensfindung bei den heikelsten politischen Problemen ist. Dies gilt insbesondere für Fragen, bei denen es um Werte geht, die Kompromisse erfordern und langfristige Anliegen beinhalten, die über kurzfristiges Denken in Wahlperioden hinausgehen.

Beispiel Irland

So waren beispielsweise die irischen Bürgerräte, die sich mit Fragen der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Abtreibung befassten, wichtige Vorläufer der Volksabstimmungen. Sie haben einen historischen Wandel bei Fragen eingeleitet, die jahrzehntelang polarisiert hatten.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sind die Corona-Krise und die „Black Lives Matter“-Proteste die bisher herausragenden Ereignisse des Jahres 2020. Ihre Komplexität lässt sich hier nicht zusammenfassen, aber in vielerlei Hinsicht sind sie Katalysatoren für ein beschleunigtes Umdenken in unseren demokratischen Institutionen, damit sie integrativer, effektiver, kooperativer und deliberativer werden.

Anregungen für langfristige Veränderungen

Die Beispiele, die Fachleute im OECD-Bericht untersucht haben, sollen einige Anregungen für langfristige Veränderungen in der Regierungsführung bieten, die es einer großen Vielfalt von Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen würden, eine sinnvolle Rolle bei der Festlegung der politischen Tagesordnung und bei der dauerhaften Gestaltung der Politik zu spielen.

Dieser Artikel ist eine Übersetzung des Artikels "Catching the deliberative Wave" von Claudia Chwalisz und Ieva Cesnulaityte.

Mehr Informationen: OECD-Bericht "Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions"