Belgischer Bürgerrat für Reform der Parteienfinanzierung

25. Mai 2023
We need to talk

34 Empfehlungen zur Reform der Parteienfinanzierung in Belgien sind das Ergebnis eines Bürgerrates zu diesem Thema. Am 24. Mai 2023 wurden alle Empfehlungen der 60 zufällig gelosten Bürgerinnen und Bürger dem Parlamentsausschuss für Verfassung und institutionelle Erneuerung vorgestellt.

Die Bürgerrat-Teilnehmer sind der Meinung, dass jede Partei über ausreichende Mittel zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben verfügen können sollte. Sie sollen dabei aber auch einige Regeln einhalten. Dazu gehören Beschränkungen zur Verhinderung von Verschwendung und der Bildung übermäßiger Reserven. Weitere Vorschläge: Eine jährliche Obergrenze für Ausgaben zur Werbung in den sozialen Medien und eine klar Festlegung, wofür Parteien ihr Geld ausgeben dürfen und wofür nicht. Eine ausgewogene Verteilung der staatlichen Finanzmittel zwischen großen und kleinen Parteien halten die Bürgerrat-Mitglieder für wichtiger als die Höhe der Mittel.

Mehr Transparenz und Kontrolle

Der Bürgerrat befürwortet auch mehr Transparenz und externe Kontrolle: Einnahmen und Ausgaben der Parteien sollen auf einer Online-Plattform einsehbar sein. Die Prüfung der Parteikonten soll durch eine unabhängige Stelle erfolgen, zum Beispiel durch ein externes Rechnungsprüfungsorgan mit unabhängigen Sachverständigen oder durch die Ausstattung des Rechnungshofs mit zusätzlichen Befugnissen.

Um neue Ideen in die politische Debatte einfließen zu lassen, sollen neue Parteien unter strengen Bedingungen eine Grundfinanzierung beantragen können. Wenn eine neue Partei mehr als 50.000 Unterschriften sammelt, soll sie dadurch Anspruch auf eine "Starthilfe" erhalten. Erreicht eine Partei bei einer nationalen Wahl 50.000 Stimmen, aber keinen Sitz, soll sie bis zur nächsten Wahl ebenfalls eine Grundförderung erhalten.

Jetzt ist die Politik dran“

"Alle Puzzle-Teile für eine Reform liegen auf dem Tisch. Der Appell der Bürger ist klar: Jetzt ist die Politik dran. Das verdient eine Weiterverfolgung", so Alicja Gescinska, Sprecherin des Bürgerdebatte-Projektes „We need to talk“.

Die Bürgerrat-Teilnehmer formulieren klare Erwartungen. Das Gremium hat hart gearbeitet", sagt Teilnehmerin Julia Dora (16): "Wir wollen wirklich, dass die Politiker darauf reagieren und damit arbeiten. Es wäre eine Schande, wenn das Ganze in der Schublade landen würde.“

"Nehmen Sie unsere Empfehlungen ernst"

Teilnehmer Jan (62) glaubt „nach wie vor an eine Demokratie, in der die Parteien eine wichtige Rolle zu spielen haben. Dafür brauchen sie natürlich wirksame Mittel. Aber ich vermisse Transparenz bei der Frage, wie diese Mittel zum Funktionieren unserer Demokratie beitragen". Er schließt mit einem Appell: "Nehmen Sie unsere Empfehlungen ernst und sehen Sie dies auch als einen wichtigen Schritt zur Beteiligung der Bürger an der Politik.“

Annelies Verlinden, Ministerin für Inneres, institutionelle Reformen und demokratische Erneuerung, hatte die Bürgerrat-Teilnehmer am 25. Mai 2023 empfangen. Der jüngste und der älteste der Teilnehmer überreichten ihr den Bericht. Die Ministerin dankte ihnen für ihre Arbeit. "Ich hoffe, dass Sie die Abgeordneten davon überzeugen werden, das Thema voranzubringen, und ich werde diese Arbeit, wenn nötig, unterstützen. Die Debatte ist hochaktuell. Die Parteienfinanzierung ist ein Thema, das dazu beitragen kann, das Vertrauen zwischen Politikern und Bürgern wiederherzustellen", erklärte Verlinden.

Reform der Parteienfinanzierung festgefahren

In Belgien ist die Reform der Parteienfinanzierung politisch festgefahren. Eine Gruppe von Denkfabriken und die Bürgerplattform G1000 hatte deshalb gemeinsam die Bürgerdebatte „We Need To Talk“ gestartet. Sie hoffen, dass die Bürger die Debatte in Gang bringen können.

Die belgischen Parteien erhalten jedes Jahr mehr als 75 Millionen Euro an Subventionen. In der Praxis ist dieser Betrag sogar doppelt so hoch, wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung der KU Leuven gezeigt hat, da die Fraktionsmitarbeiter, die vom Parlament bezahlt werden, in Wahrheit oft für die Parteien arbeiten. Die tatsächliche Subvention beläuft sich somit auf 160 Millionen Euro.

80 Prozent der Einnahmen der Parteien stammen aus staatlichen Subventionen. Bezogen auf die Zahl der Wähler erhalten die belgischen Parteien doppelt so viel Steuergelder wie ihre deutschen, dänischen oder schwedischen Kollegen und viermal so viel wie die niederländischen Parteien.

Belgische Parteien sind reich

Im Vergleich zu anderen Ländern haben die belgischen Parteien viel Geld. Dies zeigt sich an den hohen Beträgen, die die Parteien jährlich für Werbung in sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Twitter ausgeben. Die belgischen Parteien haben 2022 einen Rekordbetrag von 5 Millionen Euro für Werbung in den sozialen Medien ausgegeben, womit das Land Europameister ist. In den Top 10 der europäischen Politiker mit den höchsten Social Media-Ausgaben finden sich sieben Belgier.

Die Idee dahinter ist, dass die Parteien auf diese Weise nicht von Firmenspenden abhängig sind und damit nicht anfällig für Korruption werden. Fachleute warnen jedoch seit langem, dass das System zu weit gegangen sei.

„Geld beeinflusst Handeln der Parteien“

"All das Geld beeinflusst natürlich das Handeln der Parteien", sagt die Schriftstellerin und Philosophin Alicja Gescinska, die als Sprecherin des Projekts "We need to talk" fungiert. "Statt Politik zu machen, führen sie permanent Wahlkampf. Infolgedessen hat die Bedeutung von Wahlergebnissen stark zugenommen. Sie bestimmen nicht nur, wie viele Sitze man gewinnt, sondern auch, wie viel Geld man verdienen kann.“

Die Regierung unter Ministerpräsident Alexander De Croo hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag eine Reform der Parteienfinanzierung vorgenommen, doch diese Reform ist ins Stocken geraten. Alle Parteien sind sich einig, dass sich etwas ändern muss, aber nicht darüber, wie das neue System aussehen soll.

Blockade auflösen

Dies zeigte sich auch am 1. Februar 2023 im Verfassungsausschuss des Parlaments, der sich mit der Parteienfinanzierung befasst. Ein Expertenausschuss hatte Ende 2022 einen Bericht mit Vorschlägen vorgelegt. Dennoch hatte der Ausschuss beschlossen, neue Anhörungen durchzuführen.

Mit der Initiative "We Need To Talk" will eine Gruppe von Think Tanks und Organisationen, darunter Itinera, die Friday Group, das Egmont Institute und David Van Reybroecks G1000, die Blockade durch eine Bürgerdebatte lösen.

„Einen anderen Ansatz wählen“

„Es an der Zeit, einen anderen Ansatz zu wählen. Wenn sich die Politiker nicht selbst aus der Affäre ziehen können, sollten wir die Bürger fragen, wie sie vorgehen sollen“, heißt es auf der Internetseite der Bürgerdebatte. Die Bürger hätten etwas zu sagen, besonders heute. „Sie müssen keine Rücksicht auf politische Strategien und Wahlen nehmen, können also frei denken und Vorschläge machen. Außerdem werden die politischen Parteien in Belgien größtenteils mit Steuergeldern finanziert. Ist es dann nicht sinnvoll, dass die Bürgerinnen und Bürger über ihre Finanzierung mitbestimmen können?“, so die Argumentation.

Alle erkennen an, dass das System geändert werden muss", erklären die Organisationen. „Einige Parteien verfügen über ein so großes Vermögen, dass sie einen Teil ihrer Mittel in Immobilien oder an der Börse anlegen. Es gibt praktisch keine unabhängige Kontrolle der Parteienfinanzierung. Experten des Europarats kritisieren unser Land seit Jahren in dieser Hinsicht.“ Die derzeitigen Vorschriften seien mehr als 30 Jahre alt.

Alle Bürger konnten mitwirken

In der ersten Phase der Bürgerdebatte konnten alle Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag leisten. Über die Online-Plattform Rhetorik konnten Interessierte bis zum 24. März 2023 ihre Meinung zu Vorschlägen wie "Politische Parteien sollten ihr Geld an der Börse anlegen dürfen" und "Unternehmen sollten politischen Parteien Geld spenden können" äußern.

Die Antworten dienten als Anregung für den Bürgerrat, der vom 25. März bis zum 14. Mai 2023 getagt hat. 16.200 zufällig geloste Personen hatten hierfür eine Einladung erhalten. Am Ende blieben 60 Bürgerinnen und Bürger übrig, die drei Wochenenden lang darüber beraten haben, wie die politischen Parteien finanziert werden sollen. Sie haben von unabhängigen Fachleuten alle dazu notwendigen Informationen erhalten, sich mit den politischen Parteien ausgetauscht, um deren Ansichten zu erfahren und darüber informiert zu werden, was die breite Öffentlichkeit bewegt.

Die Politikwissenschaftler Bart Maddens (KU Leuven), Jean Faniel (CRISP) und Ingrid van Biezen (Universität Leiden) haben dem Bürgerrat Informationen zur Verfügung gestellt. Auch die politischen Parteien konnten sich zu Wort melden.

Diskussion in Kleingruppen

Nach der Informationsphase haben die Bürgerrat-Teilnehmer untereinander beraten. In kleineren Arbeitsgruppen konnten alle ihre Perspektiven einbringen. Sie haben diskutiert, worauf jeder Wert legt, und am Ende der Beratungen eine Reihe von Empfehlungen formuliert.

Als Dank für ihr Engagement haben alle Bürgerrat-Teilnehmer ein Honorar von 325 Euro erhalten. Für Bürger, die weiter als 100 km von Brüssel entfernt wohnen, wurden die Kosten für Hotelübernachtungen übernommen.

Treffen mit politischen Akteuren

Die Bürgerdebatte wurde von einem Begleitausschuss überwacht, in dem der ehemalige Ministerpräsident Herman Van Rompuy (CD&V) als Beobachter fungierte. Nach Abschluss der Bürgerdebatte haben deren Organisatoren Treffen mit wichtigen politischen Akteuren organisiert, um zu erfahren, was sie von den Bürger-Empfehlungen halten und was sie damit anfangen wollen.

Der Parlamentsausschuss für Verfassung und institutionelle Erneuerung hatte am 31. Januar 2024 zu den Empfehlungen des Bürgerrates Stellung bezogen. Bei der Anhörung wurde deutlich, dass sich die Regierungsparteien sich erneut nicht auf eine Reform der Parteienfinanzierung einigen konnten. Die Koalitionspartner hatten lediglich eine Einigung über einige kleine Maßnahmen wie die Regelung der Mitgliedsbeiträge und das Verbot von Spenden aus dem Ausland erzielen können. Die anwesenden Bürgerrat-Teilnehmer zeigten sich enttäuscht: "Kein einziger Vorschlag ist ernst genommen worden.“

"Sie verpassen eine große Chance"

"Am Ende liegt nichts auf dem Tisch", schlussfolgerte Ben Eersels von der Bürgerplattform G1000. "Das einzige, was fehlt, ist politischer Mut. Seit 20 Jahren wird darüber geredet - ohne Erfolg. 51 Prozent der Belgier haben kein Vertrauen mehr in die Politik. Sie verpassen eine große Chance, dieses Vertrauen zu stärken."

Nach dieser Kritik hatte der Parlamentsausschuss am 7. Februar 2024 angekündigt, doch noch einen letzten Einigungsversuch zu unternehmen. Jede Fraktion hatte bis zum 22. Februar 2024 für jeden der 34 "Wir müssen reden"-Vorschläge angegeben, ob sie mit ihm einverstanden ist oder nicht.

Keine konkreten Fortschritte

Der Ausschuss war am 28. Februar 2024 zusammengetreten, um über die Vorschläge zu beraten. Die Sitzung brachte jedoch keine konkreten Fortschritte. Die Parteien konnten keine Einigung erzielen, obwohl für 25 von 34 Empfehlungen Mehrheiten möglich waren. Die Regierungskoalition konnte sich auf die Unterstützung von 13 der Empfehlungen einigen. Audrey Broxson, eine der Teilnehmerinnen des Bürgerrates kommentierte: "Wenn ich es richtig verstehe, sind sich alle bei 13 der 34 Empfehlungen einig.  Worauf warten sie also noch, um diese umzusetzen?"

Was "We Need To Talk" erreicht hat, ist, dass alle Parteien zu jeder der Empfehlungen Stellung genommen und angegeben haben, ob sie dafür, dagegen oder mit Änderungen dafür sind. Die Parteien hatten auch die Möglichkeit, ihren Standpunkt zu begründen. Eine ungewöhnliche Übung in Transparenz.

Die Arbeit des Verfassungsausschusses an den Bürgerrat-Empfehlungen sollte am 13. März 2024 weitergehen. Eine Behandlung kam aber nicht zustande, weil nicht genügend Abgeordnete anwesend waren. Nun hoffen die Initiatoren des Bürgerrates, dass das Parlament die Bürger-Vorschläge nach der Parlamentswahl am 9. Juni 2024 wieder aufgreift.

Mehr Informationen: Burgerdebat „We need to talk“