Bürger machen Ernährungspolitik
In der Schweiz hat der "Bürgerrat für Ernährungspolitik" am 7. November 2022 seine 126 Empfehlungen für eine nachhaltigere Ernährungspolitik vorgestellt. Damit soll die Stimme der Bevölkerung in die Debatte miteinbezogen werden.
Die ausgelosten Bürgerinnen und Bürger empfehlen so etwa neben einer generellen Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung eine bessere Verbraucherinformation auf Produkten. Herkunfts- und Produktbearbeitungsländer sollen genauso erkennbar sein wie der Einsatz von Dünge- und Futtermitteln und der Nährwert von Lebensmitteln.
Weniger Zucker
Der Zuckergehalt von Lebensmitteln soll bis 2035 um 20 Prozent und der Zuckergehalt von gesüßten Getränken bis dahin um 50 Prozent gesenkt werden. In Produkten, für die kein Zuckerzusatz notwendig ist, soll der Einsatz von Zucker verboten werden. Besonders gesundheitsschädliche Produkte sollen nicht mehr beworben werden dürfen. Das gleiche gilt für Maxi-Packungen.
Weiterhin schlägt der Bürgerrat vor, gesunde Grundnahrungsmittel durch eine staatliche finanzielle Unterstützung zu einem niedrigen Preis erhältlich zu machen. Die Krankenkassen sollen ein Modell entwickeln, das einen gesunden Lebensstil von Mitgliedern belohnt. Bis 2030 will der Bürgerrat die für die Futtermittelproduktion genutzte Fläche um 30 Prozent reduziert sehen. Der Anteil der Flächen für den Anbau pflanzlicher Lebensmittel soll entsprechend ausgeweitet werden. Auch die Tierhaltung soll reduziert werden. Landwirte sollen für die Umstellung ihrer Betriebe Beratung und eine finanzielle Unterstützung erhalten.
CO2-Steuer
Die Losversammlung regt an, klimaschädliche Produkte mit einer CO2-Steuer zu belegen. Auch auf verarbeitete Produkte, die gesundheitsschädlich sind oder hohe Umweltkosten verursachen, soll eine Steuer erhoben werden. Regeln etwa für die Durchmesser von Zwetschgen oder die Länge von Gurken sollen gelockert werden, um die Lebensmittelverschwendung einzudämmen. Auch soll der Verkauf unverpackter Lebensmittel ebenso gefördert werden wie der Einsatz von Mehrwegverpackungen.
Die Empfehlungen geben ein Abbild ab "von den Sorgen und Anliegen aus der Mitte der Gesellschaft", sagte Projektleiter Daniel Langmeier am 8. November 2022 auf einer Pressekonferenz in Bern. Sie spiegelten die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zum Thema Ernährung wider. Die Empfehlungen seien differenziert und setzten die Hebel nicht nur bei der Produktion an - es seien alle gefragt, wenn die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit gelingen solle, so Langmeier.
100 Bürgerrat-Teilnehmer
Vom 12. Juni bis zum 6. November 2022 hatten 100 per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über eine nachhaltigere und krisenresistentere Ernährungspolitik diskutiert. Die Frage lautete: „Wie soll eine umfassende Ernährungspolitik für die Schweiz aussehen, die bis 2030 allen Menschen nachhaltige, gesunde und tierfreundliche Lebensmittel zur Verfügung stellt, die unter fairen Bedingungen für alle Beteiligten im Ernährungssystem produziert wurden?“
Die Bürgerrat-Teilnehmer kamen aus verschiedenen Ortschaften der Schweiz und waren hinsichtlich Alter, Geschlecht, Sprache und politischer Gesinnung ein Abbild der Schweizer Bevölkerung. Mit der Auslosung der Teilnehmer war das Marktforschungsinstitut Demoscope betraut worden. Es hat sichergestellt, dass die 100 Bürgerinnen und Bürger die Schweizer Bevölkerung repräsentieren.
Aufwandsentschädigung, Verpflegung und Unterkunft
Als Entschädigung für den Zeitaufwand für elf physische und virtuelle Treffen gab es für die Teilnehmer 500 Franken. Auch Verpflegung und Unterkunft wurden von den Veranstaltern organisiert.
Den Auftakt des Bürgerrates hatte ein Wochenende in Olten am 11./12. Juni 2022 gebildet. Hier waren alle 100 Teilnehmenden erstmals zusammengekommen, hatten sich kennengelernt und sich mit dem weiteren Vorgehen vertraut gemacht. Zugleich gab es einen wissenschaftlichen Gesamtüberblick über das Thema sowie Inputs von Interessengruppen. Darauf folgen fünf Online-Arbeitstreffen, mit thematischen Inputs und Dialogen in Kleingruppen.
Fachleute haben Teilnehmer informiert
30 Fachleute verschiedener Institutionen und Vertreter verschiedener Interessengruppen lieferten den Bürgerrat-Teilnehmern das notwendige Wissen, darunter Schweizer Bauernverband, Agrarallianz, Stiftung für Konsumentenschutz, Umweltallianz, IG Detailhandel, Fial, Allianz Sud, Plattform Agenda 2030 und Scienceindustries. Am Gesamtverfahren beteiligt sind auch drei Bundesämter: das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), jdas Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) und das Bundesamt für Umwelt (Bafu).
Das zentrale Element des Bürgerrates war der Meinungsbildungsprozess. In dessen Mittelpunkt standen professionell moderierte Dialoge, bei denen alle Teilnehmer gleichermaßen zu Wort kommen konnten. Sie haben durch Experten Informationen bekommen und einen Raum erhalten, um sich auszutauschen, Standpunkte abzuwägen und sich eine Meinung zu bilden. Herzstück dieser Dialoge waren Kleingruppen mit je zehn Personen, in denen die Teilnehmer ihre Perspektiven zusammengebracht und gemeinsam Empfehlungen erarbeitet haben.
Einbezug der Bevölkerung wichtig
Der Einbezug der Bevölkerung sei in einer Demokratie wichtig, sagte Johanna Jacobi, Professorin an der ETH Zürich und Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums des Rats. Die Ernährung werde derzeit sehr polarisiert diskutiert, insbesondere bei Landwirtschaft und Konsum. Wenn Bürgerinnen und Bürger mitdiskutierten, komme die Stimme aus der Bevölkerung und nicht von Interessengruppen.
"Wir erleben derzeit mehrere Krisen, die zusammenkommen", erklärte Jacobi. "Das Artensterben, die Energiekrise, die Gesundheitskrise", zählte sie etwa auf. Diese Krisen würden zusammenhängen und sich gleichzeitig verstärken. Die Ernährung und die Landwirtschaft seien Auslöser und Betroffene dieser Krisen. "Es ist klar, dass es einen Paradigmenwechsel braucht, im ganzen Ernährungssystem", so die Professorin.
"Ernährung geht uns alle an"
Angela Meier ist Heilpädagogin und war Teilnehmerin des Bürgerrates: "Ich bin selber Mutter und finde, Ernährung ist ein Thema, das uns alle angeht", sagt die 42-Jährige. Der pensionierte Betriebswirtschafter Philippe Gacond macht sich Sorgen um die Welt: "Ich habe teilgenommen, weil ich jede Gelegenheit beim Schopf packe, etwas zu verändern. Die Lage der Welt ist ernst."
Die 33-jährige Bäuerin Martina Stettler wollte als Teilnehmerin die Sicht der Bäuerinnen und Bauern einbringen: "Das Vorurteil, Bäuerinnen und Bauern seien schuld, bedrückt mich." Die 24-jährige Janina Inauen hat gerade ihre Bachelor-Arbeit geschrieben. Sie sagt: "Ich würde gerne auf einer Erde leben, die noch einigermaßen bewohnbar und schön ist."
Lernausflüge für Teilnehmer
Parallel zu den Bürgerrat-Treffen hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, in Form eines Lernausfluges jeweils ein bis zwei Projekte zu besuchen, die aktuell ein zukunftsfähiges Ernährungssystem mitgestalten, in der Anwendung erfolgreich sind und so mit gutem Beispiel vorangehen. Durch den persönlichen Austausch mit den jeweiligen Projektverantwortlichen haben die Teilnehmenden des Bürgerrates aus erster Hand von den Chancen und Hindernissen erfahren, auf die diese Projekte stoßen.
Die Lernausflüge sollten Wissen vermitteln und die Teilnehmenden des Bürgerrates dazu inspirieren und motivieren, diese zukunftsfähigen Ansätze und die damit verbundenen Chancen und Risiken in ihre Dialoge und in die Empfehlungsbildung einzubeziehen. Zu diesem Zweck haben die Teilnehmer das Gelernte in ihre Arbeitsgruppen getragen. Da die Mitglieder der Arbeitsgruppen jeweils verschiedene Lernausflüge besucht haben, flossen unterschiedliche Eindrücke und Erkenntnisse in den Arbeitsprozess ein.
Organisation durch „Ernährungszukunft Schweiz“
Organisiert wurde der erste nationale Bürgerrat des Landes von der Organisation „Ernährungszukunft Schweiz“. Finanziell unterstützt wurde die Losversammlung dabei vom Bundesamt für Landwirtschaft, dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, sowie dem Bundesamt für Umwelt. Der Bürgerrat ist Teil des Projekts "Ernährungszukunft Schweiz", das von der Stiftung Biovision, dem Sustainable Development Solution Network (SDSN) und Landwirtschaft mit Zukunft getragen wird.
Am 2. Februar 2023 sind die Empfehlungen des Bürgerrates zur Ernährungspolitik offiziell der Politik übergeben worden.
Mehr Informationen: Bürgerrat für Ernährungspolitik
Bildlinzenz: (CC BY 2.0)