Rückkehr zu G9 nach Bürgerforum

19. April 2024

Nach einem zufällig gelosten Bürgerforum kehrt das Land Baden-Württemberg zum neunjährigen Gymnasium zurück. Das hat Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) am 17. April 2024 im Landtag angekündigt: Kinder, die 2025 in die fünfte Klasse kommen, sollen der erste Jahrgang werden, der wieder neun Jahre das Gymnasium besucht. "Diese Entscheidung ist gefallen." Man arbeite "mit Hochdruck" an einem Konzept.

Man werde prüfen, ob beim Start zum Schuljahr 2025/2026 neben den Fünftklässlern auch die Sechstklässler auf das neunjährige Gymnasium umgestellt werden könnten, kündigte der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Thomas Poreski, an.

48 Bürgerforum-Empfehlungen

Die Mitglieder des Bürgerforums zur Dauer des allgemein bildenden Gymnasiums hatten am 11. Dezember 2023 ein Bürgergutachten mit 48 Empfehlungen an die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Barbara Bosch übergeben.

Seit dem Schuljahr 2004/2005 ist in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium Standard. Es war einst eingeführt worden, um die Schüler international wettbewerbsfähiger zu machen. G9 gibt es nur noch als Modellprojekt an 44 staatlichen Schulen und an einigen Privatschulen.

Ziel der G8-Reform verfehlt

Eine klare Mehrheit des Bürgerforums ist der Auffassung, dass das Ziel der G8-Reform verfehlt wurde und die erhofften Vorteile für die Wirtschaft (jüngere Absolvierende im internationalen Vergleich) durch G8 nicht eingetreten seien. Es seien aber unter diesem Kriterium auch keine Vorteile durch ein G9 zu erwarten.

49 der 55 Mitglieder des Bürgerforums sprechen sich für ein neues G9 als Regelfall an allgemein bildenden Gymnasien mit G8-Schnellläufer-Zügen an großen Gymnasien oder Gymnasien mit spezieller Profilbildung aus. Auch im ländlichen Raum soll pro Kreis mindestens ein G8-Zug angeboten werden.

G9 nicht die einzige Lösung

Eine deutliche Mehrheit von 78 Prozent sieht G8 nicht allein als Ursache für die Belastungen der jungen Menschen und demzufolge G9 auch nicht als die einzige Lösung, um Belastungen zu reduzieren. Mit die höchsten Zustimmungswerte mit über 95 Prozent erhielt die Aussage, dass weder bei G8 noch bei einer Rückkehr zum alten G9 die Sicherheit bestehe, dass die Bildungsziele mit dem aktuellen Schulsystem erreicht werden. Beides müsse reformiert werden. Daraus resultiert eine mit großer Mehrheit (89 Prozent) gefasste „dringende Empfehlung“ einer schulartübergreifenden Bildungsreform, um die Bildungsziele besser umsetzen zu können.  

Das Bürgerforum stellt außerdem fest, dass es aktuell keine ausreichende Bildungsgerechtigkeit gebe, da das Erreichen der Bildungsziele stark vom Bildungsstand, vom finanziellen Hintergrund und den Unterstützungsmöglichkeiten in der Familie abhänge. Hier müsse Bildungspolitik ansetzen und für Ausgleichsmöglichkeiten sorgen.

Ein Gegenfilter zu den Filterblasen“

Die baden-württembergische Landesregierung hatte den Beteiligungsprozess im Juni 2023 gestartet. „Das Thema G8/G9 wurde noch nie so ganzheitlich, nachhaltig und umfassend diskutiert. Dafür bin ich den Mitgliedern des Bürgerforums sehr dankbar. Der Dialogprozess hat eindrücklich gezeigt, dass Bürgerforen funktionieren. Sie wirken wie ein Gegenfilter zu den Filterblasen der sozialen Medien und der Einseitigkeit öffentlicher Erregungswellen. Sie nehmen eine Gewichtung der vielen Argumente vor und sind offen für langfristige Sichtweisen und Kompromisslinien“, sagte Staatsrätin Barbara Bosch bei der Übergabe in Stuttgart.

Tuğba Veli, Ursula Dow und Sébastien Gambin, die gemeinsam mit 52 weiteren Personen in vier Onlinesitzungen und zwei Präsenztagen im Bürgerforum mitgearbeitet hatten, hatten die zentralen Ergebnisse am 11. Dezember 2023 vorgestellt: „Lernen, Kreativität und Entwicklung sind Prozesse, die Zeit benötigen. Deshalb brauchen wir ein modernisiertes G9 mit Wahlmöglichkeiten für G8. Ein neues G9 soll unseren Kindern die benötigte Zeit für ein möglichst stressfreies und konstruktives Lernen geben. Trotz angespannter Haushaltslage sollte uns die Bildung unserer Kinder als Motor für Innovation und Zukunftsfähigkeit die nötigen Investitionen wert sein.“

Junge Menschen brauchen mehr Zeit

Ein starkes Argument für die zentralen Empfehlungen ist der Faktor Zeit. Eine klare Mehrheit (83 Prozent) denkt, dass junge Menschen in der Pubertät mehr Zeit brauchen, um sich zu entwickeln, um Verantwortung zu lernen und Orientierung zu finden. Einig war sich das Bürgerforum, dass mehr Zeit zum Lernen, Üben und Vertiefen des Unterrichtsstoffs zur Verfügung stehen sollte. Dieser Empfehlung haben als einzige alle Bürgerinnen und Bürger zugestimmt.

Auch zur Ausgestaltung eines modernisierten G9 äußert sich das Bürgerforum. 93 Prozent fordern kreative und partizipative Unterrichtsformate, die Verantwortung und Sozialkompetenzen fördern. 95 Prozent empfehlen mehr Praxisbezug durch Kooperationen mit Handwerk, Sozialdiensten usw. Für 85 Prozent soll die Schule grundsätzlich engere Kooperationen mit Vereinen, Hochschulen und Betrieben pflegen. 91 Prozent wünschen sich, dass die Digitalisierung vorangetrieben wird und 78 Prozent sind der Ansicht, dass mehr Unterrichtszeit für aktuelle gesellschaftliche Themen genutzt werden soll.

Investitionen in Bildung rechnen sich

Mit einer sehr hohen Zustimmung von 95 Prozent und ohne Gegenstimme kommt das Bürgerforum zum Schluss, dass die Investitionen in Bildung einen hohen gesellschaftlichen Wert darstellen und sich die Investitionen auch wirtschaftlich durch bessere Fachkräfte und innovationsfähige junge Menschen „rechnen”.

Staatsrätin Barbara Bosch betonte: „Das Verfahren hat dazu geführt, dass alle Argumente auf den Tisch gekommen sind. Das konnte man zum Beispiel an der Themenlandkarte zu Beginn des Prozesses sehen, die im Laufe der Zeit immer größer wurde. Und das war auch genau der Grund, weshalb wir das Bürgerforum ins Leben gerufen haben. Die öffentliche Debatte um G8 und G9 wurde bislang sehr verengt geführt. Und Bürgerforen sind ideal geeignet, ein komplexes Thema in seinen verschiedenen Facetten differenziert zu diskutieren.“

Die Landesregierung schätzt die Zivilgesellschaft“

Bosch dankte sowohl den Teilnehmenden des Bürgerforums für ihr großes Engagement als auch den Initiatorinnen der Initiative „G9 jetzt! BW“, denn sie hätten das Thema auf die landespolitische Bühne getragen. Bosch: „Die Landesregierung schätzt die Zivilgesellschaft und das gilt auch dann, wenn es kontroverse Debatten zur Regierungspolitik gibt. Bei diesem Bürgerforum ging es um eine Kernfrage in einem zentralen Feld der Landespolitik. Das ist gelebte Politik des Gehörtwerdens.“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und sein Stellvertreter, Innenminister Thomas Strobl (CDU), dankten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bürgerforums für ihre Arbeit. Durch diese stehe die Debatte nun auf einem breiteren Fundament. Die Landesregierung prüft nun eine Rückkehr zu G9. Das erklärte Kretschmann nach einer Kabinettssitzung am 12. Dezember 2023: „Wir sind offen für ein neues G9.“ Es werde nun ein neues Modell erarbeitet.

Themensuche vor Beginn

Bei der Auftaktveranstaltung zum Beteiligungsverfahren am 17. Juli 2023 war es zunächst um die Frage gegangen, welche Themen das spätere Bürgerforum beraten soll und welche Experten ihnen Informationen geben sollen. Dazu waren gut 60 Verbände und Interessengruppen eingeladen, darunter Schüler, Eltern, Lehrer und Rektoren - aber auch Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Landtagsfraktionen. Dabei ging es u.a. um die mentale Gesundheit der Schüler, um den Druck auf deren Familien und um die Investitionen in Schulräume und Lehrer, die für eine Rückkehr zu G9 notwendig wären. Alle Bürgerinnen und Bürger konnten sich zudem auf dem Beteiligungsportal der Landesregierung einbringen und mitdiskutieren.

Auf einer sogenannten Themenlandkarte waren 14 Themenfelder mit Duzenden Unterpunkten gesammelt worden, die die zufällig gelosten Bürger abarbeiten sollten. Zudem konnten diese weitere Themen auf ihre Agenda nehmen, sollte ihnen etwas fehlen.

Online-Beteiligung für alle Interessierten

Am 27. Juli 2023 hatte Staatsrätin Barbara Bosch den Startschuss für die zweite Phase im Beteiligungsprozess zur Dauer des allgemein bildenden Gymnasiums „G8/G9“ gegeben. Bis zum 22. September 2023 konnten sich alle Interessierten auf dem Beteiligungsportal des Landes beteiligen.

Das eigentliche Bürgerforum bestand aus 55 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Da die Dauer des allgemein bildenden Gymnasiums Auswirkungen auf andere Schularten und letztlich das gesamte Schulsystem hat, waren auch diese Teilnehmer nicht nur Personen mit Abitur, sondern alle Schulabschlüsse waren repräsentiert. Die Landesregierung hatte Anfang September 6.003 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus Baden-Württemberg zur Teilnahme am Bürgerforum eingeladen.

Information, Diskussion, Empfehlungen

Zu Beginn des Bürgerforums gab es eine ausgiebige Informationsphase. In mehreren Sitzungen konnten die gelosten Teilnehmer sich in einer Anhörung ein breites Bild vom Thema machen. Dafür hatten Expertinnen und Experten, Verbände und Betroffene ihr Fachwissen und ihre Argumente vortragen. Dies galt auch für die Initiative, die dem Landtag am 13. November 2023 mit 106.950 Unterschriften weit mehr aals die notwendigen 39.000 Unterschriften für den Volksantrag „G 9 jetzt! BW“ vorgelegt hatte, der eine Beratung des Themas im Landtag zum Ziel hat.

Danach wurden die Informationen von den Forumsteilnehmern in mehreren Sitzungen aufgearbeitet und diskutiert. Im letzten Schritt haben diese dann gemeinsame Empfehlungen erarbeitet.

Ein demokratischer Prozess“

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums zeigten sich mit dessen Ergebnis zufrieden. Zitate:

„Am Anfang konnte ich mir nicht vorstellen, wie wir in der Gruppe zu einem Ergebnis kommen sollen. Jetzt finde ich schön, wie differenziert das Ergebnis ist. Das zeigt, dass es ein demokratischer Prozess war.“

„Ich hatte am Anfang Angst, dass es eine rein bildungspolitische Debatte wird. Ich bin jedoch begeistert, dass bei eigentlich allen im Bürgerforum die Kinder im Vordergrund stehen und dass so tolle Empfehlungen weitergegeben werden, obwohl die meisten hier keinen beruflichen Bezug zum Thema haben.“

Arbeit im Bürgerforum sehr wertvoll“

„Ich fand die Arbeit im Bürgerforum sehr wertvoll. Großes Lob an die Moderation, die interessant und bürgernah durch die Themen - mit tollem Zeitmanagement - geführt hat. Ein gutes Ergebnis wurde erreicht. Ich hatte Spaß an der Diskussion mit immer neuen Menschen aus unterschiedlichen Kontexten.“

„Diese Art der direkten Demokratie sollte neben der repräsentativen Demokratie öfter geben. So kann man sich mit dem Thema gründlich beschäftigen und nicht nur einfach ein Kreuz setzen wie bei einer Bürgerabstimmung.“

Bürgergutachten übergeben

Am 7. Februar 2024 hatte das Bürgerforum zur Dauer des allgemein bildenden Gymnasiums sein Gutachten in einer Langversion an Barbara Bosch, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, und Theresa Schopper, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, übergeben und mit beiden zu den Ergebnissen und der Arbeit des Bürgerforums diskutiert. In dem 62-seitigen Gutachten wird gezeigt, wie das Bürgerforum gearbeitet hat und zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Das Gutachten wird nun in die Erarbeitung eines Konzepts für ein neues, zeitgemäßes G9 einfließen.

Kultusministerin Theresa Schopper zeigte sich beeindruckt: „Das Bürgerforum hat sich sehr viele Gedanken gemacht, wie ein zukünftiges Konzept des allgemein bildenden Gymnasiums aussehen könnte. Ich bin sehr beeindruckt. Wir setzen uns mit den Ergebnissen bereits intensiv auseinander und werden uns auch die nun vorliegende ausführliche Begründung genau ansehen.“

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