Verpasste Chance für die Demokratie

24. Oktober 2024
Deutscher Bundestag / Mehr Demokratie / Robert Boden

Vor der Bundestagswahl im Herbst 2025 wird es keinen weiteren Bürgerrat im Auftrag des Bundestages geben. Das haben die Regierungsfraktionen von SPD, Grünen und FDP jetzt bekannt gegeben.

Der Fachverband Mehr Demokratie kritisiert, dass hier gleich zwei Chancen verpasst wurden. Zum einen hätte ein weiteres Praxisbeispiel die Rolle von Bürgerräten in der parlamentarischen Demokratie weiter stärken können. Zum anderen sei ein Bürgerrat in Kombination mit einer wissenschaftlichen Kommission das richtige Instrument zur längst überfälligen Aufarbeitung der Corona-Pandemie.

Bürgerrat-Pläne der Bundesregierung

Im April 2024 hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die Einsetzung eines Bürgerrats und einer Bund-Länder-Kommission mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie vorgeschlagen. Die Ergebnisse des Bürgerrates sollten anschließend in die Arbeit einer neu zu schaffenden Kommission einfließen, der auch Vertreter aus Ländern und Kommunen angehören sollten. „Die Kommission soll bewusst über die Legislaturperiode hinaus über etwa vier Jahre die Pandemieaufarbeitung mit den gesellschaftlichen Realitäten und Herausforderungen auf regionaler, bundesweiter und europäischer Ebene verknüpfen“, sagte Mützenich.

Auch Grüne und FDP waren offen für die Idee. „Für uns Grüne ist entscheidend, dass wir schnell und möglichst im Konsens mit den anderen demokratischen Fraktionen klären, wie wir die Coronazeit aufarbeiten können“, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, der Zeitung. Dafür seien mehrere Instrumente denkbar, neben einer Enquete-Kommission im Parlament zähle dazu auch die Idee eines Bürgerrates.

„Debatte ohne Schaum vor dem Mund“

Von den Liberalen kam ebenfalls Zustimmung für die Idee eines Bürgerrates, am Wunsch nach der Einrichtung einer Enquete-Kommission hielten sie aber fest. Diese sei der „Gold-Standard, um hochkomplexe juristische und wissenschaftliche Fragen durch unabhängige Experten aufzuarbeiten“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin und Gesundheitsexpertin der FDP-Bundestagsfraktion, Christine Aschenberg-Dugnus. Ihre Partei sei jedoch offen für „weitere Gremien wie beispielsweise einen Bürgerrat“.

„Ein Bürgerrat und eine neu zu schaffende Kommission bieten die Chance, diese Debatten ohne Schaum vor dem Mund zu führen“, sagte SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast. So könnten die Gräben der Pandemie überwunden werden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte den Vorschlag, die Corona-Politik durch eine Enquete-Kommission oder einen Bürgerrat aufzuarbeiten. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach sich dafür aus, die Pandemie durch Bürgerräte aufarbeiten zu lassen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Letztlich konnte sich die Ampelkoalition aber nicht auf das Wie einer Aufarbeitung der Corona-Politik einigen. So kam auch kein Bürgerrat zum Thema zustande.

„Das ist das falsche Zeichen“

„Das ist in Zeiten schwindenden Vertrauens in die Politik das falsche Zeichen“, so Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie. „In der Corona-Zeit wurde bei vielen Menschen Vertrauen verspielt. Ein Bürgerrat wäre hier eine gute Möglichkeit, die Pandemie konstruktiv zu untersuchen und dabei nicht nur die Expertinnen und Experten, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen“, sagt Nierth. Während der Pandemie hatten in Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen Bürgerräte zur Corona-Politik stattgefunden.

Die Erfahrungen aus dem ersten Bürgerrat des Bundestags zum Thema „Ernährung im Wandel“ zeigen, dass sich das Instrument im Praxistest bewährt hat. Der Evaluationsbericht, der vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) der Bergischen Universität Wuppertal und dem Meinungsforschungs- und Beratungs-Institut Verian vorgelegt wurde, nannte das Projekt „erfolgreich im Sinne des Einsetzungsbeschlusses“, in dem der Bundestag Vorgaben für die Durchführung des Bürgerrates gemacht hatte. Auch vier von fünf der für die Evaluation befragten Bürger befürworteten die Einsetzung des Bürgerrates.

Würdiger Umgang mit Bürgerrat Ernährung

Wichtig für den Erfolg eines Bürgerrates sei aber auch der Umgang mit den Empfehlungen. Dieser sei im Falle des Bürgerrat Ernährung sehr würdig: „Statt in einer Schublade zu verschwinden, werden die Empfehlungen hervorgeholt und im Ausschuss zu Ernährung und Landwirtschaft in Fachgesprächen mit Expertinnen und Experten weiter diskutiert. Wichtig ist jetzt, dass den Worten auch Taten folgen“, so Nierth weiter. Mit dabei seien jeweils auch immer ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerrates Ernährung. Neben den Fachgesprächen ist jetzt auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages erschienen, das untersucht, was der Bundestag in Bezug auf das kostenfreie Kita- und Schulessen entscheiden kann.

Für die Organisation von Bürgerräten und das Festlegen der dort diskutierten Themen gibt es verschiedene Verfahren. Auf nationaler Ebene werden Losversammlungen meist durch eine Regierung oder wie in Frankreich durch den Präsidenten eingesetzt. Auch in Deutschland hatten das Außen- und das Forschungsministerium bereits eigene Bürgerräte zu den Themen Zukunft Europas, Bürgerbeteiligung in der Forschung sowie zur Verkehrswende auf den Weg gebracht. Die Variante des Einsetzens eines Bürgerrates durch den Bundestag ist international die Ausnahme.

Unabhängiges Verfahren in Ostbelgien

In der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien liegt die Organisation in den Händen eines dafür gelosten Gremiums. Der 2019 eingeführte Bürgerdialog aus Bürgerrat und Bürgerversammlung genießt eine große Unabhängigkeit. Die Themen können genauso eigenständig festgelegt werden wie die Organisation der Versammlungen der dafür ausgelosten Bürgerinnen und Bürger. Dies und das Verfahren zum Umgang mit den Empfehlungen der dort „Bürgerversammlung“ genannten Bürgerräte werden durch ein Gesetz geregelt. Damit ist der Bürgerdialog weltweit ein Vorreiter.und Vorbild, das sich schon viele Besucher zwecks Nachahmung angeschaut haben.

Eine Nachahmerin ist die Stadt Aachen, deren Stadtrat 2022 die Einführung eines ständigen Bürgerrates in Anlehnung an das Modell Ostbelgien beschlossen hatte. Wie in Ostbelgien können dort alle Einwohnerinnen und Einwohner Themenvorschläge einreichen. Ein gelostes Begleitgremium sichtet die Vorschläge und legt dem „Bürgerforum“ genannten Stadtratsausschuss einen Entscheidungsvorschlag vor. Ähnlich will die Stadt Lüneburg ab 2025 verfahren.

Themensetzung per Unterschriftensammlung

In Konstanz können 800 Einwohnerinnen und Einwohner mit ihrer Unterschrift die Durchführung eines Bürgerrates beantragen. Über die Durchführung entscheidet formal der Gemeinderat, der wie jede andere Kommunalvertretung auch selber Bürgerräte einsetzen kann.

Im österreichischen Bundesland Vorarlberg sind Themenvorschläge aus der Bevölkerung mit einer Unterstützung von mindestens 1.000 Unterschriften verbindlich. Wird diese Hürde übersprungen, ist die Landesregierung verpflichtet, einen Bürgerrat zum begehrten Thema einzuberufen. Zudem kann ein Bürgerrat von der Landesregierung oder vom Landtag beschlossen werden. Rechtliche Grundlage ist hier eine Richtlinie der Vorarlberger Landesregierung zur Einberufung und Durchführung von Bürgerräten. Durch die Landesverfassung ist das Land zur Förderung der Bürgerbeteiligung verpflichtet.

Reform in Baden-Württemberg vereinbart

In Baden-Württemberg hatten Grüne und CDU 2021 in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, den Volksantrag auf Landesebene zu erweitern. Bisher kann durch einen solchen Antrag erreicht werden, dass sich das Parlament mit einem Thema befasst. Durch die Erweiterung soll wie in Vorarlberg ein Bürgerforum mit zufällig gelosten Bürgern beim Landtag möglich werden. Ein Volksantrag muss von mindestens 0,5 Prozent der Wahlberechtigten unterzeichnet werden. Das wären rund 38.400 Unterschriften.

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