Klima-Bürgerrat mit Einwanderern

Erstmals hat in Berlin ein Bürgerrat ausschließlich mit Neu-Berlinerinnen und -Berlinern stattgefunden. Beteiligt waren nach Berlin Zugezogene aus Syrien, Marokko, dem Iran, aus Afghanistan und der Ukraine, die per Zufallsverfahren ausgewählt worden waren.
Diskutiert wurde auf Arabisch, Farsi, Ukrainisch, Deutsch und Englisch. Von den 26 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Neu-Berlinerrates sprachen 17 weder Deutsch noch Englisch. Vom 12. bis 18 Juli 2024 ging es an vier Tagen darum, welche Maßnahmen die Stadt Berlin mit Blick auf eine nachhaltige, klimafreundliche Mobilität ergreifen sollte. Was die Teilnehmer besonders hervorhoben: Als Migrantinnen und Migranten wurden sie einmal nicht, wie es sonst häufig geschieht, zu migrationsspezifischen Themen befragt, sondern zu einem Thema, das uns alle in der Gesellschaft angeht.
Videos aus Klima-Bürgerrat
Aus dem 2022 in Berlin durchgeführten Klima-Bürgerrat standen die etwa 15-minütigen Vorträge zu den Themen Klimawandel, Mobilität und den klimapolitischen Maßnahmen der Stadt Berlin in Form von YouTube-Videos zur Verfügung, so dass die Teilnehmer des Neu-Berlinerrates zu bestimmten, ausgewählten Themen exakt dieselben Vorträge gehört haben wie die Teilnehmer des Klimabürgerrates.
Die Videos wurden im Vorfeld übersetzt und in den drei Sprachen untertitelt. Da es technisch nicht möglich war, die untertitelten Videos auf drei verschiedene Bildschirme zu übertragen, haben die Organisatoren von der Technischen Universität Berlin den Teilnehmern zehn Ipads zur Verfügung gestellt, um die sich die jeweiligen Sprachgruppen versammeln konnten, zusätzlich zur Projektion des Original-Vortrags auf eine Leinwand.
Austausch mit Fachleuten
Die Fachleute, deren Vorträge die Bürgerrat-Organisatoren ausgewählt hatten, waren zu jeweils 15 - 30-minütigen Frage-Antwort-Sitzungen eingeladen worden, um den Teilnehmern die Gelegenheit zu geben, Fragen zu stellen und die Expertinnen und Experten live zu erleben. Nach den Vorträgen haben die Teilnehmer in sechs Gruppen bestimmte Fragen sowie von den Bürgerrat-Organisatoren vorgestellte Szenarien diskutiert und die Ergebnisse dieser Diskussionen anschließend in Plenumssitzungen besprochen. Für die Plenumsrunden und die Frage-Antwort-Sitzungen mit den eingeladenen Experten wurden Kopfhörer zur Verfügung gestellt. Drei Übersetzer haben alle Beiträge gleichzeitig live übersetzt.
Am 17. Juli wurden als Information für mögliche Zukunftsszenarien zwei Virtuelle Realität-Fahrräder bereitgestellt. Mithilfe des VR-Ausstattung konnten die Fahrradfahrer eine virtuelle Tour durch Berlin im Jahr 2037 unternehmen. Damit erhielten die Teilnehmer die Möglichkeit, viele der diskutierten Maßnahmen in die Stadt eintauchend zu erleben und sich zu neuen Ideen anregen zu lassen.
Ziel klimaneutrales Berlin 2045
Aufgeteilt in sechs Kleingruppen, hatten sie teils einsprachig, teils in mehreren Sprachen, über die Zukunft der Mobilität in Berlin diskutiert, stets ausgehend von dem übergeordneten Ziel eines klimaneutralen Berlins im Jahr 2045.
Nachdem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am letzten Sitzungstag zunächst eigene Empfehlungen formuliert hatten, hatten sie sich im Nachgang mit den Empfehlungen zum Thema Mobilität des Klimabürgerrates von 2022 befasst. Daraufhin hatten sie sich endgültig auf eigene Empfehlungen geeinigt. Einige davon sind als Zusätze zu den Empfehlungen des Klimabürgerrates formuliert, einige vollständig neu. Über alle Empfehlungen - die eigenen sowie die von 2022 - wurde am Ende abgestimmt.
Unterschiede zwischen Bürgerräten
In den Empfehlungen des Neu-Berlinerrates und im Abstimmungsverhalten zeigen sich im Vergleich zum Klima-Bürgerrat einige Unterschiede. So spielt, das wurde auch in den Diskussionen der Gruppen und im Plenum deutlich, das Thema Rassismus im öffentlichen Raum eine große Rolle, es beeinflusst das Sicherheitsgefühl, was sich unter anderem in der Forderung niederschlägt, Fahrschein-Schranken bei U- und S-Bahn einzuführen. Anders blickt die Neu- Berlinerrat auf die Bedeutung von Autos. Autofreie Zonen etwa lehnt der Bürgerrat ab. Zudem zeigt sich eine grundsätzliche Tendenz: Anreize finden eher Zustimmung als Verbote.
Breite Zustimmung fanden hingegen Empfehlungen des Klima-Bürgerrates zu dauerhaft niedrigen Fahrscheinpreisen und einer übersichtlichen Preisgestaltung, einer benutzerfreudlichen Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel oder der barrierefreie Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
16 Empfehlungen
Zu den 16 eigenen Empfehlungen gehören die Schaffung von mehr Parkplätzen für Fahrräder inklusive deren Überwachung. Außerdem sollen Trainings für alle angeboten werden, denen der Umstieg aufs Fahrrad schwerfällt. Im ÖPNV soll es einheitliche Preise für das gesamte Stadtgebiet geben, die Preiszonen sollen abgeschafft werden. Für Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs werden Sensibilitäts- und Rassismus-Trainings vorgeschlagen. Öffentliche Ansagen und Informationen sollen mehrsprachig sein.
Außerdem schlagen die Neu-Berliner vor, den Preis des Deutschlandtickets auf 9 Euro zu senken. Bus und Bahn in Berlin sollen insgesamt günstiger werden und es soll ein Familienticket geben. Durch die Verbreiterung von Fahrradwegen und die Verbesserung der Infrastruktur soll die Sicherheit für Fahrradfahrer erhöht werden; außerdem sollten Strafen für Autofahrer, die Fahrradfahrer behindern/Unfälle verursachen, verschärft werden.
Große Begeisterung für Bürgerrat
Für Menschen, die das Fahrrad und den öffentlichen Nahverkehr nutzen, wird ein Bonussystem angeregt. Der Anteil an erneuerbaren Energien am öffentlichen Nahverkehr soll durch die Installation von Solaranlagen auf den Dächern von Zügen, S-Bahnen und Gebäuden des öffentlichen Nahverkehrs erhöht werden. Um mehr Platz auf den Straßen zu schaffen, schlagen die Bürgerrat-Mitglieder die Entwicklung eines Drohnen-Liefersystems für kleine Pakete vor.
In Nachbefragungen und Interviews zeigten die Bürgerrat-Teilnehmer große Begeisterung für den Bürgerrat. Dabei wurde deutlich, dass die Zusammensetzung des Teams, das den Neu-Berlinerrat vorbereitet, organisiert und durchgeführt hat, wesentlich zu dessen Gelingen beigetragen hat. Kultur- und sprachsensible Fragen konnten im Vorfeld und während der Veranstaltung leicht gelöst werden, weil acht von 13 Personen im Team selbst Zugewanderte sind und nicht nur ihre sprachliche, sondern auch ihre kulturelle Kompetenz einbringen konnten.
Einbeziehung krisenanfälliger Gruppen
Den Rahmen des Neu-Berlinerrates bildete das EU Interreg Projekt zu partizipativem Regierungs- und Verwaltungshandeln, GEtCoheSive: Zwölf Partner aus sieben Städten in Italien, Slowenien, Österreich und Deutschland arbeiten hier an der Verbesserung von Beteiligung, insbesondere mit Blick auf die Einbeziehung von krisenanfällige Gruppen.
Zu diesen Bevölkerungsgruppen zählen Frauen, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, Menschen auf der Flucht, LSBTIQ+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen und weitere Geschlechtsidentitäten) sowie ethnische und religiöse Minderheiten.
Auswahlkriterien
Für den Neu-Berlinerrat wurden nach bestimmten Kriterien und in einem zweistufigen Verfahren Menschen ausgewählt, die seit 2015 nach Berlin zugezogen waren. Ein Schwerpunkt lag auf der Frage: Kann die Bereitschaft von Migranten, sich an einem Bürgerrat zu beteiligen, durch die Ansprache in ihrer jeweiligen Herkunftssprache erhöht werden?
Bei der Vorauswahl der beteiligten Gruppen hatten sich die Bürgerrat-Organisatoren ungefähr nach den Einwanderungszahlen gerichtet: Da laut Statistik die mit Abstand meisten Menschen zum Zeitpunkt der Auslosung des Neu-Berlinerrrates aus Syrien und Afghanistan nach Berlin kamen, hatten sie sich zunächst auf die Sprachen Arabisch und Farsi konzentriert. Seit 2022 kam außerdem eine hohe Zahl ukrainischer Geflüchteter hinzu.
Bei der Zusammenstellung des Neu-Berlinerrates wurden neben dem Berliner Bezirk, in dem die Teilnahmewilligen leben die Kriterien Alter, Herkunft und Geschlecht sowie Ausbildung, aktuell ausgeübter Beruf und Sprachkenntnisse Deutsch und Englisch berücksichtigt.
Unterstützungsangebote
Eine Herausforderung des Verfahrens, die Erreichbarkeit von bildungsferneren Schichten, konnten die Bürgerrat-Organisatoren mit ihrer Vorgehensweise, der Ansprache in den jeweiligen Herkunftssprachen, nur bedingt lösen. Die Anmeldungen zum Neu-Berlinerrates kamen in überdurchschnittlicher hoher Zahl von Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen.
Um die Schwelle möglichst niedrig zu gestalten, haben die Bürgerrat-Organisatoren in der Einladung deutlich gemacht, dass sie zusätzliche Hilfe zur Verfügung stellen: Barrierefreie Zugänge, Kinderbetreuung und die (im Bürgerrat üblicherweise nicht vorgesehene) Möglichkeit, sich von einer Vertrauensperson begleiten zu lassen, unter der Maßgabe, dass die Begleitpersonen selbst nicht aktiv am Bürgerrat teilnehmen. Gleich mehrere der Eingeladenen haben diese Unterstützung wahrgenommen und Bedarf nach Kinderbetreuung angemeldet bzw. darum gebeten, von einem Familienmitglied begleitet zu werden.
Auf 806 Einladungen hatten sich 74 Interessierte zurückgemeldet, dabei besonders viele Ukrainer sowie Farsi sprechende Menschen, arabisch sprechende Menschen hingegen weniger. Die Rückmeldequote lag insgesamt bei überdurchschnittlichen 9,2 Prozent.
Empfehlungen an Klimaschutz-Senatorin übergeben
Organisiert wurde der Neu-Berlinerrat von der Technischen Universität Berlin in Kooperation mit der Beauftragten des Berliner Senats für Partizipation, Integration und Migration. Mit der Durchführung war das Nexus-Institut betraut.
Am 14. Oktober 2025 waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Neu-Berlinerrates in die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt eingeladen, ihre im Juli erarbeiteten Empfehlungen als zusätzliche Stimme zum Klimabürgerrat von 2022 an Senatorin Bonde zu übergeben. Die Senatorin verlas alle 16 Empfehlungen, die ihr von zwei Bürgerrat-Mitgliedern in einem Gutachten überreicht worden waren, und sagte zu, den Neu-Berlinerrat in etwa einem Jahr erneut einzuladen, um über den Stand der Berliner Verkehrspolitik zu berichten.