Gespräche von Mensch zu Mensch

02. Dezember 2024
Jonas Baumgart / Mehr Demokratie

Gesellschaftliche Spaltungen, wachsende Polarisierung und das Gefühl, dass die Probleme uns über den Kopf wachsen – das sind Themen, die viele Menschen beschäftigen. Aber wie lässt sich dem entgegenwirken? Michendorf, eine Gemeinde in Brandenburg, hat am 9. Oktober 2024 dafür eine mögliche Antwort gefunden:

Unter dem Motto „Miteinander in Michendorf“ trafen sich mehr als 80 Bürgerinnen und Bürger, um in einem moderierten Dialog miteinander ins Gespräch zu kommen. Im Zentrum stand der Gedanke, den Zusammenhalt in der Gemeinde zu stärken und Brücken zwischen unterschiedlichen Perspektiven zu bauen. Das Besondere: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden per Zufallsauswahlverfahren eingeladen. Projektmitarbeiter Jonas Baumgart berichtet.

Warum Losverfahren?

Das Losverfahren, auch bekannt aus Formaten wie Bürgerräten, zielt darauf ab, eine möglichst repräsentative Gruppe der Gesellschaft an einen Tisch zu bringen. Im Fall von Michendorf erhielten rund 400 zufällig aus dem Einwohnermelderegister ausgewählte Bürgerinnen und Bürger eine Einladung.

Die Antwortquote war überraschend hoch: Fast 25 Prozent der Eingeladenen sagten zu. Das ist bemerkenswert, denn bei gelosten Bürgerräten liegt die Antwortrate oft deutlich darunter. Ein Grund dafür war das große Engagement der Bürgermeisterin, die sich stark für den Dialog einsetzte.

Die Organisatoren - die Gemeinde Michendorf in Zusammenarbeit mit dem Verein Mehr Demokratie - sehen diese hohe Resonanz aber auch als Zeichen, dass die Menschen einen großen Bedarf an echten, respektvollen Dialogen haben. „Es zeigt, dass viele bereit sind, miteinander ins Gespräch zu kommen, auch über kontroverse Themen“, erklärt Judith Strasser, Projektleiterin bei Mehr Demokratie.

Ein Abend des Dialogs

Das Treffen, das unter dem Motto „Miteinander in Michendorf“ angekündigt wurde, fand im Gemeindezentrum „Zum Apfelbaum“ statt. Bereits die Eröffnung durch Bürgermeisterin Claudia Nowka schuf eine offene Atmosphäre. Sie betonte, wie wichtig der direkte Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern sei: „Nur durch solche Gespräche erfahren wir, was die Menschen wirklich bewegt.“

Nach der Einführung begann der Abend mit dem Dialogformat “Sprechen & Zuhören”. Dabei ging es nicht darum, sein Gegenüber von seiner Meinung zu überzeugen, sondern einander mit den jeweiligen Befindlichkeiten gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen. 

Gemeinsam etwas voranbringen

Das von Mehr Demokratie entwickelte Format setzt auf kleine Gesprächsgruppen, in denen über Themen gesprochen wird, die den Menschen vor Ort wichtig sind. Abwechselnd wird dabei gesprochen und zugehört. Durch diese Struktur und eine professionelle Moderation wird sichergestellt, dass alle einander hören. In Michendorf waren die zentralen Fragestellungen “Wie geht es mir in Michendorf?" und “Wie geht es mir mit der Verwaltung in Michendorf?”. Am Ende wurde besprochen, was in den Kleingruppen erlebt wurde.

Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer äußerten sich positiv über die Veranstaltung: „Es ist toll zu merken, dass hier alle gemeinsam etwas voranbringen wollen, statt sich gegeneinander zu stellen“, so eine der Teilnehmerinnen. Dazu trug auch bei, dass sich Bürgermeisterin Nowka in der Abschlussrunde den Fragen der Michendorfer stellte.

"Menschen zusammenbringen und Brücken bauen"

Dabei ging es nicht nur um konkrete Anliegen wie bessere Fahrradwege, eine optimierte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr oder mehr Begegnungsräume für Jugendliche. Auch kritische Rückmeldungen, etwa zur Kommunikation zwischen Verwaltung, Bürgerinnen und Bürgern, wurden besprochen. Und es gab auch viele positive Stimmen: Viele Michendorferinnen und Michendorfer betonten, wie glücklich sie sind, in einer Gemeinde zu leben, die so viel Lebensqualität bietet.

Judith Strasser freute sich über die Offenheit der Mitwirkenden: „Es war schön zu sehen, wie hier unterschiedliche Ansichten auf Augenhöhe gehört werden konnten. Genau das ist unser Ziel: Menschen zusammenzubringen und Brücken zwischen verschiedenen Lebensrealitäten zu bauen.“

„Solche Formate brauchen wir hier häufiger“

Das Resümee eines Michendorfers: „Solche Formate brauchen wir hier häufiger“. Nach dem erfolgreichen ersten Dialog soll es weitergehen, die Gemeinde Michendorf will weitere Dialoge folgen lassen. Der nächste Bürgerdialog wird nicht losbasiert, sondern offen für alle Michendorferinnen und Michendorfer sein.

Bis Ende 2024 setzt Mehr Demokratie insgesamt etwa 30 solcher Veranstaltungen in ganz Brandenburg um. Jede Gemeinde bringt dabei ihre eigenen Themen und Herausforderungen mit - von Konflikten zwischen Alteingesessenen und Hinzugezogenen über die Ergebnisse der Landtagswahl bis zu größeren gesellschaftlichen Themen wie der Corona-Zeit oder dem heutigen Erleben der Ost-West Dynamik.

Überraschende Erkenntnisse

Die Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind dabei größtenteils positiv. Viele heben hervor, dass sie dabei erstmals die Gelegenheit hatten, Menschen mit ganz anderen Perspektiven zu begegnen und dabei dennoch auf Augenhöhe miteinander zu reden. „Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Austausch möglich ist. Wir waren uns in vielem uneinig, aber ich habe verstanden, warum der andere so denkt“, so ein typisches Feedback.

Mehr Demokratie setzt sich seit Jahren für innovative Formen der Bürgerbeteiligung ein, von Volksentscheiden bis hin zu Bürgerräten. Mit dem Schwerpunkt „Demokratische Kultur“ hat der Verein 2021 einen neuen Arbeitsbereich geschaffen, der gezielt auf Dialog und Verständigung setzt. Mit dem Pilotprojekt “Gespräche von Mensch zu Mensch” in Brandenburg soll erfahr- und spürbar werden, wie eine demokratische Gesprächs-, Diskussions- und Debattenkultur aussehen kann. Für 2025 ist die Ausweitung des Projektes auf weitere Bundesländer geplant.

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