Deutschland ist Bürgerrat-Weltmeister

Immer häufiger setzen Kommunen, Länder und zuletzt auch der Bundestag auf losbasierte Bürgerräte. Das zeigt der Bericht „Bürgerräte in Deutschland“ auf, den der Fachverband Mehr Demokratie und das Institut für Demokratie- & Partizipationsforschung der Universität Wuppertal (IDPF) am 30. Oktober 2024 der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Es ist der erste seiner Art und er basiert auf einer neuen Datenbank, die losbasierte Beteiligungsverfahren erfasst.
„Nirgends auf der Welt gibt es mehr losbasierte Bürgerräte als bei uns“, sagt Projektleiter Prof. Detlef Sack, Professur für Politikwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Der Bericht erfasst 322 Verfahren (davon 17 in der Vorbereitungsphase) seit 1972, als man die ersten Losverfahren "Planungszelle" nannte. Was die Zahl der losbasierten Bürgerräte betrifft, habe es in den 2020er-Jahren eine Explosion gegeben. Fanden in den 2010er-Jahren durchschnittlich jährlich sechs Losversammlungen in Deutschland statt, waren es in den Jahren 2020 bis 2023 fast 30 pro Jahr. „80 Prozent davon auf kommunaler Ebene“, so Sack.
Häufigkeit und Themen
Im Vergleich der Bundesländer liegt Nordrhein-Westfalen mit aktuell 75 Losverfahren vor Baden-Württemberg mit 67 Bürgerräten und Bayern mit 40 Losversammlungen. Bei den Kommunen liegt Berlin mit 25 Bürgerräten in Bezirken und Stadtteilen vor München mit acht und Bochum mit sechs Verfahren.
Häufigstes Bürgerrat-Thema ist die Stadtplanung. Da rund 80 Prozent aller Losverfahren auf auf lokaler Ebene stattfinden, verwundert das nicht. Weitere wichtige Themenfelder sind Infrastruktur, Nachhaltigkeit, Soziales, Umwelt, Bau, Bürgerbeteiligung, Klima und Verkehr.
Bürgerräte in der Praxis bewährt
„Deutschland ist Weltmeister der losbasierten Beteiligung“, sagt Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie. „Losbasierte Bürgerräte sind beliebt und bewähren sich in der Praxis. Sie liefern Antworten und tragen zur Lösung von politischen Konflikten bei. Bürgerräte ermöglichen konstruktive Prozesse bei kontroversen Themen und erhöhen die Zufriedenheit bei Bürgerschaft und Politik.“
Auf Bundesebene gab es bisher einen vom Bundestag eingesetzten Bürgerrat („Ernährung im Wandel“), der Ende Januar 2024 endete. Daneben gab es neun von Bundesministerien oder zivilgesellschaftlichen Akteuren organisierte bundesweite Bürgerräte und knapp 20 auf Landesebene. Ständig erfasst das Datenbankteam neue Bürgerräte und bisher unbekannte Fälle.
Ständige Bürgerräte
Bürgerräte finden zunehmend nicht nur als einmalige Projekte, sondern institutionalisiert statt. Als Institutionalisierung wird die formale Regelung und Verstetigung geloster Bürgergremien sowie die Zuweisung von bestimmten Aufgaben zu diesen bezeichnet. Hervorzuheben ist dabei insbesondere der ständige Bürgerrat in Aachen. Dessen Einsetzung wurde 2022 vom Rat der Stadt beschlossen. Ziel ist eine regelmäßige Beratung von immer wieder neu ausgelosten Einwohnerinnen und Einwohnern zu immer wieder neuen Themen. Ging es dabei 2023 um die Attraktivierung Aachens als Einkaufsziel, lautet das Thema 2024 Familienfreundlichkeit. In Lüneburg hatte der Stadtrat am 19. September 2024 ebenfalls beschlossen, Bürgerräte regelmäßig einzuberufen.
Beide Kommunen folgen dabei dem internationalen Vorbild des ständigen Bürgerdialoges in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien. Dort fanden seit 2020 bereits fünf geloste Bürgerversammlungen zu verschiedenen Themen statt. Einwohnerinnen und Einwohner können Themen vorschlagen. Über die zu behandelnden Themen entscheidet ein geloster Bürgerrat, der auch den Rahmen der Durchführung der Bürgerversammlungen bestimmt. Grundlage des Verfahrens ist ein Gesetz, das auch den Umgang mit den Empfehlungen der Bürgerversammlungen regelt.
Was ist ein Bürgerrat?
Unter der Bezeichnung "Bürgerrat" fasst die Studie Verfahren mit unterschiedlichen Namen zusammen. Mal heißen sie Bürgerrat, mal Bürgerforum, mal Bürgerdialog, mal Zukunftsdialog. Doch stets haben sie vier Gemeinsamkeiten: Die teilnehmenden Einwohnerinnen und Einwohner werden erstens nach dem Zufallsprinzip ausgelost. Sie verhandeln zweitens ein politisches Thema. Die Beratung findet drittens in Form von Gruppendiskussionen statt. Viertens legen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer inhaltliche Ergebnisse vor, in der Regel Empfehlungen, oft in Form eines Bürgergutachtens.
So erarbeite zum Beispiel der bundesweite Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ neun Empfehlung unter anderen zur Einführung eines kostenlosen Mittagessens in Kindergärten und Schulen. Sein Bürgergutachten umfasste gut 50 Seiten.
Wie alles anfing
Angefangen hatte in Deutschland alles mit den ersten Planungszellen 1972 in Schwelm. Einen Nachmittag lang diskutierten dort zufällig geloste Einwohnerinnen und Einwohner in Kleingruppen darüber, ob Haushaltsabfälle besser in Mülltonnen oder Müllsäcken entsorgt werden sollten.
Erfunden hatte das Demokratie-Instrument Professor Peter Dienel. Der 2006 verstorbene Soziologe war 1968/69 Mitglied in Planungsstab des seinerzeitigen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn. Dort stellte er fest, dass Politiker an langfristigen Lösungen kein Interesse haben. „Spitzenpolitiker sind verliebt in kurzfristige Lösungen“, erklärte er rückblickend in einem 2001 mit seinem Sohn Max geführten Interview. Planungszellen seien insofern „eine Innovation, die Probleme angeht, die weltweit bestehen“.
Menschen lernen schnell
In Losversammlungen gehe es um die „90 Prozent anderen“, die sich anders als Menschen mit einer politischen Mission oder Menschen, die sich einbringen, weil sie etwas stört, nicht politisch engagieren.
In seinen Planungszellen hat Dienel gelernt, dass Menschen in Situationen, die sie als Ernstfall definieren, schnell lernen. „Alle sind von der Aufgabe fasziniert, lernen, greifen nach Informationen und unterhalten sich ständig darüber. Die Kleingruppen machen keine Kaffeepause, sondern holen sich den Kaffee in die Gruppe und bringen informierte Vorschläge“, schildert Dienel seine Beobachtung. „Wenn die Menschen sehen, dass es um eine ganz neue Chance geht, sind sie in der Regel sofort dabei.“
„Tätigwerden als Inhaber des Staates“
Geloste Bürgergremien waren für den Soziologen „eine neue Möglichkeit für Menschen, für ihren Staat aktiv werden zu können.“ Sie schafften Systemvertrauen für die ganze Gesellschaft. Es gehe um ein „Tätigwerden als Inhaber des Staates“. Dafür werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von ihrer sonstigen Arbeit freigestellt und erhalten eine finanzielle Vergütung für ihre Beteiligung.
Dienel träumte davon, dass pro Jahr Millionen Menschen solche Verfahren durchlaufen. Er wusste aber auch: „Die Durchsetzung wird lange dauern.“ 50 Jahre nach den ersten Planungszellen geht die Saat nun langsam auf. Dienels Erbe ist u.a. die von ihm an der Bergischen Universität Wuppertal gegründete Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung und Planungsverfahren. Das heutige Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung hat den Bürgerrat-Bericht mitverfasst und die Bürgerrat-Datenbank aufgebaut.
Mehr Informationen
- Bericht: Bürgerräte in Deutschland (PDF, 44 Seiten)
- Datenbank Bürgerräte