Bürgerrat will neues Wahlsystem für Yukon

15. September 2024
Fair Vote Yukon

Im kanadischen Territorium Yukon hat ein Bürgerrat die Änderung des lokalen Wahlsystems vorgeschlagen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer empfehlen die Abkehr vom derzeitigen Mehrheitswahlrechts hin zum System der Rangfolgewahl.

38 für den Bürgerrat zufällig ausgeloste Yukoner aus den 19 Wahlbezirken des Territoriums sind diesbzgl. zu einem Konsens gekommen, heißt es in einer am 12. September 2024 veröffentlichten Erklärung der Mitglieder der Losversammlung,

Was ist die Rangfolgewahl?

Bei der Rangfolgewahl - auch Präferenzwahl genannt - können alle Wählerinnen und Wähler die von ihnen bevorzugten Kandidatinnen und Kandidaten ankreuzen. Dabei haben sie auch die Möglichkeit, alle Mandatsbewerber in der Reihenfolge ihrer Präferenz in eine Rangfolge zu bringen. Ein Kreuz auf dem Stimmzettel macht deutlich, welcher Kandidat die erste Wahl des jeweiligen Wählers ist. Für einen Wahlsieg benötigt ein Kandidat in seinem Wahlkreis 50 Prozent plus eine der abgegebenen Stimmen.

Erhält niemand 50 Prozent plus eine Stimme, scheiden nacheinander die Kandidaten mit der geringsten Anzahl an Erststimmen aus dem Rennen aus. Die nächste Präferenz der Wähler, die den ausgeschiedenen Kandidaten als ihre erste Wahl angekreuzt haben, wird dann auf die verbleibenden Mandatsbewerber verteilt. Das Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis ein Kandidat mindestens 50 Prozent plus eine der abgegebenen Stimmen erhält.

Folgen des Mehrheitswahlrechts

Bei der in Kanada angewendeten relativen Mehrheitswahl ist in einem Wahlkreis der Kandidat gewählt, der die meisten Stimmen erhält. Dabei ist es egal, ob diese Stimmen auch die Mehrheit aller Wähler ausmachen. Davon profitieren in der Regel Parteien mit regionalen Hochburgen und Regionalparteien überproportional. Durch eine Anwendung dieses Typs der Mehrheitswahl bilden sich oft Zweiparteiensysteme heraus.

Die Bürgerrat-Mitglieder weisen in ihrer Erklärung darauf hin, dass die politischen Parteien bei der Wahl ihrer Vorsitzenden häufig das System der Rangfolgewahl nutzen. Dieses Wahlsystem wird auch in Australien und Irland sowie in einigen Bundesstaaten der USA, darunter Alaska, verwendet.

„Ich denke, der Hauptgrund, warum sich unser Bürgerrat für die Rangfolgewahl entschieden hat, ist, dass wir das Gefühl haben, dass dadurch mehr Stimmen zählen“, sagt die Bürgerrat-Teilnehmerin Dana Sundby aus Watson Lake.

Weitere Bürgerrat-Vorschläge

Der Bürgerrat in Yukon empfiehlt dabei nicht nur Änderungen am Wahlsystem, sondern auch, dass die Reihenfolge der Kandidaten auf dem Stimmzettel nach dem Zufallsprinzip festgelegt wird. Elections Yukon soll ein „umfassendes Aufklärungsprogramm“ durchführen, um alle potenziellen Wähler über die Entscheidung zu informieren, die sie mit der Wahl treffen. Zudem sollen die Abstimmenden bei Volksentscheiden Abstimmungsvorlagen zu einem Thema ebenso in eine Reihe bringen können wie bei Wahlen mit Rangfolgesystem.

Der Bürgerrat-Teilnehmer Dave Mavi aus dem Bezirk Porter Creek Centre meint, dass „so ziemlich jeder“ in der Losversammlung der Meinung ist, dass das derzeitige Wahlsystem unzureichend ist. Die Rangfolgewahl ermögliche es den Wählern, für die Kandidatinnen und Kandidaten zu stimmen, die sie wirklich wollen. Das vorgeschlagene Wahlsystem öffne die Tür für kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten.

„Man wählt mit dem Herzen“

„Man wählt mit dem Herzen, statt einfach jemanden abzuwählen“, sagt Mavi. „Wir empfehlen etwas, das die politische Landschaft tatsächlich verändern kann“.

Vor dem Beschluss über ihre Empfehlungen hatten die Bürgerrat-Mitglieder von Mai bis September 2024 acht Tage damit verbracht, Grundregeln für die Versammlung festzulegen und sich über die verschiedenen Wahlsysteme und ihre mögliche Funktionsweise in der Region zu informieren und darüber zu beraten. Die verschiedenen Systeme wurden vor dem Hintergrund der einzigartigen geografischen Gegebenheiten und der Bevölkerungsverteilung im Yukon diskutiert und bewertet.

38 Teilnehmer aus allen Wahlbezirken

Der Bürgerrat bestand aus jeweils zwei Personen aus jedem der 19 Wahlbezirke in Yukon. Bei einer vom Yukon Bureau of Statistics vom 12. Januar bis 5. März 2023 durchgeführten Volkszählung hatten 1.793 Befragte ihr Interesse an einer Teilnahme bekundet. Aus diesen Interessenbekundungen wurden die 38 Bürgerrat-Mitglieder ausgelost. Die zufällig geloste Versammlung war Dank geschichtetem Losverfahren nach Alter, Geschlecht und indigener Abstammung ein Abbild der Bevölkerung des Territoriums. Teilnehmen konnten alle Kanadier ab 16 Jahren mit Wohnsitz in Yukon. Die Reise- und Unterbringungskosten der Teilnehmer wurden übernommen. Pro Sitzungstag erhielten die Mitglieder der Losversammlung 200 kanadische Dollar (rund 133 Euro).

In einer Umfrage, die das überparteiliche Sonderkomitee für die Wahlreform in Yukon im Jahr 2023 an alle Haushalte verschickt hatte, hatten sich 63,2 Prozent der Befragten für die Einrichtung dieses Bürgerrates ausgesprochen. 28 Prozent waren sich darüber nicht sicher und nur acht Prozent waren dagegen. Zuvor hatte sich die Initiative "Fair Vote Yukon" für den Bürgerrat eingesetzt.

„Polarisierung einfacher zu überwinden, als wir denken“

Dana Sundby sieht ihre Teilnahme am Bürgerrat als „echtes Privileg“. Eine der schwierigsten Aufgaben sei es gewesen, sich zu Beginn des Verfahrens auf gemeinsame Werte zu einigen. „Die Gruppe hat wirklich gut zusammengearbeitet. Wir waren sicherlich nicht immer einer Meinung, und ich glaube, jedes Mitglied hat seine Meinung ein paar Mal geändert, als es darum ging, welches System es für das beste hielt“, so Sundby.

Sundby nimmt insbesondere mit, dass eine große, zufällig ausgeloste Gruppe von Menschen, die sehr unterschiedlich sind, auf freundliche und respektvolle Weise zusammenkommen und zu einer Einigung kommen kann, und zwar auf „wirklich positive Weise“. „Ich denke, dass die Polarisierung, von der wir in der Gesellschaft hören, manchmal einfacher zu überwinden ist, als wir denken“, sagt Sundby.

Denkweise jedes Teilnehmers herausgefordert

Dave Mavi stimmt zu, dass die Mitglieder während des Verfahrens ihre Meinung geändert haben. Die Gruppe habe die Denkweise jedes Teilnehmers herausgefordert. „Ich fand die Erfahrung toll“, sagt Mavi. Er will den Abgeordneten des Yukoner Parlaments weitere Bürgerräte zu Themen wie Gesundheit, Haushalt und Erschließung vorschlagen.

Die Parlamentsopposition hatte den Bürgerrat kritisiert. Die Yukon Party hatte im November 2023 erklärt, dass die Zeit, das Personal und die finanziellen Mittel, die für den Bürgerrat aufgewendet wurden, besser für die Bewältigung der „vielen Herausforderungen“, mit denen die Yukoner konfrontiert sind, eingesetzt worden wären.

Dave Mavi und Dana Sundby sind der Meinung, dass der Bürgerrat eine gute Verwendung von Zeit, Personal und Geld war. Beide hoffen, dass das Parlament die Arbeit des Bürgerrates ernst nehmen wird.

Parlament entscheidet über nächste Schritte

Das Parlament muss nun die nächsten Schritte zum Umgang mit den Bürgerrat-Ergebnissen festlegen. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wann ein Referendum stattfinden wird, um den Bürgern des Territoriums die Möglichkeit zu geben, zu entscheiden, ob das System der Rangfolgewahl eingeführt wird oder das aktuelle Wahlrecht erhalten bleibt.

Der Bürgerrat zum Wahlrecht war der erste in der Geschichte Yukons und die dritte Losversammlung zu einer Wahlrechtsreform. Das Thema stand bereits 2004 der Provinz British Columbia und 2006 in der Provinz Ontario auf der Tagesordnung von Bürgerräten.

Bürgerräte in zwei Provinzen

In British Columbia hatte die Regierung 2004 einen Bürgerrat ins Leben gerufen, um über Änderungen des Wahlsystems zu beraten. Die zufällig geloste Bürgerversammlung hatte vorgeschlagen, das bestehende Mehrheitswahlrecht durch das System des „Single Transferable Vote“ - der übertragbaren Einzelstimmgebung - zu ersetzen. Damit sollte das Problem der unwirksamen Stimmen bei der reinen Mehrheitswahl behoben und eine bessere Repräsentation aller abgegebenen Stimmen bewirkt werden. Bei diesem Verfahren werden mehrere Sieger pro Wahlkreis ermittelt. Es dient explizit der Wahl von Personen, nicht der Wahl von Parteilisten.

Diese Empfehlung wurde den Wählern in einem Referendum, das gleichzeitig mit den Provinzwahlen 2005 abgehalten wurde, vorgelegt. Für eine Verbindlichkeit des Ergebnisses war eine „Super-Mehrheit“ erforderlich. Diese umfasste die Zustimmung von 60 Prozent aller Abstimmenden und einfache Mehrheiten in 60 Prozent der 79 Bezirke. Beim Referendum wurde der zweite dieser Schwellenwerte mit einer Zustimmung von 77 der 79 Abstimmungsbezirke erreicht. Der Anteil der Ja-Stimmen lag mit 57,7 Prozent jedoch unter der 60-Prozent-Marke. Die Empfehlung des Bürgerrates wurde deshalb nicht umgesetzt.

Wahlrechtsvorschlag in Referendum abgelehnt

Der Bürgerrat in British Columbia war trotzdem Vorbild für eine ähnliche Losversammlung in der Provinz Ontario. Im Mai 2007 hatte der dortige Bürgerrat empfohlen, dass Ontario eine Mischform aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht mit Erst- und Zweitstimme einführen sollte, wie es auch in Deutschland angewendet wird. Die Empfehlung des Bürgerrates wurde von den Wählern aber am 10. Oktober 2007 in einem Referendum abgelehnt. 63 Prozent der Abstimmenden votierten dagegen.

Der wichtigste Faktor für das „Nein“ in Ontario war laut dem Beteiligungsexperten Peter MacLeod ein Mangel an Identifikation mit dem Bürgerrat. „Die stärkste Verbindung zu einer Ja-Stimme war nicht das Wissen über die Besonderheiten des Wahlsystems, sondern die Bekanntheit des Bürgerrates“, erklärt MacLeod. In British Columbia sei die Identifikation mit dem dortigen Bürgerrat ungleich höher gewesen.

Wahlrechts-Bürgerrat für Deutschland

Auch für Deutschland empfehlen Wahlrechtsexperten nach dem Scheitern mehrerer Wahlrechtsreformen einen Bürgerrat zur Erarbeitung von Ideen für ein neues Bundeswahlrecht. "Geloste Gremien ergeben Sinn, wenn es in der Politik Blockaden gibt. In Deutschland würde sich zum Beispiel die Erarbeitung eines neues Wahlrechts anbieten", sagt dazu etwa Prof. Hubert Buchstein, Politikwissenschaftler am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald.

"Es ist angesichts seiner politischen Umstrittenheit lohnenswert, das Wahlrecht dem Parteienstreit zu entziehen und in eine ausgeloste Bürgerversammlung auszulagern. Durch ein solch unabhängiges, parteipolitisch neutrales, von 'normalen' Bürgern getragenes und von Fachleuten beratenes Gremium kann sichergestellt werden, dass Erwägungen über eigene (Wieder-)Wahlchancen keine Rolle spielen", schrieb er bereits 2017 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Dr. Michael Hein auf dem Verfassungsblog.

Die Wahlrechtsexperten Prof. Florian Grotz und Prof. Friedrich Pukelsheim befürworten in einem Essay-Podcast der FAZ ebenfalls einen Bürgerrat zum Thema Wahlrecht.

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