Bürgerrat mit Bürgerentscheid in Osterburg

Die Stadt Osterburg in Sachsen-Anhalt schreibt Geschichte: Als erste Kommune in Deutschland gibt sie der Bevölkerung in einem Bürgerrat mit anschließendem Bürgerentscheid die Möglichkeit, selbst über Klimaschutzmaßnahmen zu entscheiden. Im Rahmen des Modellprojekts "Klima trifft Kommune" wird die Radverkehrsplanung der Stadt zur Abstimmung gestellt - in einem Verfahren, das Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie auf eine neue Ebene hebt.
Der Stadtrat hat das Verfahren am 17. September 2024 mit großer Mehrheit (12 Ja-Stimmen, 5 Enthaltungen) beschlossen. Die 30 Mitglieder des Bürgerrates wurden per Losverfahren aus der Bevölkerung ermittelt. Mitte Mai 2025 waren 900 Menschen eingeladen worden. 168 Eingeladene hatten sich bis Mitte Juni 2025 zurückgemeldet. Aus diesen Bewerbungen wurde eine Losversammlung zusammengestellt, die nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort ein Abbild der Osterburger Bevölkerung ist. Die Bürgerrat-Mitglieder erhalten eine Aufwandsentschädigung von 240 Euro.
Bürgerrat erarbeitet Empfehlungen
Nach Anhörungen von Fachexperten und umfassenden Diskussionen in sechs von August bis November 2025 stattfindenden Sitzungen wird der Bürgerrat unabhängige Lösungsansätze für die Verkehrsplanung der Stadt Osterburg erarbeiten. Ob diese umgesetzt werden, entscheidet schließlich die gesamte Stadt in einem so genannten Ratsreferendum. Alle Bürger sind hierbei aufgerufen, an der Abstimmungsurne über die Empfehlungen des Bürgerrats abzustimmen.
Ein Ratsreferendum ist ein Bürgerentscheid, der nicht per Bürgerbegehren aus der Bevölkerung heraus initiiert, sondern vom jeweiligen Gemeinderat oder Kreistag beschlossen wird. Das Ergebnis ist bindend.
Modellprojekt für gesamtgesellschaftliche Entscheidung
„Mit dem Projekt schaffen wir ein bundesweites Modell dafür, wie schwierige politische Fragen, etwa im Klimaschutz, gesamtgesellschaftlich entschieden werden können”, erklärt Steffen Krenzer, Bereichsverantwortlicher Demokratie und Klima des Fachverbands Mehr Demokratie. „Es geht darum, Klimaschutz zu ermöglichen, der aktiv von den Menschen gestaltet wird. Viele Menschen wollen zwar grundsätzlich mehr Klimaschutz, sie sind aber unzufrieden mit den derzeitigen politischen Entscheidungsprozessen. Hier setzen wir an: Das Abstimmungsergebnis des Ratsreferendums ist bindend. Wir freuen uns, dass Osterburg als erste Kommune den Bürgerinnen und Bürgern das hierfür notwendige Vertrauen entgegen bringt. Das ist ein wichtiges Signal für die Demokratie."
Auch Nico Schulz, Bürgermeister von Osterburg (Altmark), betont die Bedeutung des Projekts: “Vor zwei Jahren haben wir bereits den ersten Bürgerrat Sachsen-Anhalts umgesetzt. Dieser hat wichtige Eckpunkte für ein Klimaschutzkonzept erarbeitet. Die erfolgreiche Beteiligung unserer Bürgerinnen und Bürger hat mein Interesse an weiteren Bürgerräten zu speziellen Fragestellungen geweckt.
"Größtmögliche Beteiligung der Bürger erreichen"
Nun strebt die Stadt ein Radwege- und Mobilitätskonzept an. In dieses Konzept wollen wir erneut ein umfassendes Meinungsbild der Einwohnerschaft einfließen lassen. Eine Erfahrung aus dem ersten Bürgerrat ist, dass eine gute fachliche Begleitung erforderlich ist. Deshalb bin ich froh, dass uns die Vereine Mehr Demokratie und BürgerBegehren Klimaschutz diese fachliche Begleitung im Rahmen des Projektes 'Klima trifft Kommune' angeboten haben. Das wird der erste Bürgerentscheid sein, der jemals in Osterburg stattgefunden hat. Bei einem positiven Verlauf könnte dies die Stadtpolitik motivieren, in Zukunft weitere Bürgerentscheide stattfinden zu lassen, um somit eine größtmögliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu erreichen."
Das Besondere an diesem Verfahren: Anders als bei bisherigen Bürgerräten in Deutschland wird die Empfehlung nicht nur an den Stadtrat weitergeleitet - die gesamte Kommune wird über einen Teil der Ergebnisse abstimmen.
Orientierung an erfolgreichen Beispielen aus dem Ausland
„Wir orientieren uns an erfolgreichen Beispielen aus dem Ausland“, erklärt Projektleiter Michael Efler von BürgerBegehren Klimaschutz. „In Irland wird das Zusammenspiel von Bürgerrat und nationalem Referendum seit einigen Jahren erfolgreich praktiziert. Dort folgen die Bürgerinnen und Bürger meist den Empfehlungen des Bürgerrates.“
Der Osterburger Bürgerrat soll im Frühjahr 2025 starten. Jeder Einwohner und jede Einwohnerin der Stadt hat die Chance, ausgelost zu werden. Die Teilnahme ist freiwillig.
Blick in die Zukunft
Die Anforderungen an Kommunen im Bereich Klimaschutz werden immer größer. Die Klimaziele von Bund, Ländern und Kommunen selbst erfordern große Anstrengungen von Politik und Verwaltung, aber auch von Bürgerinnen und Bürgern. Das Thema hat das Potenzial, nicht nur die kommunalen Haushalte und Personalkapazitäten, sondern auch die politische Stimmung in der Kommune zu belasten. "Klima trifft Kommune" begegnet den Herausforderungen mit demokratischer Innovation.
„Unser Ziel ist es, dass dem Beispiel von Osterburg weitere Kommunen folgen“, so Efler. „Sie könnten eine Vorbildfunktion im Umgang mit der Klimakrise und dem gemeinschaftlichen Gestalten der Zukunft einnehmen.“
Auch Flensburg, Pinneberg und Marzahn-Hellersdorf machen mit
Am 1. Oktober 2024 hat auch der Hauptausschuss der Flensburger Ratsversammlung beschlossen, beim Projekt "Klima trifft Kommune" mitzumachen: Flensburg beschließt Umsetzung von Bürgerrat mit anschließendem Ratsreferendum. Der Rat der Stadt Pinnberg hat sich am 10. Oktober 2024 ebenfalls für eine Teilnahme ausgesprochen: Pinneberg wird dritte Modellkommune. Der Berliner Bezirk-Marzahn-Hellersdorf hat am 20. Juni 2025 seine Teilnahme am Projekt bekanntgegeben: Marzahn-Hellersdorf startet Bürgerrat für Hitzeschutz in Marzahn-Nord.
Die Bürgerrat-Verfahren werden vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung der Bergischen Universität Wuppertal bzgl. die Einhaltung der Qualitätsstandards für dialogische Bürgerbeteiligung per Los überprüft und bewertet.
"Klima trifft Kommune" ist ein Gemeinschaftsprojekt von BürgerBegehren Klimaschutz und Mehr Demokratie. Gefördert wird das Projekt von der Robert Bosch Stiftung und der Deutschen Postcode Lotterie.
Projekt ausgezeichnet
Am 4. Juni 2025 wurde das Projekt "Klima trifft Kommune" vom Deutschen Städte- und Gemeindebund und der Initiative "Re:Form" mit dem "Bewährt vor Ort"-Siegel ausgezeichnet. Begründung: Das Projekt mache Kommunen resilienter für den Klimaschutz, indem Bürgerinnen und Bürger früh in Entscheidungsprozesse eingebunden würden, Lösungen für Klimaziele entwickelten und gleichzeitig das Vertrauen in die Demokratie stärkten.
Mit dem Siegel „Bewährt vor Ort“ werden erfolgreich erprobte Veränderungen der Verwaltungspraxis, ihrer Regeln ebenso wie Projekte ausgezeichnet, die gemeinsam von einer Verwaltungseinheit und einer gemeinnützigen Organisation umgesetzt wurden. Eine überparteiliche Jury aus Verwaltungspraktikerinnen und -praktikern hat 2025 zum zweiten Mal wegweisende kommunale Innovationen gewürdigt. Insgesamt wurden 29 Projekte in vier Themenbereichen ausgezeichnet.