Bürgerrat für Sterbehilfe in Frankreich

In Frankreich hat sich ein Bürgerrat am 19. Februar 2023 mit großer Mehrheit für die Legalisierung der Sterbehilfe ausgesprochen. 121 von 167 Abstimmungsteilnehmern stimmten dafür, 32 dagegen, zehn enthielten sich der Stimme. In einem weiteren Votum am 19. März 2023 votierten 75,6 Prozent der Abstimmenden für die Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen.
Am 5. März 2023 hatte der Bürgerrat zudem über 67 weitere Fragen abgestimmt. Insgesamt waren 97 Prozent der Abstimmenden unabhängig von ihrer Haltung zur Sterbehilfe der Meinung, dass der derzeitige Rahmen der Sterbebegleitung verbessert werden muss, insbesondere durch den Ausbau der Palliativmedizin. Die endgültigen detaillierten Empfehlungen werden am 3. April 2023 an Präsident Emmanuel Macron übergeben.
Recht auf Sterbebegleitung und Palliativmedizin
Die Bürgerrat-Mitglieder schlagen außerdem vor, ein "einklagbares Recht auf Sterbebegleitung und Palliativmedizin" gesetzlich zu verankern und die dafür notwendigen Mittel nach dem Prinzip "Was immer es auch kostet" bereitzustellen. Außerdem sollten Forschungsarbeiten zur besseren Linderung von Schmerzen finanziert und die Begleitung von Sterbenden durch Psychologen ausgebaut werden.
Der Bürgerrat zur Sterbehilfe in Frankreich läuft seit dem 9. Dezember 2022. Präsident Emmanuel Macron hatte in seinem Wahlkampf versprochen, die Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren, ähnlich wie in Belgien oder in der Schweiz. „Ich bin überzeugt davon, dass wir etwas tun müssen, da es unmenschliche Situationen gibt“, sagte er. Bis Mitte März 2023 soll der Bürgerrat Empfehlungen zur Sterbehilfe in Frankreich formulieren.
Bürgerrat ein Abbild der Bevölkerung
Organisiert wird der Bürgerrat vom Conseil économique, social et environnemental (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat, CESE), der dritten Parlamentskammer Frankreichs. Fachleute versorgen die Teilnehmer mit den notwendigen Informationen. Die Losversammlung mit 185 Teilnehmern wurde nach den Kriterien Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort und Beruf so zusammengestellt, dass sie ein Abbild der Bevölkerung darstellt. Der jüngste Teilnehmer ist 20, der älteste 87 Jahre alt.
Um Teilnehmer für den Bürgerrat zu gewinnen, hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Harris Interactive zufällig generierte Telefonnummern (85 % Handys und 15 % Festnetz) angewählt und die Angerufenen zur Teilnahme an der Losversammlung eingeladen.
Leitungsgremium gebildet
Zur Leitung des Bürgerrates hat der CESE ein Gremium unter dem Vorsitz von CESE-Mitglied Claire Thoury gebildet. Dem Leitungsausschuss gehören CESE-Mitglieder, Mitglieder des Nationalen Ethikrats, eine auf Gesundheitsethik spezialisierte Philosophin, ein Mitglied des Nationalen Zentrums für Palliativmedizin und Sterbebegleitung, Experten für Bürgerbeteiligung und Bürger an, die am nationalen Klima-Bürgerrat teilgenommen haben. Der Leitungssausschuss sichert die methodische Qualität des Verfahrens und achtet auf die Einhaltung der Grundsätze von Transparenz und Neutralität. Er wird sich bis Ende März 2023 wöchentlich treffen.
Insgesamt beraten die Bürgerrat-Mitglieder in neun dreitägigen Sitzungen miteinander über das Thema Sterbehilfe. Der CESE zahlt den Bürgerrat-Teilnehmern für ihre Arbeit eine Aufwandsentschädigung von 2.500 Euro brutto. Zusätzlich werden verlorene Arbeitsstunden mit 11 Euro pro Stunde ausgeglichen. Auch werden die Kosten für Reisen, Unterkunft und Verpflegung übernommen. Außerdem wird eine Zulage für Kinderbetreuung gezahlt.
Informationen für Bürgerrat-Mitglieder
Das Nationale Zentrum für Palliativmedizin und das Ende des Lebens (Centre national des soins palliatifs et de la fin de vie, CNSPFV), eine dem Gesundheitsministerium unterstellte öffentliche Einrichtung, hat für die Bürgerrat-Mitglieder ein umfangreiches Informationspaket zusammengestellt. Auf hundert Seiten finden sich dort auf wahren Fällen basierende Patientengeschichten, die es den Bürgerrat-Teilnehmern ermöglichen sollen, sich mit dem bestehenden gesetzlichen Rahmen vertraut zu machen. Auch soll die Information dazu dienen, Begriffe wie Patientenverfügung, „unvernünftige Hartnäckigkeit“ bei der Patientenbehandlung und Behandlungsverweigerung zu verstehen und die Organisation und Praxis der Patientenversorgung zu erklären.
Hinzu kommen grundsätzliche Informationen wie Schlüsselzahlen und Infografiken, eine historische Zeitleiste, ein Überblick über die Gesetzgebung in anderen Ländern sowie Informationen zur medikamentösen Behandlung. Außerdem erhalten die Bürgerrat-Teilnehmer Internetlinks zu wichtigen Quellen wie Gesetzestexten, Stellungnahmen und Berichten "Das Ganze soll eine möglichst objektive und neutrale Dokumentationsgrundlage bilden, die als roter Faden für die Moderation der Arbeitsgruppen dient", erklärt Giovanna Marsico, Vorsitzende des CNSPFV.
Gespräche mit Experten und Pflegekräften
Die Bürgerrat-Mitglieder können auch mit Experten wie dem ehemaligen Abgeordneten Alain Claeys sprechen, der Mitverfasser des 2016 beschlossenen Gesetzes zum Lebensende war. Auch ist eine Anhörung von Fachleuten etwa vom Nationalen Ethikbeirat oder von internationalen Experten vorgesehen, die die in ihren Ländern bestehenden Regeln erläutern werden.
Außerdem können sich die Bürgerrat-Teilnehmer mit Pflegekräften im weitesten Sinne - Ärzten, aber auch Krankenschwestern oder Pflegehelfern - und Betreuern von unheilbar Kranken austauschen, die ihren Alltag darstellen.
Bürgerrat "informiert die Regierung"
Im Januar und Februar 2023 haben die gelosten Bürger über das Gehörte und ihre Fragen und Meinungen dazu beraten. Im März 2023 formuliert die Losversammlung dann ihre Empfehlungen. Das Bürgerrat-Verfahren wird gemeinsam mit den Bürgern gestaltet. Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, das Arbeitsprogramm anzupassen, indem sie einen bestimmten Experten oder eine bstimmte Organisation anhören oder sogar einen Besuch in einer Gesundheitseinrichtung oder im Ausland organisieren möchten.
Die Empfehlungen des Bürgerrates sollen laut Premierministerin Elisabeth Borne „dazu dienen, die Regierung zu informieren". Sie versichert, dass die Teilnehmer "über die Folgemaßnahmen zu ihrer Arbeit informiert" und "über die Berücksichtigung ihrer Überlegungen und Empfehlungen unterrichtet" werden. Im Gegensatz zum 2020/21 durchgeführten Klima-Bürgerrat hat die Losversammlung zur Sterbehilfe kein Gesetzgebungskomitee, das die Bürgerrat-Vorschläge in Gesetzesform gießen soll. "Die 150 Bürgerinnen und Bürger haben nicht die Aufgabe, das Gesetz zu schreiben", so der CESE.
Referendum über Empfehlungen?
Während des Präsidentschaftswahlkampfs hatte Macron versprochen, "der Nationalversammlung oder dem Volk die Entscheidung zu unterbreiten, den Weg, der empfohlen wird, zu Ende zu gehen". Es wäre also nach Abschluss des Bürgerrates auch ein Referendum über dessen Empfehlungen zur Sterbehilfe möglich.
Parallel zu den Beratungen im Bürgerrat finden in den Regionen des Landes Debatten statt, um alle Bürger zu erreichen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu informieren und die Herausforderungen, die mit der Sterbehilfe verbunden sind, zu erkennen. Außerdem tauscht sich die Regierung auch mit den Abgeordneten und Senatoren über das Thema aus. Bis Ende 2023 sollen dabei Präzisierungen und Weiterentwicklungen des gesetzlichen Rahmens entstehen.
"Ruhige und informierte Debatte"
Die Debatte soll "jedem unserer Mitbürger die Gelegenheit geben, sich mit diesem Thema zu befassen, sich zu informieren, sich die gemeinsamen Überlegungen zu eigen zu machen und zu versuchen, sie zu bereichern. Die dafür notwendige Zeit wird zur Verfügung gestellt, und es muss alles dafür getan werden, die richtigen Bedingungen für eine geordnete, ruhige und informierte Debatte zu schaffen", heißt es in einer Pressemitteilung des Élysée-Palastes.
Obwohl die Ermöglichung der Sterbehilfe bei den Parteien in Frankreich auf breite Zustimmung trifft findet, lehnen sehr konservative Abgeordnete und die katholische Kirche diese weiterhin ab. Gegner der Sterbehilfe halten so etwa die Palliativmedizin in Frankreich für zu unzureichend, um die Sterbehilfe zu erlauben. Die Palliativmedizin bekämpft die Auswirkungen lebensverkürzender Erkrankungen.
"Wesentliche Grenzüberschreitung"
Zu den kritischen Stimmen zählt auch Jean Leonetti, Arzt und Co-Autor des aktuellen Gesetzes. „Ich bin für die Debatte an sich, denn der Tod ist ein Tabu in der westlichen Welt“, sagt er. Doch bei der Beihilfe zur Selbsttötung handele es sich um eine wesentliche Grenzüberschreitung. Auch kritisiert er, dass die Antwort schon feststehe, noch bevor der Bürgerrat die Arbeit aufgenommen habe. Der Präsident habe ein entsprechendes Gesetz ja schon versprochen.
Der Rat der christlichen Kirchen in Frankreich (CECEF) hat am 5. Dezember 2022 eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Die französischen Vertreter der katholischen, protestantischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften schreiben darin: "Die Würde einer menschlichen Gesellschaft besteht darin, das Leben bis zum Tod zu begleiten und nicht darin, den Tod zu erleichtern." Sie betonen die Aufmerksamkeit, die der "Person selbst in ihrer Würde, ihrem einzigartigen und unschätzbaren Wert" gewidmet werden müsse. Es gehe darum, sich in einer Haltung des Mitgefühls, des Zuhörens und des Wohlwollens um ihn zu kümmern".
"Der Mensch ist ein Beziehungswesen"
"Der Mensch ist ein Beziehungswesen", heißt es weiter. Die Freiheit des Einzelnen dürfe nicht mit Individualismus verwechselt werden. Dabei wird insbesondere der Begriff der Solidarität und der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen in der Gesellschaft hervorgehoben. Niemand sei der alleinige Eigentümer seines Lebens; seine Entscheidungen zählen auch für andere.
Derzeit bildet das Claeys-Leonetti-Gesetz den Rahmen für das Lebensende unheilbar kranker Menschen in Frankreich. Das Gesetz, das 2016 nach einer ersten Fassung aus dem Jahr 2005 verabschiedet wurde, verbietet Sterbehilfe, ermöglicht jedoch eine "tiefe und kontinuierliche Sedierung bis zum Tod" bei unheilbar kranken Menschen mit sehr großem Leiden, deren Lebensprognose "kurzfristig" in Gefahr ist.
Das Gesetz sieht den Behandlungsabbruch bei "unvernünftiger Hartnäckigkeit" vor: Auf Wunsch des Patienten können Behandlungen "abgebrochen" werden, wenn sie "unnötig oder unverhältnismäßig erscheinen oder keine andere Wirkung haben als die künstliche Aufrechterhaltung des Lebens". Wenn der Patient seinen Willen nicht äußern kann, muss die Entscheidung von den Ärzten "kollegial" getroffen werden.
Ethikrat: "Sterbehilfe erlauben"
Der nationale Ethikrat hat in einer am 13. September 2022 veröffentlichten Erklärung empfohlen, die aktive Sterbehilfe zu erlauben, allerdings "unter bestimmten strengen Bedingungen". Eine Neuregelung des Gesetzes zum Lebensende müsse untrennbar mit einer Verstärkung der Palliativmedizin verbunden werden und bestimmten ethischen Kriterien folgen. Diese Möglichkeit sollte nach Ansicht des Nationalen Ethikrats volljährigen Personen offenstehen, die an einer schweren, unheilbaren Krankheit leiden, die therapieresistente physische oder psychische Leiden hervorruft und mittelfristig zum Tod führt. Der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe müsse von einer Person ausgesprochen werden, die über ihre autonome Entscheidungsfähigkeit verfüge und die ihren Wunsch informiert und wiederholt ausspreche.
Der Ethikrat sieht aber auch eine Ungleichheit, wenn diejenigen, die physisch zu diesen Bedingungen nicht in der Lage seien, aus dem Geltungsbereich des Gesetzes fielen: „Der Rat überlässt es dem Gesetzgeber, die geeignetste Vorgehensweise zur Regelung dieser Situationen zu bestimmen, wenn er sich dieses Themas annimmt“, heißt es wörtlich in der Erklärung. Acht Mitglieder des Ethikrats haben einen Vorbehalt zur Stellungnahme des Gremiums geäußert.
Umfrage: Bevölkerung für Sterbehilfe
Die Sterbehilfe findet in Frankreich breite Unterstützung. Im Februar 2022 sprachen sich in einer Umfrage 94 Prozent der Befragten für die Legalisierung der Sterbehilfe für Menschen mit extremem und unheilbaren Leiden und 84 Prozent für die Legalisierung der Unterstützung bei Selbsttötungen aus.
Dem Nationalinstitut für demografische Studien (Ined) zufolge gibt es jedes Jahr zwischen 2000 und 4000 Fälle illegaler Sterbehilfe, während Zehntausende Menschen diese im Ausland in Anspruch nehmen.
Bürgerrat auf Jersey für Sterbehilfe
Auf der britischen Kanalinsel Jersey hatte ein Bürgerrat im Frühjahr 2021 mit großer Mehrheit für eine Änderung des Gesetzes zur Sterbehilfe gestimmt. 78,3 Prozent der Bürgerrat-Teilnehmer votierten dafür, dass Sterbehilfe für Erwachsene unter bestimmten Bedingungen erlaubt werden sollte. Dabei sollen allerdings strenge Regeln eingehalten werden. Eine Mehrheit von 69,6 Prozent war auch der Meinung, dass die Sterbehilfe auch für Menschen mit einer unheilbaren Krankheit oder unerträglichem Leiden verfügbar sein sollte. 22 Prozent vertraten die Meinung, dass diese Möglichkeit auf unheilbar Kranke beschränkt werden sollte.
Am 24. November 2021 hatte das Insel-Parlament die Legalisierung der Sterbehilfe grundsätzlich gebilligt. 2022 soll eine weitere Debatte über das Verfahren und Sicherheitsregeln stattfinden. Wenn diese Vorschläge unterstützt werden, könnte 2023 über einen Gesetzesentwurf diskutiert und abgestimmt werden.
Zweiter nationaler Bürgerrat in Frankreich
Der Bürgerrat zur Sterbehilfe in Frankreich wäre die zweite nationale Losversammlung des Landes. Im Juni 2020 hatte ein ebenfalls von Präsident Macron einberufener 150-köpfiger Klima-Bürgerrat 149 Empfehlungen beschlossen. Diese beinhalteten in einem 500seitigen Bürgergutachten weitreichende Vorschläge für Wirtschaft, Verkehr, Wohnen, Handel und Ernährung. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen sollte der CO2-Ausstoß des Landes bis 2030 um 40 Prozent reduziert werden. Kritiker hatten bzgl. der Umsetzung der Empfehlungen moniert, dass nicht einmal zehn Prozent der Vorschläge des Bürgerrates umgesetzt würden.
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