Bürgerrat-Boom in Japan

11. März 2025
Claudia Chwalisz

In den letzten Jahren fanden in Japan Hunderte von Bürgerräten statt, vermutlich mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Dennoch ist das Land kaum für seine Spitzenposition in Sachen deliberativer Demokratie bekannt.

Dieser Artikel erschien zuerst im DemocracyNext-Newsletter vom 14. Februar 2025.

DemocracyNext-Gründerin und Geschäftsführerin Claudia Chwalisz war im Dezember 2024 nach Tokio eingeladen worden, um auf dem jährlichen Japanischen Forschungsforum zu Bürgerräten zu sprechen. Sie sprach über die Arbeit von DemocracyNext zu Bürgerräten und dankte den Forumsmitgliedern für ihre japanische Übersetzung des DemocracyNext-Leitfadens „Assembling an Assembly“. Im Gespräch mit dem DemocracyNext-Beiratsmitglied Hugh Pope teilt sie ihre Eindrücke von Japans Platz in der globalen „Deliberativen Welle“.

Hugh Pope: Wie bedeutend ist der Aufschwung bei der Nutzung zufällig geloster Bürgerräte in Japan? Was macht die deliberativen Verfahren in Japan so besonders?

Claudia Chwalisz: In Japan wurde der erste Bürgerrat 2005 als Pilotprojekt durchgeführt. Mittlerweile gab es mehr 500 Losversammlungen (die OECD kennt 167 davon (Stand 2020) und die Denkfabrik Koso Nippon hat weitere 355 Verfahren organisiert). Als ich früher die Arbeit der OECD zu diesen Themen geleitet habe, war ich erstaunt, als ich zum ersten Mal erfuhr, wie viele Beispiele es in Japan gibt! Bei meiner jüngsten Reise habe ich noch mehr großartige Arbeit im ganzen Land entdeckt.

Die meisten Bürgerräte wurden in den letzten Jahren von Kommunalverwaltungen in ganz Japan durchgeführt. Sie sind in einigen Regionen inzwischen fester Bestandteil der kommunalen Kultur. Sie konzentrieren sich in der Regel auf lokale Planungsfragen und die Überprüfung kommunaler Pläne, um diese zu verbessern. Im Vergleich zu anderen Ländern machen die kommunalen Leistungsüberprüfungen einen ungewöhnlich großen Anteil aus.

Zufallsauswahl, Deliberation und Beteiligung

Zufallsauswahl, Deliberation und die Förderung der politischen Beteiligung sind für alle Bürgerräte in Japan von zentraler Bedeutung. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Mischung aus Shimin-Togikai (der ein- bis zweitägigen japanischen Version der von Deutschland inspirierten Planungszelle) und Jumin-Kyogikai (in der Regel viertägige Einwohnerräte).

In jüngster Zeit werden auch Bürgerräte organisiert. Wie auch anderswo handelt es sich dabei um Gruppen von bis zu 200 Personen, die per Losverfahren aus einer Gemeinde oder einem Land ausgewählt werden, um sich über mehrere Tage zu treffen, sich von Experten informieren zu lassen, zu beraten und mit qualifizierter Mehrheit Empfehlungen zu beschließen.

Wissenschaftler treibende Kraft

Von Anfang an waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die treibenden Kräfte hinter der Losdemokratie im Land. Einer von ihnen ist Professor Akinori Shinoto, der sich jahrzehntelang mit der Zivilgesellschaft in Deutschland beschäftigt hat. Besonders inspiriert war er von der Planungszellenmethode, die der deutsche Soziologieprofessor Peter Dienel entwickelt hatte. Nach seiner Rückkehr nach Japan setzte er sich stark dafür ein, diese Idee in Japan zu etablieren.

Professor Tatsuro Sakano spielte ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Mitgründung des Forums. Eine jüngere Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, dies voranzutreiben, darunter insbesondere die Professoren Motoki Nagano und Naoyuki Mikami und die Professorin Ayano Takeuchi.

Verfahren zu unumstrittenen Themen

Die meisten Deliberationsverfahren in Japan sind Shimin-Togikai (eine ein- bis zweitägige Variante), die sich auf unumstrittene Themen konzentrieren. Dadurch sind sie einfacher zu organisieren und kostengünstiger durchzuführen - wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie sich so schnell verbreitet haben. Allerdings können sie komplexe und kontroverse Themen nur begrenzt eingehend behandeln. Eine weitere Einschränkung bei der Behandlung nationaler Themen besteht möglicherweise darin, dass kulturelle Normen Respekt und Konfliktvermeidung betonen.

Die Bürgerräte werden in der Regel gemeinsam von Stadtverwaltungen und Bürgergruppen, insbesondere von der von jungen Geschäftsleuten getragenen Junior Chamber International, organisiert.

Kontrolle lokaler Planungen

Die Einwohnerräte sind in der Regel eher basisorientiert und werden von der Denkfabrik Koso Nippon (Japan Initiative) organisiert. Koso Nippon hat 335 solcher Räte einberufen, an denen mehr als 11.000 Menschen teilgenommen waren. Koso Nippon konzentriert sich insbesondere auf die Losversammlungen, die die Planungen der lokalen Regierung überprüfen, und hat damit sogar in Indonesien experimentiert.

In japanischen Städten werden inzwischen Bürgerräte zu dem schwierigeren, allgemeineren Thema Klima durchgeführt. Diese ähneln eher den Losversammlungen, die wir anderswo auf der Welt sehen, beginnend in den Städten Sapporo, Kawasaki, Musashino und Tokorozawa. Diese jüngeren Bürgerräte dauern in der Regel zwischen drei und sechs Tagen.

Pope: Ist die Zufallsauswahl als neue Art der Entscheidungsfindung in Japan beliebt?

Chwalisz: Die zufällige Auswahl von Entscheidungsträgern oder das Losverfahren sind in Japan nicht unbekannt. Sie werden in der Justiz seit mehr als einem Jahrhundert eingesetzt. Zwischen 1923 und 1943 wurden Geschworene nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, danach fungierten ab 1948 elfköpfige Jurys als staatsanwaltliche Prüfungskommission.

Seit 2009 gibt es ein System, bei dem sechs zufällig ausgewählte Laien neben drei Richtern sitzen, um über schwere Strafsachen zu entscheiden. Damit soll das System für Angeklagte gerechter gemacht werden.

Deliberative Umfragen

Auch bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an nationalen deliberativen Umfragen hat Japan auf das Zufallsprinzip zurückgegriffen. Dabei wurden verschiedene Themen behandelt, darunter Atomkraft, Lebensmittelsicherheit und Renten. Deliberative Umfragen dienen jedoch dazu, die öffentliche Meinung besser zu verstehen, und nicht wie bei Bürgerräten dazu, neue politische Maßnahmen zu formulieren und vorzuschlagen.

Dennoch sind zufällig ausgewählte Bürgerräte nicht Teil einer breiteren öffentlichen Diskussion über Demokratie oder Regierungsführung in Japan. Bürgerräte und Deliberative Umfragen werden in den Medien nicht viel beachtet. Obwohl sie so weit verbreitet sind, werden Losverfahren von der breiten Öffentlichkeit nicht als mögliche Alternative zur Wahl von Abgeordneten angesehen - selbst nicht unter Befürwortern der deliberativen Demokratie.

Unzufriedenheit mit Demokratie

Aufgrund meiner Gespräche während meines Aufenthalts in Japan scheinen die Menschen im Allgemeinen mit der Art und Weise, wie das Land regiert wird, zufrieden zu sein. Ich kann verstehen, warum - wenn man aus Europa nach Japan reist, denkt man: Wow, dieses Land ist perfekt! Aber natürlich gibt es auch grundlegende Probleme wie das Rentensystem, die steigenden Lebenshaltungskosten und eine sinkende Geburtenrate.

Eine von Pew Research 2024 in zwölf Ländern mit hohem Einkommen durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass nur 31 Prozent der japanischen Befragten mit dem Funktionieren ihrer Demokratie zufrieden waren. Dies war eines der schlechtesten Ergebnisse in allen untersuchten Ländern mit hohem Einkommen. (Im Durchschnitt waren in den zwölf Ländern nur 36 Prozent der Menschen in mit dem Funktionieren ihrer Demokratie zufrieden, ein Rückgang gegenüber dem Zufriedenheitswert von 49 Prozent im Jahr 2021). Auch die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen in Japan im vergangenen Jahr war eine der niedrigsten überhaupt. Nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten hat ihre Stimme abgegeben.

Pope: Glaubst Du, dass Bürgerräte einen Weg aufzeigen könnten, um solche größeren Probleme in Japan anzugehen? Ist man sich bewusst, dass Bürgerräte sich bei der Lösung solch schwieriger politisch-sozialer Probleme anderswo als unschätzbar wertvoll erwiesen haben, beispielsweise als sie nach Jahren der Pattsituation in Bezug auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen in Irland einen Durchbruch gebracht haben?

Chwalisz: Ja, es gibt ein Potenzial für den Einsatz von Bürgerräten bei der Lösung schwieriger politischer Probleme. Es gibt mehrere sensible Themen, die in der japanischen Politik nicht offen diskutiert werden, wie z. B. die Änderung der Verfassung, um eine weibliche Kaiserin zuzulassen, und wie die notwendigen Änderungen am Rentensystem angegangen werden können. Es gibt zwar gesellschaftliche Debatten über diese Themen, aber sie sind normalerweise nicht Teil der politischen Debatte.

Es mangelt jedoch an Fürsprache für Bürgerräte auf nationaler Ebene. Soweit ich weiß, drängt keine prominente Persönlichkeit auf einen nationalen Bürgerrat, um kontroverse oder umstrittene Themen zu erörtern, obwohl einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Japanischen Wissenschaftsforums für Deliberative Demokratie sehr daran interessiert waren, darüber zu diskutieren, wie die Ideen in die breite Öffentlichkeit getragen werden können.

Geloste Kammer vorgeschlagen

Mit der Zeit könnten sich andere Prominente auf nationaler Ebene bemerkbar machen. Der Präsident von Koso Nippon, Kato Hideki, ist Mitverfasser eines Artikels, in dem er sich für eine zufällig geloste zweite Kammer in Japan einsetzt. Diese Idee hat jedoch noch keine breite öffentliche Aufmerksamkeit bekommen.

Die Gruppe der Menschen, die sich für die japanische Bürgerrat-Bewegung interessieren, bleibt weitgehend akademisch und konzentriert sich auf Universitäten im ganzen Land. Die Herausforderung besteht darin, dies auszuweiten.

Öffentliches Bewusstsein fehlt

Das akademische Interesse und die große Anzahl an Bürgerräten haben sich noch nicht in einem breiteren öffentlichen Bewusstsein oder einem wesentlichen Perspektivwechsel niedergeschlagen. Wie bereits erwähnt, ist eine Ausnahme die Junior Chamber International Japan, deren mehrere hundert lokale Gruppen, in denen Geschäftsleute im Alter zwischen 20 und 40 Jahren organisiert sind, wichtige Partner bei der Unterstützung kommunaler Bürgerräte waren. Im Allgemeinen mangelt es jedoch an der Beteiligung von Organisationen der Zivilgesellschaft, Journalisten oder Schriftstellern.

Pope: Wie sehr fühlen sich die japanischen Bürgerrat-Befürworter in die globale deliberative Welle eingebunden?

Chwalisz: Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Bewegung für deliberativen Demokratie in Japan ursprünglich von den in Deutschland entwickelten Planungszellen inspiriert und geleitet wurde und die weltweite Beliebtheit von Klima-Bürgerräten aufgegriffen hat.

Die japanische Bewegung scheint jedoch von den breiteren globalen Entwicklungen weitgehend abgekoppelt zu sein. Sprachbarrieren könnten ein Faktor sein. Allerdings fließen einige Informationen, unter anderem dank der japanischen Übersetzung von Berichten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durch das Japanische Bürgerrat-Forum und unseres DemocracyNext-Leitfadens zur Organisation eines Bürgerrates.

„Die japanische Erfahrung ist einzigartig“

Auf der Konferenz des Japanischen Wissenschaftsforums zu Bürgerräten habe ich festgestellt, dass es ein großes Interesse an der Arbeit von DemocracyNext in nichtstaatlichen Zusammenhängen wie Museen, Genossenschaften und Universitäten gibt, was in Japan eher ungewöhnlich zu sein scheint.

Die japanische Erfahrung mit der deliberativen Demokratie ist einzigartig und zeigt, dass jedes Land die globale Bewegung für Bürgerräte auf unterschiedliche Weise umsetzt. Dennoch bleiben viele der Herausforderungen gleich: der Übergang von einmaligen zu verbindlichen und institutionalisierten Bürgerräten, die Vertiefung des Bewusstseins für und die Forderung nach den Vorteilen der Zufallsauswahl und die allgegenwärtige Herausforderung, die breite Öffentlichkeit für diese Ideen zu gewinnen.

Pope: Welche Erkenntnisse hast Du zur Zukunft von Bürgerräten in Japan gewonnen?

Chwalisz: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns, wie an vielen anderen Orten auch, noch in den Kinderschuhen befinden. Das Japanische Forschungsforum für Bürgerräte feiert beispielsweise gerade erst sein zehnjähriges Bestehen. Die absolute Wirkung mag noch nicht groß sein, aber der schnelle Anstieg der Zahlen ist bemerkenswert.

In Kyoto habe ich auch mit Professor Tatsuyoshi Saijo gesprochen, der mir erklärt hat, wie kleine Änderungen in der Methodik der Deliberation kreative Wellen auslösen können. Professor Saijo ist der Pionier des Beteiligungsverfahrens „Future Design“, das darauf abzielt, die Generationengerechtigkeit durch eine langfristige Perspektive auszugleichen.

Blick zurück aus der Zukunft

Eine von Professor Saijos Verbesserungen ist ein Verfahren, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten werden, sich vorzustellen, sie befänden sich 50 Jahre in der Zukunft und blickten zurück, und dann gefragt werden: „Wie kommen Sie zu der Zukunft, die Sie sich wünschen?“ Das eröffnet eine ganz andere Ebene der Kreativität, als Menschen in der Gegenwart zu verorten und sie zu bitten, in die Zukunft zu blicken. Wenn wir Veränderungen vom heutigen Standpunkt aus betrachten, können wir alle sehr stur sein.

Japan hat mir ein weiteres Paradoxon aufgezeigt, das es wert ist, genauer betrachtet zu werden. In Europa versuchen wir manchmal, junge Menschen in Bürgerräten überzurepräsentieren. Im Gegensatz dazu sagte mir Professor Saijo - der seine Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht per Losverfahren auswählt, sondern daran interessiert ist, seine Methodik mit Bürgerräten zu kombinieren - dass er insgesamt der Meinung ist, dass ältere Menschen viel kreativer als jüngere Generationen sind, wenn es um Ideen für die Zukunft geht.

Ich bin meinen japanischen Gastgebern dankbar, dass sie mich nach Tokio und Kyoto eingeladen haben. Arigato gozemasu, dass Sie Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen aus den letzten zehn Jahren des Experimentierens mit der deliberativen Demokratie mit mir geteilt haben!

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