„Bürgerräte sind reale Utopien“

07. Dezember 2024
Graham Smith

Wie können Bürgerräte zur Lösung der Klimakrise beitragen? Die französische Demokratie-Organisation „Missions Publiques“ hat sich mit Prof. Graham Smith darüber und über sein neuestes Buch dazu unterhalten. Als Vorsitzender des Knowledge Network on Climate Assemblies (KNOCA) beschreibt Smith Bürgerräte als konkrete Initiativen, die einen Einblick in eine andere Art von Demokratie geben.

Das Interview ist zuerst bei Missions Publiques erschienen.

Frage: Sie leiten das Knowledge Network on Climate Assemblies (KNOCA). In Ihrem Buch „We need to talk about Climate“ untersuchen Sie die Erfolge, Herausforderungen und Hoffnungen, die mit diesen Beteiligungsverfahren verbunden sind. Glauben Sie wirklich, dass Bürgerräte einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der aktuellen ökologischen und politischen Krisen leisten können?

Graham Smith: Das ist eine Frage, die ich mir jeden Morgen stelle! Wir müssen ehrlich sein: Viele Bürgerräte hatten nicht die systemische Wirkung, die wir uns erhofft hatten. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Nehmen wir den französischen Klima-Bürgerrat: Obwohl er oft kritisiert wird, zeigen unsere Untersuchungen, dass er mehr Wirkung hatte, als die meisten Kritiker glauben.

Umsetzungsverfahren fehlen

Ein Teil des Problems liegt im politischen Gedächtnis und im Fehlen von Umsetzungsverfahren. Nehmen wir die 9-Euro-Steuer auf Flugtickets: Sie wird derzeit diskutiert, aber nur wenige wissen, dass sie vom Klima-Bürgerrat vorgeschlagen wurde. Die Herausforderung besteht darin, dass es oft keine Verfahren gibt, die sicherstellen, dass die Vorschläge der Bürgerräte langfristig Teil der öffentlichen Debatte bleiben. Im Rahmen des Ständigen Bürgerdialogs in Ostbelgien überwacht beispielsweise ein Bürgerrat die Umsetzung der Empfehlungen der Bürgerversammlung.

Wir brauchen ähnliche Verfahren, um sicherzustellen, dass die Ideen der Bürger nicht nach ein paar Monaten verschwinden. Bürgerräte, so wie sie derzeit durchgeführt werden, werden an den Machtverhältnissen nichts ändern. Sie bieten jedoch einen Einblick in die Frage, wie eine andere Demokratie aussehen könnte. Dies steht im Einklang mit Erik Olin Wrights Konzept der „realen Utopien“: greifbare Initiativen, die alternative Wege aufzeigen.

Frage: Sie erwähnen Spannungen zwischen langfristiger Vision und konkreten Empfehlungen. Wie können diese beiden Ansätze in Bürgerräten in Einklang gebracht werden?

Smith: Das ist eine echte Herausforderung für die Verfahrensgestaltung. Bürgerräte entwickeln oft ehrgeizige Visionen, die den Status quo in Frage stellen, aber Regierungen neigen dazu, sich auf bestimmte Empfehlungen zu konzentrieren, von denen sie wissen, wie sie sie angehen können. Das schottische Beispiel ist dabei sehr anschaulich.

Regierungen nicht für Visionen gemacht

Die Regierung hat auf die Empfehlungen ihres Klima-Bürgerrates reagiert, indem sie alle relevanten Ministerien einbezogen hat. Auf dem Papier war das vorbildlich. Die Bürger hatten jedoch das Gefühl, dass ihre übergreifende Vision für Schottland nicht ernst genommen wurde. Regierungen sind so organisiert, dass sie leichter auf einzelne politische Empfehlungen reagieren können, nicht aber auf Visionen, die oft das vorherrschende System sprengen.

Frage: Irland wird oft als Maßstab genannt. Können Sie erklären, was die Bürgerräte dort so wirksam gemacht hat und ob ihr Modell anderswo nachgeahmt werden kann?

Smith: Die irische Erfahrung ist faszinierend, aber schwer nachzuahmen. Der Zusammenhang spielte eine entscheidende Rolle. Das Land erholte sich gerade von einer schweren Finanzkrise, die das Vertrauen in die Institutionen untergraben hatte. Bürgerräte wurden als Instrument zur demokratischen Erneuerung angesehen und von Anfang an von allen Parteien unterstützt.

Was Irland auszeichnet, ist die Einbettung in die Institutionen. Die Bürgerräte werden vom Büro des Premierministers beaufsichtigt, ihre Empfehlungen werden von einem parlamentarischen Ausschuss geprüft und dann an die Regierung weitergeleitet, wodurch eine strukturierte Nachverfolgung gewährleistet ist. Bürgerräte sind heute ein allgemein anerkannter Bestandteil der irischen Politik, der die Aufmerksamkeit der Medien und der breiten Öffentlichkeit auf sich zieht.

Politische Anbindung wichtig

Betrachten wir im Gegensatz dazu Österreich. Der dortige Klimarat war gut ausgedacht: sechs Wochenenden, Beteiligung von Interessengruppen und umfangreiche Debatten. Dennoch war die Klimaschutzministerin, der den Bürgerrat beauftragt hatte, nicht in der Lage, in der Regierung eine breitere Unterstützung zu bekommen. Ohne diese Unterstützung blieben die Empfehlungen wirkungslos. Selbst die besten Verfahren scheitern ohne eine starke politische Anbindung.

Auch das Gegenteil kann der Fall sein. Luxemburg ist ein interessantes Beispiel. Der dortige Klima-Bürgerrat war organisatorisch ein ziemliches Chaos: An jedem der fünf Wochenenden wurde ein anderes Thema behandelt. Die Zeit lief davon und es musste ein weniger strukturierter Ansatz entwickelt werden, um spontan Empfehlungen zu verfassen. Auf der Internetseite des Bürgerrates gibt es keine Informationen über dessen Arbeit. Dennoch hatte der Bürgerrat einen spürbaren Einfluss auf die nationale Politik, da er direkt mit dem Büro des Premierministers verbunden war.

Frage: In Ihrer Kritik heben Sie hervor, dass Bürger und politische Entscheidungsträger manchmal unrealistische Erwartungen an die Möglichkeiten von Bürgerräten haben. Könnten Sie ein Beispiel für solch eine unrealistische Erwartung nennen? Was ist Ihrer Meinung nach der „richtige Zweck“ oder das richtige Mandat für einen Bürgerrat?

Smith: Eine häufige unrealistische Erwartung ist der Glaube, dass Bürgerräte eine „Wunderwaffe“ sein können, die innovative Lösungen hervorbringt, die innerhalb bestehender Systeme von Politik und Verwaltung sofort anwendbar sind. Diese Ansicht unterschätzt die Vielschichtigkeit von Regierungssystemen, die Machtdynamik in politischen Gruppen und die Zeit, die benötigt wird, um Empfehlungen in konkrete Maßnahmen umzusetzen.

Französischer Klima-Bürgerrat beeindruckend

Ein eindrucksvolles Beispiel ist der französische Klima-Bürgerrat. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren enttäuscht, wie lange es gedauert hat, bis ihre Vorschläge in sichtbare politische Maßnahmen umgesetzt wurden. Doch jeder, der mit Gesetzgebungsverfahren vertraut ist, weiß, dass es oft Jahre dauert, bis ehrgeizige Maßnahmen umgesetzt werden. Diese Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Bürger und der Realität in der Verwaltung schürte ein Gefühl des Scheiterns, obwohl laut einer aktuellen KNOCA-Studie fast 70 Prozent der Empfehlungen zumindest teilweise umgesetzt wurden.

Frage: Um die Wirkung von Bürgerräten zu erhöhen, betonen Sie, wie wichtig es ist, Interessengruppen während des gesamten Verfahrens einzubeziehen. Würden Sie sagen, dass deren Beteiligung in der Nachbereitungsphase noch wichtiger ist?

Smith: Absolut. Die Beteiligung von Interessengruppen ist von entscheidender Bedeutung, nicht nur in Leitungsgremien und bei der Bereitstellung von Wissen, sondern vor allem in der Nachbereitungsphase. Dann müssen die Vorschläge der Bürgerräte ihren Platz im politischen und gesellschaftlichen System finden. Interessengruppen - ob aus der Wirtschaft, von Verbänden oder Nichtregierungsorganisationen - können eine entscheidende Rolle dabei spielen, diese Ideen in konkrete Maßnahmen umzusetzen oder den Druck auf die politischen Entscheidungsträger aufrechtzuerhalten.

Interessengruppen einbeziehen

Die Herausforderung besteht darin, die Interessengruppen so in Bürgerräte einzubeziehen, dass ihr Engagement und ihre Unterstützung für die Ergebnisse gestärkt werden, ohne die Vertrauenswürdigkeit des Verfahrens zu untergraben. Wir sehen einige interessante Experimente, bei denen Interessengruppen mit den Bürgerrat-Mitgliedern in einen Dialog gebracht werden, um eine breitere Wirkung zu erzielen.

Eine damit zusammenhängende Entwicklung ist die Art und Weise, wie Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen unabhängig von der Regierung selbst Bürgerräte beauftragen.

Unterschiedliche Ansätze für Bürgerräte

Mir ist zum Beispiel ein niederländischer Pensionsfonds bekannt, der eine auf Losverfahren basierende Versammlung genutzt hat, um seine Entscheidungen über ethische und nachhaltige Investitionen zu treffen. Und zivilgesellschaftliche Initiativen wie der People's Plan For Nature in Großbritannien und das bevorstehende norwegische Projekt, das sich mit der globalen Verantwortung seines Staatsfonds befassen wird, nutzen Bürgerräte, um neue politische Räume zu erschließen.

Wir treten in eine wirklich interessante Phase ein, in der es sehr unterschiedliche Ansätze dafür gibt, wie Bürgerräte ihre soziale und politische Wirkung maximieren können.

Frage: Damit Bürgerräte zu einem nachhaltigen und einflussreichen Instrument in der Klimapolitik werden, ist es Ihrer Meinung nach notwendig, eine Bürgerbewegung um sie herum aufzubauen. Könnten Sie diese Idee und ihr Ziel näher erläutern?

Smith: Ich bin fest davon überzeugt, dass Bürgerräte, wenn sie in der Klimapolitik Fuß fassen sollen, keine isolierten Experimente oder technokratischen Instrumente bleiben dürfen. Sie müssen Teil einer umfassenderen Dynamik sein, die von einer echten sozialen Bewegung getragen wird.

Diese Bewegung würde eine doppelte Rolle spielen: Einerseits würde sie die Rechtmäßigkeit der Bürgerräte bei Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit stärken, andererseits würde sie über einmalige Projekte hinaus für ständige Impulse sorgen.

Bürgerrat-Nutzung alltäglich machen

Bürgerräte werden zu oft als „Experimente“ oder Verfahren betrachtet, die vom politischen System abgekoppelt sind. Um dies zu ändern, müssen wir ihre Nutzung alltäglich und sie zu einem festen Bestandteil unserer Politik machen, sei es wie in Irland, in Form von dauerhafteren Gremien in Belgien und darüber hinaus oder durch von der Zivilgesellschaft geleitete Bürgerräte.

Wir müssen auch die Unterstützung der Bevölkerung mobilisieren. Wir sehen allmählich so etwas wie eine breitere Bewegung entstehen, die politische Akteure, Organisationen der Zivilgesellschaft, Akademiker, Künstler, Aktivisten und normale Bürger umfasst. Dies kann dazu beitragen, eine gesellschaftliche Nachfrage zu demonstrieren und eine Unterstützerbasis aufzubauen, die sie vor politischen Schwankungen schützt.

Kollektives Gedächtnis schaffen

Schließlich ist es von entscheidender Bedeutung, ein kollektives Gedächtnis zu schaffen. Bürgerräte geben oft Empfehlungen ab, die aus dem politischen Bewusstsein verschwinden. Eine Bewegung kann diese Ideen in der öffentlichen Debatte am Leben erhalten und die Menschen an ihren bürgerschaftlichen Ursprung erinnern.

Wir leben in einer faszinierenden Zeit. Bürgerräte weiten sich über die traditionellen Bereiche der Politik aus. Universitäten erforschen ihre Rolle in der internen Verwaltung, Künstler feiern ihr Potenzial als „Anti-Polarisierungsmaschinen“ und sogar Privatunternehmen engagieren sich. Bürgerräte allein können komplexe Krisen wie den Klimawandel nicht lösen, aber als demokratische Neuerungen zeigen sie uns, dass es auch anders geht.

Graham Smith ist Professor für Politikwissenschaften am Centre for the Study of Democracy (CSD) der School of Social Sciences an der Universität Westminster. Derzeit verbringt er einen Großteil seiner Zeit als Vorsitzender des Knowledge Network on Climate Assemblies (KNOCA), das von der European Climate Foundation finanziert wird. KNOCA hat sich zum Ziel gesetzt, die Beauftragung, Gestaltung, Durchführung, Nachbereitung und Bewertung von Klima-Bürgerräten zu verbessern, um deren Wirkung auf die Klimapolitik zu erhöhen.

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