Bürgerdialog in Ostbelgien zeigt Wirkung
Der zufällig geloste Bürgerdialog der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgien feiert seinen 5. Geburtstag. Ein Bericht zeigt, welche Wirkung die Losdemokratie dort hat.
Der 2019 per Gesetz eingeführte Bürgerdialog jenseits der deutsch-belgischen Grenze genießt eine große Unabhängigkeit. Die Themen können genauso eigenständig festgelegt werden wie die Organisation der Versammlungen der dafür ausgelosten Bürger. Dies und das Verfahren zum Umgang mit den Empfehlungen der dort „Bürgerversammlung“ genannten Bürgerräte werden durch ein Gesetz geregelt. Damit ist der Bürgerdialog weltweit ein Vorreiter.und Vorbild, das sich schon viele Besucher zwecks Nachahmung angeschaut haben.
Beschlüsse im Konsens
Die Beschlüsse der Losversammlungen werden in der Regel im Konsens getroffen. Ein aus ehemaligen Teilnehmern der Bürgerversammlungen geloster Bürgerrat tritt jährlich zusammen, um die Themen zu bestimmen, die im Laufe der nächsten zwölf Monate im Rahmen von Bürgerversammlungen besprochen werden sollen.
Bei der Auswahl der Themen kann der Bürgerrat auf Vorschläge zurückgreifen, die ihm entweder von mindestens zwei seiner Mitglieder, von einer Parlamentsfraktion, von der Regierung oder von mindestens 100 Bürgern unterbreitet werden. Der Bürgerrat formuliert auch die genaue Fragestellung, die von einer Bürgerversammlung beraten werden soll.
Umgang mit Empfehlungen geregelt
Das Bürgerdialog-Gesetz regelt auch den Umgang mit den Empfehlungen der Bürgerversammlungen im Parlament. Alle Mitglieder der Bürgerversammlung werden so etwa zur Vorstellung ihrer Vorschläge und zur Diskussion der Antwort des zuständigen Parlamentsausschusses eingeladen.
Der Bürgerrat übernimmt die Nachbereitung der Empfehlungen, die auf der Grundlage der Stellungnahme des Ausschusses umgesetzt werden sollen. Das ständige Sekretariat legt dazu in regelmäßigen Abständen Berichte zum Stand der Umsetzung der Empfehlungen vor. Falls er dies für notwendig erachtet, informiert der Bürgerrat die Mitglieder der betreffenden Bürgerversammlung über diesen Stand der Dinge.
Abschluss im Parlament
Innerhalb eines Jahres nach der Sitzung zur Diskussion der parlamentarischen Stellungnahme zu den Empfehlungen der Bürgerversammlung findet eine weitere öffentliche Sitzung des zuständigen Parlamentsausschusses statt, in der der Stand der Umsetzung vorgestellt und diskutiert wird. Auch hierzu werden alle Mitglieder der betreffenden Bürgerversammlung eingeladen.
Seit 2020 haben fünf Bürgerversammlungen ihre Empfehlungen an die Politik formuliert. Thematisch ging es um Pflege, Inklusion in der Bildung, bezahlbares Wohnen, Digitalisierung und Integration von Zuwanderern. Gerade hat die sechste Bürgerversammlung zum Thema Schülerkompetenzen ihre Arbeit aufgenommen.
41 wirksame Empfehlungen
Bei den ersten vier Bürgerversammlungen ist bereits das sogenannte Umsetzungsjahr abgeschlossen. Die entsprechende Umsetzung der Empfehlungen wurden also zwischen Bürgern und Politikern bereits diskutiert. Nicht weniger als 41 Empfehlungen wurden vom Parlament ganz oder in abgeänderter Form angenommen und umgesetzt oder spiegeln sich in dessen Entscheidungen wider. Die Ergebnisse wurden in einem Abschlussbericht des zuständigen Ausschusses beschrieben.
Bei der ersten Bürgerversammlung zum Thema Pflege waren 14 Empfehlungen ausgearbeitet worden. Sieben davon erzielten Wirkung. So hat die Deutschsprachige Gemeinschaft bzgl. der Empfehlung, die Ausbildungskosten für die Studentinnen und Studenten in der Pflege zu senken, inzwischen ein Stipendiensystem für Mangelberufe aufgelegt. Studierende eines Mangelberufes, wie Pflegeberufe, haben unter gewissen Bedingungen Zugang zu dem Stipendium, müssen aber ihre Fördermittel zurückzahlen, sollten sie den erlernten Mangelberuf nach der Ausbildung anderswo als in Ostbelgien ausüben. Das Stipendiensystem wird weiter ausgebaut.
Bessere Arbeitsbedingungen im Pflegesektor
Dank der Bürgerversammlung gibt es nun außerdem Angehörigenräte in allen Wohn- und Pflegezentren sowie Ombudspersonen in allen Pflegeeinrichtungen. Die Empfehlung, attraktive Arbeitsbedingungen im Pflegesektor zu gewährleisten, hat die Regierung dazu veranlasst, Personalnormen für die Pflege festzulegen. Demnach können Pflegeeinrichtungen das Personal gezielter einsetzen und Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen. So wurde auch das Berufsbild des „Alltagsbegleiters“ eingeführt. Zudem hat die Regierung die Gehälter im Pflegesektor um durchschnittlich rund 12 Prozent erhöht
Auf Empfehlung der Bürgerversammlung zur inklusiven Bildung wurde 2022 vom Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft ein Gesetz zur Schaffung eines Beirats für Menschen mit Beeinträchtigung verabschiedet. Im April 2023 wurden die Mitglieder dieses Beirats durch die Regierung bestellt. Der gegründete Beirat hat den Status einer öffentlichen Organisation. Weitere übernommene Empfehlungen hatten sich mit Themen wie Förderpädagogik und einer inklusiven Zusammensetzung der Elternräte befasst.
20 Vorschläge für bezahlbares Wohnen umgesetzt
Von der Bürgerversammlung für bezahlbares Wohnen wurden u.a. Empfehlungen zu einer Bedarfsanalyse für Wohnraum, zur finanziellen Unterstützung wohnungssuchender Jugendlicher und zur Förderung alternativer Wohnformen aufgegriffen. Insgesamt 20 Vorschläge aus dieser Losversammlung haben Veränderungen bewirkt.
Mit Blick auf die Bürgerversammlung zum Thema Digitalisierung hatte die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft am 25. März 2024 ihre Digitalstrategie dargestellt. Darin wird der Bürgerdialog mehrere Male explizit erwähnt. Die Strategie greift auch mehrere Bürgerempfehlungen auf. Darin geht es u.a. um außerschulische Informationsveranstaltungen für Eltern, zugängliche Angebote für Senioren und digitale und analoge Teilhabe in der öffentlichen Verwaltung.
„Bürger haben sich ernst genommen gefühlt“
„Die ersten fünf Jahre des Bürgerdialogs in Ostbelgien haben gezeigt, dass das Projekt erste Wirkung hinsichtlich seiner Ziele zeigt: Die teilnehmenden Bürger haben sich von der Politik ernst genommen gefühlt, da die Ausschüsse die entsprechenden Empfehlungen ernsthaft bearbeitet haben“, sagt Anna Stuers, Sekretärin des ständigen Bürgerdialogs. Auch die zuständigen Regierungsmitglieder hätten die Mitglieder des Bürgerdialogs in Gesprächen zur Nachverfolgung der Empfehlungen ernst genommen.
Sei eine Empfehlung nicht umgesetzt worden, sei dies „transparent, detailliert und nachvollziehbar“ im entsprechenden Abschlussbericht des zuständigen Parlamentsausschusses begründet worden. „Dies trägt im Wesentlichen zum besseren Politikverständnis bei den Bürgern bei“, so Stuers.
Mit besten Empfehlungen
Diese und andere Vorteile des Ostbelgischen Modells der Losdemokratie haben auch Institutionen wie der Europarat oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erkannt. Sie empfehlen, die Losdemokratie andernorts nach diesem Vorbild zu gestalten. Die Städte Aachen, Brüssel, Lüneburg und Paris sind dem Beispiel in abgewandelter Form bereits gefolgt.
Mehr Informationen
- Bürgerdialog in Ostbelgien: Bericht zur Umsetzung der Bürgerempfehlungen in der Legislaturperiode 2019 - 2024
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