Bürgerblick auf Straßennamen

21. November 2024
Michael Sch. / Wikipedia

In Warendorf hat ein Bürgerrat am 20. November 2024 seine Vorschläge zum künftigen Vorgehen bei der Benennung von Straßen an den Stadtrat übergeben. Hintergrund ist die Benennung von Straßen nach Menschen, denen die Unterstützung des Nationalsozialismus vorgeworfen wird.

Der Bürgerrat hat Empfehlungen zu folgenden Themen formuliert:

1. Grundlegende Vorgaben für zukünftige Straßenbenennungen

2. Generelles Verfahren bei Anträgen zu Straßenumbenennungen

3. Umgang mit den konkret beantragten Umbenennungen von vier Straßen

Bestandteile des Treffens des 16-köpfigen Bürgerrates am 11. und 12. Oktober 2024 waren ein Speed-Dating, Fachvorträge, eine Stadtführung sowie Expertengespräche. In einer Kennenlernrunde am ersten Sitzungstag am 11. Oktober standen neben Persönlichem vor allem Fragen rund um den eigenen Wohnort im Vordergrund: warum heißt die eigene Straße, wie sie heißt und wer hat sich überhaupt schon einmal Gedanken dazu gemacht, wie die Straße zu ihrem Namen gekommen ist oder ob sie in früherer Zeit einen anderen Namen getragen hat?

Ein deutschlandweites Phänomen

Um den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein gleiches Wissensniveau zu ermöglichen, schloss sich dem Kennenlernen ein Vortrag von Dr. Matthias Frese (LWL-Institut für Regionalgeschichte) an, in dem Dr. Frese typische Konjunkturen von Straßenbenennungen aufzeigte und zahlreiche Perspektiven eines Für und Wider von Umbenennungen beleuchtete. Dass eine Auseinandersetzung mit Straßennamen ein deutschlandweites Phänomen darstellt, verdeutlichte er anhand einer Handreichung des Deutschen Städtetages aus dem Jahr 2021, die Kommunen eine Hilfestellung geben soll, um vorhandene Regelwerke zu überprüfen oder erstmals zu schaffen.

Bei der Frage, wie ein geeignetes Regelwerk ausgestaltet sein könnte, lenkte Dr. Frese den Blick auch auf typische Graubereiche, beispielsweise wenn für belastete Namensgeber einer Straße eine unbelastete Persönlichkeit in der Geschichte zu finden ist und statt einer Umbenennung schlicht die zu ehrende Person geändert wird. Gestützt mit Archivalien aus der Stadt Warendorf verdeutlichte er zudem, dass die Umbenennung von Straßen Städte und Gemeinden in der Vergangenheit immer wieder beschäftigt hat.

Stadtführung und Stadtspaziergang

Zum Abschluss des Tages erwartete die Teilnehmer eine Stadtführung zum Thema Straßennamen in der Altstadt. Ein kurzer Impulsvortrag zeigte, wie sich die Straßennamen in der Altstadt mit der Zeit verändert haben, welche Straßen ihren Namen seit Jahrhunderten beibehalten haben und welchen Ursprung der ein oder andere Straßenname vermuten lässt. Bei einem abendlichen Stadtspaziergang wurden den Mitgliedern des Bürgerrates dann Kuriositäten und spannende historische Bezüge der geschichtsträchtigen Straßenzüge nähergebracht.

Der Samstag startete mit einer Expertenbefragung, um die ersten Eindrücke vom Vorabend weiter vertiefen und offene Fragen klären zu können. Die Leiterin der VHS Warendorf, Mareike Beer, stand am Morgen für Fragen zur Politischen Bildung bereit. Dabei setzte sie einen wichtigen Schwerpunkt bei der Barrierefreiheit und sensibilisierte die Teilnehmer, dass bei der (Um)Benennung von Straßennamen die Verständlichkeit, also auch die Schreib- und Lesbarkeit der Straßennamen, für alle Bevölkerungsgruppen mitgedacht werden sollte.    

Kosten für Anwohner

Als Vorstandsmitglied des Heimatvereins Freckenhorst brachte Margit Schulze Stentrup ihr Wissen zum Themenbereich Heimat und Tradition ein und diskutierte mit den Teilnehmern verschiedene Aspekte personenbezogener Straßennamen und mögliche Gründe, die für oder gegen eine Umbenennung sprechen.

André Depenwisch stand den Teilnahmern als Leiter des Teams Bürgerbüro und Standesamt bei der Stadtverwaltung Warendorf für alle verwaltungsbezogenen Fragen zur Verfügung, beispielsweise zu den individuellen Kosten, die auf Anwohnerinnen und Anwohner zukommen, wenn sich der Straßenname ändert. Ähnlich wie bei einem Umzug sind beispielsweise für den Personalausweis oder auch die Kfz-Zulassung Teil II im Falle eines neuen Straßennamens Adressänderungen in den Dokumenten erforderlich. Die Erkenntnisse aus der Expertenbefragung wurden im Anschluss im Plenum weiterdiskutiert.

Diskussion in Arbeitsgruppen

Der zweite Teil des Samstags widmete sich dann den Empfehlungen zur Um- und Benennung von Straßen. In drei Arbeitsgruppen wurden die zuvor gesammelten Aspekte weiter ausgearbeitet. In allen Gruppen wurde zwei Stunden lang zu den drei Oberthemen „Ethik, Moral, Personen“, „Aufwand, Beteiligung“ sowie „Weitere Kriterien“ in professioneller und wertschätzender Atmosphäre intensiv diskutiert, bevor die Ergebnisse im Plenum final abgestimmt wurden.

Zum Abschluss nahm Bürgermeister Peter Horstmann bereits sehr konkrete Ergebnisse entgegen und nutzte die Gelegenheit für ein Dankeschön an die Mitglieder des Bürgerrates. Er zeigte sich beeindruckt von der positiven Stimmung unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und lud alle Beteiligten ein, den weiteren politischen Prozess weiter zu verfolgen.

Empfehlungen an Stadtrat übergeben

Die Arbeitsergebnisse des anderthalbtägigen Bürgerrates wurden weiter aufbereitet und von einer Redaktionsgruppe aus Bürgerrat-Mitgliedern, Verwaltung und Moderation in einem Positionspapier zusammengefasst. Die Empfehlungen wurden am 20. November 2024 dem Rat der Stadt Warendorf übergeben, jedoch noch nicht weiter beraten. Mitgliedern des Bürgerrates wurde dort Gelegenheit gegeben, den politischen Vertreterinnen und Vertretern von den inhaltlichen Ergebnissen des Bürgerrates und den persönlichen Erfahrungen zu berichten.

Der Bürgerrat erkennt an, dass die Feststellung über die „Ehrwürdigkeit“, bzw. deren Entfallen, auf breiter Akzeptanzbasis einen herausfordernden Prozess bedeuten kann. Die Auswirkungen auf die Anwohnerinnen und Anwohner werden als nicht unerheblich eingeordnet. Folgender Verfahrensvorschlag wurde daher Politik und Verwaltung zur weiteren Ausarbeitung eines Musterprozesses für Umbenennungsverfahren unterbreitet.

Entscheidung über Umbenennung auf breiter Meinungsbasis

1. Die Entscheidung über eine Umbenennung sollte auf eine breite Meinungsbasis mit Öffentlichkeitsbeteiligung gestellt werden. Informationen für eine Meinungsbildung müssen für die Öffentlichkeit aufbereitet und bereitgestellt werden. Die Kosten einer geplanten Umbenennung für den Einzelnen/ die Allgemeinheit müssen dabei auch kommuniziert werden.

2. Im Regelfall muss die Allgemeinheit für die Kosten aufkommen, da die Umbenennung aus der Allgemeinheit initiiert wird ("Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen".). Die Stadt erhebt keine Gebühren und erstattet Gebühren anderer Behörden. Betroffene Anwohner erhalten eine angemessene Aufwandspauschale.

3. Die Stadt sollte ein Verfahren mit Fristen für die einzelnen Verfahrensschritte festlegen. Dauer max. 2 Jahre. (Einleitungsbeschluss, Grundlagen für die Meinungsbildung erarbeiten/ Gutachten erstellen, Öffentlichkeitsbeteiligung, Auswertung und Aufbereitung der Stellungnahmen/ Anregungen, bestenfalls Synopse mit Erwiderung des Stadtrats („Feedback“), am Ende zwingender Abschluss mit Ratsbeschluss für oder gegen die Umbenennung, ggf. Umsetzung; Erneutes „Aufrollen“ nur bei neuen Erkenntnissen)

4. Die Barrierefreiheit des Verfahrens ist zu gewährleisten.

Teilnahme eine gute Entscheidung

Mitglieder des Bürgerrates zeigten sich bei der Übergabe ihrer Empfehlungen mit dem Verfahren zufrieden. „Haben wir keine anderen Probleme?“ hatte Teilnehmerin Annemarie Weber zu Beginn gedacht. Nachdem ihr dann schnell erstaunt klar wurde, „dass hier in Warendorf seit 40 Jahren über Straßennamen gesprochen wurde“, stand ihre Meinung: „Da sollte man zu einer Entscheidung kommen!“ Die Zusammenarbeit der Bürgerrat-Teilnehmer empfand sie als „faszinierend“. Es sei sehr schön auf einer sachlichen Ebene diskutiert worden. „Ich fand es wirklich toll, zu sehen, wie ganz unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Altersklassen zusammenkommen und auf diese Weise kommunizieren“, so Weber. 

Einen fast neutralen Zugang hatte anfangs Leon Bernsen. Auch wenn er nicht genau wissen konnte, was auf ihn zukam, habe er die Möglichkeit, sich einzubringen, einfach mal wahrgenommen. Und: Er fand, es sei eine gute Entscheidung gewesen. Zumal der Zeitaufwand auch genau gepasst habe - von der Wissenvermittlung bis zur Stadtführung.

Beschlussvorlage der Verwaltung

Im Januar 2025 hat die Stadtverwaltung dem Stadtrat eine Beschlussvorlage zum künftigen Vorgehen bei Straßenbenennungen vorgelegt. Die Verwaltung orientiert sich in ihrem Vorschlag an den Empfehlungen des Bürgerrates und führt diese detaillierter aus. Wenn Straßen neu benannt werden, soll demnach künftig ein vierstufiges Verfahren greifen:

  1. Öffentliche Bekanntmachung und Aufruf, Vorschläge einzureichen
  2. Überprüfung und transparente erste Bewertung durch die Stadtverwaltung anhand festgelegter Kriterien
  3. politische Beschlussfassung
  4. Rückmeldung an die Vorschlaggeber, Darstellung in der Öffentlichkeit

Die Verwaltung folgt den Empfehlungen des Bürgerrates, dass neue Straßen möglichst nicht nach Personen, sondern beispielsweise nach Flurnamen, historischen Orten oder lokalen Ereignissen benannt werden sollen. Wenn Straßen nach Personen benannt werden, soll ein unabhängiger Fachhistoriker die Person überprüfen.

Keine Kosten für Anlieger

Noch umfassender soll das Verfahren für die Umbenennung von bereits existierenden Straßen werden. Einem Antrag auf Umbenennung folgt eine Entscheidung des Rates, ob die Ehrwürdigkeit überprüft werden soll. Der Bürgerrat hatte deutlich gemacht, dass Straßennamen eine Ehrung darstellen sollen.

Entscheidet sich der Rat für eine Überprüfung, so soll ein hauptberuflicher Historiker diese ausführen. Als weitere Schritte folgen eine öffentliche Diskussion mit Anwohnerinnen und Anwohnern sowie Interessierten. Für Anwohner entfallen die Kosten bei städtischen Behörden, die sich durch eine Umbenennung ergeben könnten. Auch dies war ein Vorschlag des Bürgerrates.

Zusätzlich erhält jede volljährige Person 50 Euro Aufwandspauschale, jede minderjährige 25 und jede Firma 200 Euro. Der Rat entscheidet letztendlich. Wenn er für eine Umbenennung votiert, sollen über zwei Jahre beide Straßennamen gelten, sodass Anwohnerinnen und Anwohner genügend Zeit für alle Formalitäten haben.

Stadtrat entscheidet im Frühjahr 2025

Die erste Gremienberatung der Empfehlungen und der Beschlussvorlage erfolgte am 22. Januar 2025 in den Bezirksausschüssen Freckenhorst-Hoetmar und Einen-Müssingen/Milte. Am 28. Januar hat der Kultur- und Schulausschuss beraten. Die Beschlussfassung eines Grundsatzpapiers im Stadtrat ist im Frühjahr 2025 vorgesehen.

Der Stadtrat hatte die Durchführung des Bürgerrates am 16. Mai 2024 beschlossen. Nachdem die Stadt im Juli 500 per Zufall aus dem Einwohnermelderegister geloste Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren angeschrieben hatte, hatten sich bis zum Ende der Rückmeldefrist am 25. August 38 Personen zurückgemeldet, die am Bürgerrat teilnehmen wollten.

Aus den Rückmeldungen wurde unter Berücksichtigung der Kriterien Alter, Geschlecht, Wohnort (Ortsteil) und Staatsangehörigkeit die 16 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerrates ausgelost. Die Mitglieder der Losversammlung erhielten eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Euro.

Gegen Rassismus und Antisemitismus

SPD, Grüne und Die Linke/Die Partei im Stadtrat hatten im Dezember 2023 eine Neuregelung der Namensgebung von Straßen und Plätzen sowie zu deren Um- und Neubenennungen beantragt. Dabei hatten sie u.a. vorgeschlagen, dem Stadtrat die Zuständigkeit für das Thema zu geben. Namensvorschläge von Anwohnerinnen und Anwohnern sollen berücksichtigt werden. Außerdem sollen bei Umbenennungen Ausstellungen zu dieser Thematik im Stadtmuseum angeboten werden. Der Antrag sieht auch eine Erstattung von Kosten vor, die den Anwohnern etwa durch die Änderung von Dokumenten entstehen.

Durch die Änderung von Straßennamen soll gezeigt werden, dass die Stadt „mit Rassismus und Antisemitismus aber auch das Geringste nicht mehr zu tun haben will“. Das „merkwürdige Überleben“ NS-Belasteter in Straßennamen sei zu dokumentieren und zu erklären.

„Ein emotionales Thema“

Konkret geht es um die Wagenfeldstraße, die Freiherr von Langen-Straße, den Agnes-Miegel-Weg und die Heinrich-Tenhumberg-Straße. Während den drei ersten Namensgebern die Unterstützung des Nationalsozialismus vorgeworfen wird, geht es beim ehemaligen Bischof Heinrich Tenhumberg um Verantwortung von sexuellem Missbrauchs unter dem Dach der katholischen Kirche.

Der Antrag nimmt eine inzwischen jahrzehntelange, weiterhin offene Diskussion über den Umgang mit historisch belasteten Straßennamen auf. „Die Historie der politischen Anträge und Diskussionen macht deutlich, dass keine klare Definition von Ehrwürdigkeit im Kontext von Straßenumbenennungen gegeben ist und die beantragten Straßennamen teilweise nicht direkt und zweifelsfrei als umzubenennende Straßennamen identifiziert werden können“, heißt es in einer Vorlage der Stadtverwaltung. Straßenumbenennungen stellten für die Anwohner der jeweiligen Straßen vielfach ein emotionales und mit Aufwand verbundenes Thema dar.

Bürgerrat-Leitfaden als Grundlage

Die Verwaltung hatte deshalb vorgeschlagen, einen Bürgerrat einzusetzen, damit Empfehlungen zu diesen Themen entwickelt werden können. Auch der Arbeitskreis Bürgerbeteiligung hatte sich dafür ausgesprochen, den ersten Bürgerrat in Warendorf mit dieser Thematik zu befassen. "Es wäre gut, ein breit getragenes Ergebnis zu erhalten", sagte Bürgermeister Peter Horstmann am 6. Mai 2024 im Haupt-, Finanz- und Wirtschaftsausschuss.

Die Kosten des Bürgerrates beliefen sich auf rund 9.000 Euro. Der Bürgerrat fand auf Grundlage des Leitfadens zur Erprobung kommunaler Bürgerräte in der Stadt Warendorf statt, den der Stadtrat am 21. März 2024 beschlossen hatte.

Mehr Informationen: